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Europäische Politische Gemeinschaft: Chancen für den Westbalkan

Kurz gesagt, 22.06.2023 Research Areas

Entgegen ersten Befürchtungen ist die Europäische Politische Gemeinschaft kein Ersatz für die EU-Erweiterung. Die Länder des Westbalkans sollten das Forum nutzen, um sich politisch zu profilieren und Akzente zu setzen, meinen Margit Wunsch Gaarmann und Marina Vulović.

Als der französische Präsident, Emmanuel Macron, im Mai 2022 erstmals von einer »Europäischen Politischen Gemeinschaft« (EPG) sprach, stieß der Vorschlag vielerorts zunächst auf Skepsis. Insbesondere die sechs Westbalkanstaaten (WB6), die teilweise seit fast 20 Jahren in unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf eine EU-Mitgliedschaft hinarbeiten, befürchteten, dass die EPG als Ersatz für eine Vollmitgliedschaft in der EU dienen könnte. Andere Stimmen kritisierten das Diskussionsformat ohne Gründungsdokument als ineffiziente Veranstaltung mit Fototermin.

Nach zwei Gipfeltreffen in Prag im Oktober 2022 und in Chişinău im Juni 2023 nimmt die anfängliche Skepsis jedoch ab. Viele Diplomatinnen und Diplomaten sind sich einig, dass ein pan-europäisches Dialogformat auf höchster Regierungsebene bisher gefehlt hat, vor allem im Kontext des konfrontativen sicherheitspolitischen Umfeldes seit dem russischen Überfall auf die Ukraine.

Die Gipfeltreffen ohne hierarchische Strukturen können ein Gefühl der Zugehörigkeit fördern. Der Fokus auf Themen wie Energie, Sicherheit und Konnektivität unterstreicht den Ansatz, an übergeordneten Themen zu arbeiten, die EU-Mitglieder und Nicht-EU-Staaten gleichermaßen betreffen. Die WB6 sollten daher dieses neue Forum möglichst proaktiv nutzen, beispielsweise als Gastgeber des Gipfels nach Spanien und Großbritannien oder durch die Übernahme des Vorsitzes einer thematischen Arbeitsgruppe.    

Vorteile einer agilen Struktur

Derzeit umfasst die EPG 47 Teilnehmende und zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: eine agile Struktur, die eine Ad-hoc-Teilnahme an Gipfeltreffen ermöglicht und keinen institutionellen Apparat vorsieht; keine konkreten Outputs wie gemeinsame Stellungnahmen oder Erklärungen; einen rotierenden Vorsitz, der bisher zwischen EU und Nicht-EU-Ländern wechselt; und Gipfeltreffen, die zweimal jährlich im vorsitzenden Land stattfinden sollen.

Mittlerweile haben sich trotz der fluiden Struktur gewisse Arbeitsstrukturen herausgeformt. Zum einen bleibt bei den Gipfeltreffen ausreichend Zeit für bilaterale oder minilaterale Treffen. So kam es während des Gipfels in Chişinău mit Präsident Macron, Bundeskanzler Olaf Scholz und EU-Ratspräsident Charles Michel zu einem Treffen zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie zwischen Kosovo und Serbien. Der Mehrwert diplomatischer Bemühungen und des Austauschs unter verfeindeten Nachbarn in einem europäischen Kontext kann kaum überschätzt werden.

Zudem gibt es Arbeitsgruppen (»Working Streams«), die sich mit Themen von besonderer Bedeutung für die EPG befassen und jeweils von zwei Ländern geleitet werden. So übernahmen in Chişinău Polen und Großbritannien die Arbeitsgruppe »Sicherheit«; Norwegen und Belgien die Arbeitsgruppe »Energie« und Moldau und Spanien die Arbeitsgruppe »Konnektivität«. Die Themen werden im Vorfeld von den jeweiligen Kabinettchefs (»Sherpas«) ausgearbeitet und vorbereitet. Das vorsitzende Land kann vor dem Gipfel neue Themen auf die Tagesordnung setzen. Bei der Auflistung der Arbeitsgruppen fällt einerseits auf, dass immer ein EU-Mitgliedsstaat mit einem Nicht-EU-Mitglied gleichberechtigt zusammenarbeitet und sich durch diese Zusammenarbeit Synergien weit über die EU-Agenda hinaus erschließen lassen. Andererseits hat bisher kein WB6-Land eine Arbeitsgruppe übernommen.

