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Eurasiens Wirtschaft und Covid-19

Strategien der Krisenbewältigung und Reformaussichten in vier postsowjetischen Staaten

SWP-Aktuell 2020/A 47, 10.06.2020, 8 Pages

doi:10.18449/2020A47

Research Areas

Covid-19 hat die Staaten des postsowjetischen Raums in unterschiedlicher Weise getroffen, doch die Persistenz etablierter wirtschaftspolitischer Strukturen zeigt sich überall – auch dort, wo Reformen unternommen werden. Die russische Führung sieht sich durch die Krise in ihrem Kurs bestätigt und strebt keine strukturellen Reformen an. Usbekistan ist zwar weiter auf Erneuerungskurs, doch im Bestreben, krisen­bedingte Verluste zu kompensieren, wird ein Rückfall in Mechanismen erkenn­bar, die den Reformzielen widersprechen. In der Ukraine ist die Nachhaltigkeit eines eilig umgesetzten Reformpakets gefährdet, das dem Land einen dringend benötig­ten IWF-Kredit verschafft hat. Georgien wiederum versucht, mit seinem bisherigen Wirtschaftsmodell durch die Krise zu steuern, obwohl Covid-19 dessen Vulnerabilität verdeutlicht hat.

Später als Westeuropa hat die Pandemie die Staaten Eurasiens erreicht. Dort hat sie fast durchgehend die Krisenreaktionsmechanis­men ausgelöst, die sich zuvor bereits in Asien und Europa bewährt hatten und für die sich der Begriff des »Lockdown« etabliert hat. Wie überall haben die damit verbundenen Maßnahmen – etwa Einschränkungen bei grenzüberschreitender und inner­staatlicher Mobilität, vorübergehende Ge­schäftsschließungen und das Gebot sozialer Distanzierung – die Wirtschaft der be­troffenen Länder stark in Mitleidenschaft gezogen.

Dabei wurde einmal mehr deutlich, wie sehr sich die Staaten der Großregion von­einander unterscheiden. Dies gilt für ihre geographischen und demographischen Voraussetzungen, ihre Ressourcenausstattung und finanziellen Reserven, für ihre Wirtschafts- und Sozialsysteme ebenso wie ihre politischen Dispositionen. Wie die Fälle Russland, Usbekistan, Ukraine und Georgien zeigen, hängt von der jeweiligen Ausgangssituation nicht nur ab, welche Wirtschaftsbereiche besonders von der Krise betroffen sind. Entsprechend vor­ge­prägt ist auch, welche (wirtschafts-)politi­schen Strategien gewählt werden bzw. zur Verfügung stehen, um die ökonomischen Folgen der Krise aufzufangen. Ob man wie Russland mehr denn je auf das Bewährte setzt, ob man wie Usbekistan an Reformen festhält, unter dem Druck der Krise aber doch aufs Altbekannte zurückgreift, oder ob man die Flucht nach vorn antritt, so wie die Ukraine und Georgien, ist von diesen Faktoren abhängig, die zudem spezifische Resilienzen oder Vulnerabilitäten einer politischen Ökonomie bestimmen. Die ausgewählten Länder sind von besonderer Bedeutung für die EU, entweder durch ihre ernsthaften Reformanstrengungen der letzten Jahre oder aufgrund ihrer sicherheitspolitischen Relevanz.

Russland: Krise als Bestätigung der Wirtschaftspolitik

Mit knapp 237 000 nachgewiesenen aktiven Covid-19-Infektionen (Stand 9. Juni 2020) gehört Russland zu den von der Pandemie am schwersten betroffenen Staaten welt­weit, wobei die Statistik eine sehr große Zahl durchgeführter Tests widerspiegelt. Trotz eines landesweiten Lockdowns sinkt die Rate der Infektionen nur langsam. Auch mehrere Spitzenpolitiker haben sich infi­ziert. Russlands Wirtschaft leidet gleich doppelt, durch den Lockdown ebenso wie durch den Einbruch der Energiepreise. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet, dass das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2020 um 5,5 Prozent schrumpft. Trotz – oder gerade wegen – der düsteren Aussichten sieht sich Russ­lands Führung in ihrer bisherigen Wirtschaftspolitik bestätigt.

Seit 2014 die Ölpreise einbrachen und zeitgleich Sanktionen gegen Russland verhängt wurden, hat Moskau finanzielle Polster aufgebaut, um wirtschaftspolitisch handlungsfähig und international unabhängig zu bleiben. Zuletzt waren die Gold- und Devisenreserven der Zentralbank auf 564 Milliarden US-Dollar angewachsen. Die liquiden Mittel der öffentlichen Kassen belaufen sich auf über 16 Prozent des BIP, wovon der Großteil auf den staatlichen Wohlfahrtsfonds entfällt. Auch dank der im internationalen Vergleich sehr geringen Verschuldung von knapp 15 Prozent des BIP wäre der russische Staat auch bei einer mehrjährigen Krise finanziell nicht auf äußere Hilfe angewiesen.

Für seine Sparpolitik hat der Kreml in den vergangenen Jahren ein niedrigeres Wirtschaftswachstum und geringere Ein­kommen der Bevölkerung in Kauf genommen. Das macht sich auch in den zuletzt gesunkenen Zustimmungswerten für Präsi­dent Wladimir Putin bemerkbar. Jetzt rechtfertigt die Corona-Krise die Enthaltsamkeit. Auch bei der politischen Reaktion auf den derzeitigen Einbruch versucht man, die Reserven zu schonen. Die Kosten der bereits verkündeten Rettungsmaßnahmen werden auf 3 Prozent des BIP taxiert, ob­wohl sich das Land deutlich teurere Schritte grundsätzlich leisten könnte. Mit dem An­fang Juni vorgestellten Erholungsplan für die Wirtschaft bleibt die russische Regierung ebenfalls klar unter ihren finan­ziellen Möglichkeiten.

Einem größeren Rettungspaket steht formal die 2018 eingeführte Fiskalregel im Wege. Sie hat den Staatsausgaben ein enges Korsett angelegt. Von der Regel will man sich auch in der gegenwärtigen Ausnahmesituation nicht verabschieden. Insgesamt erwartet das russische Wirtschaftsministerium Defizite auf föderaler und regionaler Ebene und bei den Sozialkassen in Höhe von 8,5 Prozent des BIP. Um dies zu finan­zieren, setzt Moskau primär auf Neuverschuldung. Derzeit kann sich der russische Staat bei inländischen Banken und bei ausländischen Investoren zu guten Kondi­tionen Geld leihen. Nur ein kleiner Teil des Wohlfahrtsfonds soll ausgegeben werden, um weggefallene Öl- und Gaseinnahmen zu ersetzen und den Rubel zu stützen.

Während der buchhalterische Kurs des Kremls damit vorgegeben ist, dürfte die Corona-Krise auch die längerfristige Aus­richtung der russischen Wirtschaftspolitik beeinflussen. Dafür spricht die Erfahrung vorangegangener Rezessionen. So hatte der Staat die Finanzkrise 2009 dazu genutzt, seine Präsenz in der Wirtschaft nachhaltig auszubauen. Die Sanktionen und die Wirt­schaftskrise 2014/2015 erwiesen sich als Katalysator für Russlands Politik der Im­portsubstitution; in der Folge wurden die internationalen Verflechtungen der russi­schen Wirtschaft zunehmend reduziert. Immer wieder zeigte sich gerade in Krisen­situationen die grundlegende Skepsis, die der Kreml unter Putin sowohl gegenüber privatem Unternehmertum als auch gegen­über internationalen wirtschaftlichen Abhängigkeiten hegt.