Mehrwert der EPG für den Westbalkan

Die Zusammenarbeit eines der WB6 mit einem großen EU-Partner wie Deutschland oder Frankreich wäre symbolisch und praktisch ein wichtiger Schritt. Nicht nur würde Deutschland in Zeiten geopolitischer Konkurrenz unter anderem mit Russland und China im Westbalkan ein erhöhtes politisches Interesse an der Region zeigen, wie auch mit der Wiederbelebung des Berliner Prozesses im Herbst 2022. Es würde auch dem entsprechenden Westbalkanland die Möglichkeit eröffnen, konstruktiv und mit erhöhter Sichtbarkeit im europäischen Kontext zu arbeiten. Die profilierte Zusammenarbeit durch den Ko-Vorsitz einer Arbeitsgruppe von einem WB- und einem EU-Land würde zudem die mit dem Erweiterungsprozess verbundenen hierarchischen Unterschiede beseitigen und eine Kollaboration auf Augenhöhe ermöglichen.

Beim nächsten Gipfel im spanischen Granada im Oktober könnten beispielsweise Montenegro und Frankreich den Ko-Vorsitz der Arbeitsgruppe »Sicherheit« übernehmen. Nach dem kürzlichen Machtwechsel zur pro-europäischen und erklärtermaßen reformbereiten Führung sollte Montenegro die Chance nutzen, das Thema Sicherheit in der EPG voranzutreiben. Als Nato-Mitglied könnte es die Plattform nutzen, um konkrete Probleme im Bereich der Cybersicherheit zu bearbeiten. Zeitgleich würde die Arbeit des im November 2022 von Frankreich, Montenegro und Slowenien gegründeten »Center for Cybersecurity Capacity Building« in Podgorica beleuchtet.

Ähnlich relevant wäre es, wenn Nordmazedonien zusammen mit Deutschland eine neue Arbeitsgruppe »Migration« leiten würde, zumal Großbritannien dieses Thema vermutlich auf die Tagesordnung im Frühjahr 2024 setzen wird. Als wichtiger Knotenpunkt für Migration jeglicher Art arbeitet Nordmazedonien seit April 2023 mit Frontex an einem gemeinsamen Einsatz zur Sicherung der europäischen Grenzen. Das Land sollte daher seine Rolle als Sicherheitspartner der EU auch in der EPG betonen.

Ein potentieller Mehrwert für ein Westbalkanland wäre auch die Ausrichtung eines Gipfeltreffens. Dies kann über die Symbolik hinaus konkrete Vorteile mit sich bringen. So resümierte die Botschafterin Moldaus in Brüssel, Daniela Morari, dass die Organisation des Gipfels in Chişinău zwar eine steile Lernkurve, aber auch viel internationale Unterstützung bedeutete. Es gab dem Land die Möglichkeit, sich international positiv zu präsentieren und einige für das Land entscheidende Prozesse in Bewegung zu bringen.

Bei allen Chancen der Zusammenarbeit im Rahmen der EPG, muss die EU weiterhin klar kommunizieren, dass die EPG kein Ersatz für die Erweiterung ist. Insbesondere im Hinblick auf den stagnierenden Erweiterungsprozess, der neben fehlenden Reformen in den WB6 auch mit einer Erweiterungsmüdigkeit einzelner EU-Mitglieder zusammenhängt, sollte nicht der Eindruck entstehen, dass die EU eine endlose Warteschleife für die WB6 anstrebt.