So sind die Verlierer der Corona-Krise die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die nicht auf der Liste systemrelevanter Großkonzerne stehen und damit keinen privilegierten Zugang zu staatlichen Hilfen bekommen. Auch Hilfsmaßnahmen für ausländische Investoren wurden ausgeschlossen. Triumphieren können hingegen die Verfechter der Importsubstitution, denn mit ihrer Haltung liegen sie im Trend. Weltweit werden angesichts der Corona-Pandemie die Risiken grenzüberschreitender Lieferketten neu bewertet. Es ist daher wahrscheinlich, dass die russische Wirtschaft künftig noch stärker auf eine natio­nal geprägte Entwicklung ausgerichtet wird. So ordnete Putin am 15. April 2020 an, beim Konzipieren von Hilfsmaßnahmen der Importsubstitution besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Die Regierung in Moskau hofft derweil, dass Russlands Wirtschaft dank des natio­nalen Erholungsplans bis Ende 2021 einen stabilen Wachstumspfad einschlagen wird. Dabei ist kein grundlegender Kurswechsel zu erwarten. Die Corona-Krise hat zwar erneut offengelegt, wie groß die Risiken sind, die sich für Russland aus seiner Abhängigkeit vom Export fossiler Energieträger ergeben. In den Meinungsspalten Moskauer Wirtschaftszeitungen finden sich deshalb Aufrufe, man müsse die Corona-Krise zum Anlass für Reformen nehmen, die Wirtschaft energieeffizienter machen und grüne Technologien fördern. Reform-Veteran Anatolij Tschubais bemühte im Hinblick auf die Ölindustrie gar das Sprich­wort, man solle vom Pferd absteigen, wenn es tot ist. In den Kreml scheint diese Debat­te allerdings nicht vorzudringen. Mit der aktuellen Energiestrategie bis 2035 setzt Russland stattdessen auf eine Ausweitung der Exporte, nicht zuletzt bei der besonders CO2-intensiven Kohle. Zudem soll die Ener­gieindustrie mit gezielten Subventionen unterstützt werden, damit sie die Corona-Krise gut übersteht.

Usbekistan: Covid-19 gefährdet die Reformpolitik

Auf den Mitte März gemeldeten Ausbruch von Covid-19 reagierte Usbekistan mit einem strikten Lockdown. Die Ausbreitung der Pandemie in dem knapp 33 Millionen Einwohner zählenden Land konnte so ver­langsamt werden. Am 9. Juni lag die Zahl der nachgewiesenen aktiven Infektionsfälle bei 1020. Es gab 18 registrierte Todesfälle, über 748 500 Einwohner waren getestet worden. Dabei haben die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie auch die Wirt­schaft in Usbekistan stark unter Druck gesetzt.

Das Land befindet sich seit dem Machtantritt von Präsident Shavkat Mirziyoyev im Jahr 2016 auf Liberalisierungskurs. Mit Hilfe eines ambitionierten Reformprogramms soll aus dem vormals wirtschaftlich autarken und politisch isolierten Kommandostaat eine wettbewerbsorientierte Markt­wirtschaft werden, die Wohlstand schafft und den Bürgern grundlegende Freiheiten gewährt. Erste wegweisende Reformen wur­den verwirklicht, darunter die Freigabe des Wechselkurses, die Öffnung des Devi­sen­marktes, Zollsenkungen und eine Libe­ra­lisierung der Preise. Damit wurde eine vielversprechende Entwicklung in Gang gesetzt.

Die usbekische Wirtschaft ist seit 2017 kontinuierlich gewachsen, die Haushaltseinkommen haben zugenommen, und besonders der Außenhandel konnte stark expandieren. So stiegen 2019 in den ersten 11 Monaten die Exporte – vor allem von Gold, Nahrungsmitteln und Textilien – um mehr als 50 Prozent gegenüber dem Vor­jahr, bei den Importen waren es knapp 30 Prozent. Die ausländischen Direktinvestitionen, die in der wirtschaftspolitischen Strategie der Regierung eine wichtige Rolle spielen, wuchsen von 97,7 Millionen US-Dollar im Jahr 2017 auf über 400 Millionen US-Dollar 2018. Schwankungen der Wech­selkurse wurden durch Währungsinterventionen aufgefangen. Die Inflation, die in­folge der Preisliberalisierung gestiegen war, konnte durch höhere Löhne, durch Rück­überweisungen von Arbeitsmigranten und soziale Transferzahlungen kompensiert werden. Die Arbeitslosenrate stabilisierte sich dank staatlicher Förderprogramme bei offiziell rund 9 Prozent.

Diese positive Entwicklung wird nun durch die Pandemie gebremst. War für 2020 ursprünglich ein BIP-Wachstum von 6 Prozent erwartet worden, so wird mittler­weile aufgrund des geschrumpften Außen­handels und der gedämpften Binnenwirtschaft eine deutlich geringere Rate von rund 1,8 Prozent prognostiziert. Vor allem der Privatsektor – und hier besonders die Tourismuswirtschaft, die seit 2017 einen Boom erlebt – werden starke Einbußen erleiden. Die Rücküberweisungen infolge saisonaler Arbeitsmigration, die 2018 rund 15 Prozent des BIP ausmachten, werden nach Schätzungen der Weltbank um mehr als die Hälfte sinken. Dies trifft vor allem Haushalte mit geringem Einkommen. Gleichzeitig gerät der Arbeitsmarkt durch die pandemiebedingte Rückkehr mehrerer hunderttausend Arbeitsmigranten zusätz­lich unter Druck.

Die Regierung in Taschkent hat einen Krisenfonds aufgelegt, um die Kosten auf­zufangen, die mit der Bekämpfung der Pandemie und deren Folgen für die Wirt­schaft verbunden sind. Das Wegbrechen von Einkommen soll durch Steuererleichterungen, Kredite und soziale Unterstützungs­leistungen kompensiert werden. Interna­tionale Geber, vor allem die Welt­bank und der IWF, haben Kredite in Milliar­denhöhe zugesagt, und die Währungsreserven der usbekischen Zentralbank liegen mit über 29 Milliarden US-Dollar auf einem soliden Niveau.

Doch wird sich infolge der Pandemie nicht nur das bisherige Reformtempo ver­langsamen. Wichtige Teile der Wirtschaftsreform selbst sind gefährdet. Das betrifft vor allem die Privatisierung von Staats­unternehmen, darunter solchen des staat­lich dominierten Bankensektors. Dieses Vorhaben soll durch ausländische Direkt­investitionen finanziert werden, die man durch Public-Private Partnerships gewinnen will. Die mit den ökonomischen Folgen der Pandemie verbundene Ungewissheit wird das Projekt absehbar verzögern. Auch be­steht die Gefahr, dass sich planwirtschaft­liche Methoden, wie sie sich in der Krise erneut einspielen, wieder verfestigen. So wurde im Zuge der Krisenbewältigung damit begonnen, Quoten für den Anbau bestimmter Agrarprodukte festzusetzen – ein Regulierungsinstrument, von dem man sich eigentlich schrittweise verabschieden wollte.

Hintergrund der Maßnahme ist, dass Usbekistan stark betroffen ist von Ausfuhrbeschränkungen für Nahrungsmittel, die die Mitgliedsländer der Eurasischen Wirt­schaftsunion verhängt haben. Um die Ver­sorgung zu sichern, setzt Taschkent nun auf eine Steigerung der Agrarproduktion. Zu diesem Zweck wurden Haushalten in den ländlichen Gebieten Anbauflächen von bis zu einem Hektar zugeteilt. Die Provinzgouverneure sollen sicherstellen, dass die Parzellen effizient genutzt werden; zur Überwachung will man Drohnen einsetzen.

Auch altbekannte Methoden der Informationskontrolle kommen in der Krise wie­der zum Tragen. Die Gewährung bürger­licher Freiheiten, vor allem der Meinungs- und Redefreiheit, und die Liberalisierung der Medienlandschaft gelten als besondere Errungenschaft der Reformpolitik. Doch bei der Berichterstattung über die Entwicklungen im Zusammenhang mit Covid-19 kehr­te man kurzerhand zur Zensur zurück – mit der Folge, dass die Möglichkeit, sich über den Verlauf der Pandemie zu infor­mieren, sich auf staatliche Medien be­schränkt und die dortigen Angaben nicht durch unabhängige Recherchen überprüft werden können. Wer Nachrichten in Um­lauf bringt, die dem offiziellen Narrativ widersprechen, muss zudem mit Sanktionen rechnen: Im März wurde die bisherige Gesetzgebung dahingehend geändert, dass die Verbreitung von »Falschnachrichten« im Zusammenhang mit Covid-19 als Straf­tat behandelt und mit mehrjähriger Haft geahndet werden kann. Medien drohen zu­dem hohe Geldstrafen, wenn sie als »falsch« bewertete Informationen verbreiten.

Die durch Covid-19 ausgelöste Krise hat deutlich gemacht, dass das Projekt einer Liberalisierung von Wirtschaft und Gesell­schaft in Usbekistan keineswegs gesichert ist. Angesichts der Pandemie werden Maß­nahmen wiederbelebt, die die Reformziele konterkarieren und die geeignet sind, den Glauben an die Irreversibilität des Erneuerungsprozesses, den die usbekische Füh­rung verbreitet, zumindest zu dämpfen.

Ukraine: Reformen ohne Nachhaltigkeit

Die Ukraine weist derzeit (Stand 9. Juni) über 14 600 aktive Infektionsfälle auf, aller­dings bei einem im regionalen Vergleich sehr niedrigen Niveau von durchgeführten Tests. Die Regierung hat durch einen strik­ten Lockdown bislang eine Überforderung des Gesundheitssystems verhindert. Aller­dings besteht die Gefahr, dass das Corona­virus in der Bevölkerung unterschätzt wird, weshalb die Situation sich verschlechtern könnte. Nach den neuesten Lockerungen steigt die Zahl der diagnostizierten Fälle tatsächlich an. Auch die ukrainische Wirt­schaft ist schwer von den Restriktionen be­troffen: Der IWF rechnet mit einem Rück­gang des BIP um 7,7 Prozent in diesem Jahr.

Die Corona-Krise hat den ukrainischen Staatshaushalt massiv unter Druck gesetzt, der sich ohnehin nur langsam von der Wirtschaftskrise infolge des Krieges im Osten des Landes erholt. Das erwartete Etat­defizit hat sich in kürzester Zeit verdreifacht. Die Abhängigkeit des Landes von der Unterstützung des IWF vertieft sich so er­heblich. In Anbetracht der Lage hat der Währungsfonds für die Ukraine ein soge­nanntes Stand-By Arrangement gebilligt, das dem Land einen Kredit über 5 Milliar­den US-Dollar für die kom­menden 18 Monate sichert. Dieses Zugeständnis ist der Krisen­situation geschuldet und hebt die Forderungen nach strukturellen Reformen nicht auf.

Die IWF-Kredite sind an Konditionen geknüpft, die vor der Corona-Krise nicht erfüllt waren. Der Währungsfonds hat von Kiew in den vergangenen Monaten vor allem die Verabschiedung zweier Gesetze verlangt, damit weitere Gelder ausgezahlt werden können. Zum einen geht es um lang erwartete Vorgaben zur Bodenreform. Zum anderen soll auf legislativem Wege verhindert werden, dass der mächtige Ge­schäftsmann Ihor Kolomojskyj, der 2019 mit seinem Fernsehkanal dem heutigen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ins Amt verholfen hat, wieder die Kontrolle über die Anlagen der sogenannten PrivatBank erhält. Diese Bank gehörte früher Kolo­mojskyj und einem weiteren ukrainischen Oligarchen, wurde aber 2016 nach Ermitt­lungen verstaatlicht, denen zufolge er und sein Partner 5,5 Milliarden US-Dollar ver­untreut hatten.

Das Gesetz über die Bodenreform wurde am 31. März verabschiedet. Wichtigster Bestandteil ist, dass das Moratorium auf den Verkauf von Land für Agrarzwecke ab dem 1. Juli 2021 aufgehoben wird. Die Fraktion der Partei des Präsidenten stimmte fast geschlossen für den Entwurf, doch aus anderen politischen Richtungen kam ein klares Nein. Die reformorientierte Partei »Holos« enthielt sich zeitweilig, während sowohl die »Vaterland«-Partei mit Julia Tymoschenko an der Spitze als auch die russlandfreundliche »Oppositionsplattform – Für das Leben« schon bei der ersten Lesung versuchten, die Abstimmung zu verhindern.

Vor der Rada, dem ukrainischen Parlament, demonstrierten damals Tausende – insbesondere Vertreter und Vertreterinnen der Assoziation der Bauern und Landbesitzer, aber auch Mitglieder rechter außer­parlamentarischer Parteien. Umfragen zei­gen bereits seit Längerem, dass es in der Be­völkerung großen Widerstand gegen den Bodenverkauf gibt, weil die Inhaber kleiner Parzellen fürchten, ihr Land für wenig Geld an Großbesitzer abtreten zu müssen. Die politische und gesellschaftliche Opposition zum neuen Gesetz ist vielfältig – daran ändert auch nichts, dass der besonders um­strittene Verkauf von Boden an ausländische Akteure durch das Gesetz vom Ergeb­nis eines noch durchzuführenden Referendums abhängig gemacht wurde. Angesichts des bestehenden Widerstands wird die Ge­legenheit wohl verpasst werden, den Markt für Agrarland weitgehend zu öffnen und so von außen Investitionen ins Land zu holen, die dringend gebraucht werden.

Das »Anti-Kolomojskyj-Gesetz« wurde am 13. Mai verabschiedet. Es schreibt vor, dass Banken, die nationalisiert wurden, nicht an ihre ursprünglichen Besitzer zurückfallen dürfen. Insofern hat es Implikationen weit über den Fall Kolomojskyj/PrivatBank hin­aus. Dennoch ist das Gesetz gerade auch in diesem Zusammenhang von höchster Be­deutung, weil es als Beleg dafür gilt, dass Selenskyj sich von dem Oligarchen lossagt, zu dem er früher ein enges Geschäftsverhältnis pflegte.

Im Vorfeld der zweiten Lesung wurde »legislatives Spamming« betrieben. Einige wenige Abgeordnete brachten über 16 000 Änderungsvorschläge ein, was den Gesetz­gebungsprozess erst einmal lahmlegte. Auch wenn die Rada mittlerweile eine neue Regel eingeführt hat, um solche Anträge im Eilverfahren zu behandeln, zeugt das Vor­gehen doch vom massiven Widerstand poli­tischer Kräfte, die Kolomojskyj nahe­stehen. Wie die gesamte Entwicklung um den Oligarchen und die umstrittene Privat­Bank zeigt, ist er anscheinend bereit, mit allen Mitteln gegen seine Entmachtung zu kämpfen.

Auf den ersten Blick scheinen die Boden- und die Bankenreform nahezulegen, dass die Corona-Krise den Erneuerungsprozess in der Ukraine beschleunigt hat. Die angegangenen Reformen sind allerdings weniger nachhaltig als die zuvor im Land erreichten Fortschritte – und auch diesen standen und stehen erhebliche Hindernisse entge­gen. Zwar hat der Druck der Krise, kombi­niert mit der Konditionalität des IWF und den Ad-hoc-Reaktionen der heutigen Elite, die jetzigen Reformschritte nach sich ge­zogen. Doch wurden sie gegen heftigen politischen wie gesellschaftlichen Widerstand durchgepeitscht. Dies wird sich nicht nur negativ auf ihre konkrete Umsetzung auswirken, sondern auch zur Polarisierung in Politik und Gesellschaft beitragen.

Georgien: Mit bewährten Mitteln gegen die Krise

Über den Südkaukasus hinaus gilt Georgien als Positivbeispiel im Kampf gegen Covid‑19. Frühzeitige und umfangreiche Maßnahmen zur Eindämmung des Virus konnten die Fallzahlen bislang niedrig halten. Mit sei­nen 3,7 Millionen Einwohnern wies Geor­gien am 9. Juni weniger als 120 akti­ve In­fektio­nen und insgesamt 13 Todesfälle auf.

Doch die Erfolge bei der Eindämmung der Pandemie verhindern nicht, dass die Krise auch Georgien trifft. Tbilisi setzte und setzt auf eine offene Wirtschaft, die von einem möglichst freien Verkehr von Waren und Personen profitieren soll. Diese Stra­te­gie macht das Land aber anfällig für Grenz­schließungen und Bewegungseinschränkungen, mit denen weltweit der Pan­demie begegnet wird. Für 2020 erwartet der IWF, dass Georgiens Wirtschaft um 4 Pro­zent schrumpft. Damit würde die Wachstums­rate um über 9 Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr einbrechen. Ins­besondere die Tourismusbranche, die in den letzten Jah­ren zu einem Zugpferd der georgischen Wirtschaft wurde und wie kaum eine ande­re auf die »grenzenlose Welt« ange­wiesen ist, kam fast vollständig zum Erliegen.

2019 verzeichnete Georgien insgesamt über 9,3 Millionen internationale Reisende und knapp 5 Millionen Touristen. Der direkte Beitrag der Branche zum BIP betrug 2018 knapp 9,4 Prozent; berücksichtigt man auch indirekte Effekte, lag der Anteil bei über 31 Prozent. Gut 140 000 Arbeitsplätze im Land werden direkt durch den Tourismus generiert; insgesamt stehen laut World Travel and Tourism Council sogar fast 500 000 Jobs in Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr. Die Regierung in Tbilisi setzt darauf – auch im Rahmen ihrer Tourismusstrategie 2025 –, dass die Bedeutung des Sektors für die Wirtschaftsleistung des Landes weiter steigt.

Dass die Branche trotz beeindruckender Wachstumszahlen anfällig ist, zeigte sich zuletzt vor weniger als einem Jahr. Damals hatte Russland zu Beginn der Sommer­saison für mehrere Monate Direktflüge nach Georgien untersagt. Die georgische Wirtschaftsministerin Natela Turnava be­zifferte die daraus resultierenden Ver­luste auf mindestens 300 Millionen US-Dollar und 0,8 Prozent des BIP. Noch ungleich gravierender wirkt sich die gegenwärtige Covid-19-Pandemie auf die Tourismus­industrie des Landes aus. Verantwortlich dafür sind nicht nur Einreisebeschränkungen und der heimische Lockdown. Viel­mehr schlägt auch zu Buche, dass die Mobilität im globalen Maßstab durch Ein- und Ausreisesperren, Restriktionen beim Flugverkehr sowie Quarantänebestimmungen massiv eingeschränkt wurde. War es Georgien 2019 zum Teil gelungen, die ent­standenen Ausfälle mit der Bitte um inter­nationale Solidarität zu kompensieren, so ist das unter den jetzigen Umständen un­gleich schwieriger.

Während andernorts noch auf den Höhe­punkt der ersten Infektionswelle gewartet wird, versucht Georgiens Regierung aus der Not eine Tugend zu machen. Am 7. Mai ver­kündete Premierminister Giorgi Gakharia, man wolle ab dem 15. Juni inländischen, ab dem 1. Juli auch internationalen Tourismus wieder zulassen. Die niedrigen Infektionszahlen im Land werden dabei für Werbezwecke genutzt. Mit dem Slogan »Georgia – Safe Destination« sollen etwaige Beden­ken bei Reiseinteressenten ausgeräumt wer­den. Eine Rolle spielen dürfte der Tourismus aber ebenso als Aushängeschild für erhoffte Investitionen – die Absicht wäre demnach, Georgien durch das (Re-)Branding auch als »sicheres Investitionsland« zu posi­tionieren.

Ob bzw. in welchem Maß das aufgeht, muss sich zeigen. Die Welttourismusorganisation schätzt, dass 2020 die globalen Touristenzahlen im Vergleich zum Vorjahr um 60 bis 80 Prozent einbrechen könnten. Georgien selbst kann zwar auf seine nied­rige Infektionsrate verweisen. Anders ist die Lage jedoch in den Nachbarländern, aus denen 2018 mehr als 77 Prozent der auslän­dischen Besucher kamen. Allein aus Russ­land stammte damals ein Fünftel der Reisenden – mittlerweile steht es hinter den USA und Brasilien an dritter Stelle der weltweit am stärksten von Covid-19 be­troffenen Staaten. Der Nachbar Armenien verzeichnet täglich Neuinfektionen im mittleren dreistelligen Bereich. Hatte die georgische Regierung zunächst in Aussicht gestellt, dass die Landgrenzen zu den Nach­barstaaten für den Tourismus geöffnet wür­den, so revidierte der Leiter des Nationalen Zentrums für Krankheitskontrolle und öffentliche Gesundheit am 1. Juni diese Aussage, wobei er auf die pandemische Situation in Georgiens regionaler Umgebung verwies. Stattdessen sollen mit ausgewählten Partnerländern »sichere Korridore« ein­gerichtet werden.

Schon jetzt zeichnet sich ab, dass bestimmte Bereiche des Reisesektors besonders stark und nachhaltig von der Krise betroffen sein könnten. Trotz der anstehenden Lockerungen wird der Tourismus auch in Georgien zumindest mittelfristig von der Pandemie geprägt sein. Der gegen­wärtige Regierungsplan zur Öffnung des Tourismus sieht vor, ausgewählte Resort­anlagen und Städte als »sichere Bereiche« einzurichten. Dies dürfte nur schwer etwa mit der Zielsetzung zu vereinbaren sein, durch Fremdenverkehr auch die ländliche Entwicklung zu fördern, etwa über Öko­tourismus.

Dass die georgische Regierung versucht, den Tourismus als erste Branche – noch vor Landwirtschaft oder Bausektor – in eine »Post-Krisenphase« zu führen, unter­streicht die Bedeutung, die sie dem Wirt­schaftszweig zuweist, auch als Motor für die ökonomische Entwicklung des Landes ins­gesamt. Tbilisi verweist auf einen globalen Wettbewerb, in dem sich Georgien mög­lichst schnell erfolgreich positionieren müsse. Die Vulnerabilitäten der Tourismusindustrie bleiben jedoch auch »post-Coro­na« erhalten. Dabei könnte die Krise als Gelegenheit genutzt werden, um grundsätzlicher über Fragen der Nachhaltigkeit weite­ren Wachstums der Branche nachzudenken. »Overtourism« mag in der jetzigen Lage kein Thema sein. In Georgiens natio­naler Tourismusstrategie werden allerdings 11 Millionen Gäste pro Jahr anvisiert – fast das Dreifache der gesamten Landesbevölkerung. Würde diese Marke erreicht, wären damit wohl nicht nur positive Auswirkungen verbunden.

Schlussfolgerungen

Die vier Länderbeispiele aus Eurasien lassen erkennen, dass die Maßnahmen zur Ein­dämmung der Corona-Pandemie nicht nur massive volkswirtschaftliche Schäden nach sich ziehen. Darüber hinaus schlägt sich die Krise auch in strategischen Entscheidungen nieder, die den wirtschaftspolitischen Kurs der Staaten langfristig prägen dürften. Die Situation ist weiterhin zu dynamisch und unübersichtlich, als dass sich die Folgen im Einzelnen absehen ließen. Doch zeigt der fokussierte Blick auf Russland, Usbekistan, die Ukraine und Georgien, wie sehr der wirtschaftspolitische Umgang mit der Krise in Eurasien von Pfadabhängigkeiten ge­prägt ist.

So hat sich Russland schon zuvor in Richtung einer ökonomischen Entkopplung bewegt, die nun in der Corona-Krise vorteil­haft erscheint. Usbekistan strebt an sich eine wirtschaftliche und innenpolitische Öffnung an, macht jetzt aber einen Schritt zurück, indem es wieder auf Zensur und planwirtschaftliche Methoden setzt. Die Ukraine kann sich ein solches Verhalten nicht leisten, weil sie unter einer pre­kären Haushaltslage leidet und von aus­län­dischen Krediten abhängig ist. So führt Kiew not­gedrungen Reformen durch, denen die nötige Unterstützung in Politik, Wirt­schaft und Gesellschaft fehlt, was die lang­fristige Glaubwürdigkeit des Kurses unter­graben könnte. Georgien hat als kleines Land eben­falls wenig Spielraum und macht aus der Not eine Tugend. Es sieht keine Alternative zum zentralen Geschäftsmodell des Touris­mus und versucht, seine gegen­wärtigen Erfolge bei der Pandemie-Eindäm­mung zum Markenzeichen zu machen.

Das Interesse der EU im postsowjetischen Raum ist darauf gerichtet, dass Reform­prozesse fortgesetzt werden und die Kon­nek­tivität zwischen den dortigen Staaten in sinnvollem Maße erhalten bleibt, im Ver­hältnis zur EU wiederum verstärkt wird. Konnektivität ist für die Ökonomien dieser Länder von elementarer Bedeutung und zudem geeignet, einer politischen Instrumentalisierung wirtschaftlicher Abhängigkeiten entgegenzuwirken. Nationale Ab­schottungstendenzen, wie sie die Corona-Krise ausgelöst hat, gefährden die ohnehin schwachen Verflechtungen in der Region und ihren Subregionen, aber auch darüber hinaus. Deshalb gilt es jetzt in der Östlichen Partnerschaft ebenso wie in der Zentral­asien-Strategie der EU die Aspekte nachhaltiger Konnektivität gezielt zu fördern.

Dr. Janis Kluge ist Wissenschaftler, Dr. Andrea Schmitz Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Dr. Franziska Smolnik ist Stellvertretende Leiterin, Dr. Susan Stewart Leiterin (a. i.) der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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