Jump directly to page content

Erdoğans Drahtseilakt: Im Konflikt um die Ukraine geht die Türkei vorsichtig auf den Westen zu

Kurz gesagt, 04.03.2022 Research Areas

In den vergangenen Jahren hat der türkische Präsident Erdoğan eng mit seinem russischen Amtskollegen Putin kooperiert. Sollte sich die Türkei aufgrund des brutalen Kriegs gegen die Ukraine nun neu orientieren, kann der Westen daraus eine wichtige Lehre ziehen, meint Günter Seufert.

Nur wenige Tage vor dem Angriff  Russlands auf die Ukraine brachte der Chefkommentator der türkischen Tageszeitung »Sabah«, Mehmet Barlas, seine Einschätzung der Lage mit dem Satz »Wenn wir mit einem Krieg rechnen müssten, wäre Staatspräsident Erdoğan heute nicht zu einer viertägigen Reise nach Afrika aufgebrochen« auf den Punkt. Der Präsident sei im ständigen Austausch mit Russlands Präsidenten Putin. »Alle Experten«, so der bekennende Erdoğan-Anhänger weiter, seien sich darin einig, dass Washington die Krise eskaliere, um seine Dominanz in Westeuropa zu verfestigen. Damit gab Barlas auch das allgemeine Stimmungsbild im Lande wieder. Es sei ein Glück, dass Russlands Präsident so viel vernünftiger und klüger sei als sein amerikanischer Gegenspieler.

Verbundenheit zweier Rivalen

Ein solch positives Bild von Wladimir Putin und von Recep Tayyip Erdoğans Vertrautheit mit dem Kremlführer kommt nicht von ungefähr: Mit Putins Hilfe konnte sich Erdoğan seit dem fehlgeschlagenen Putsch 2016 außenpolitisch in wichtigen Fragen unabhängig von den USA und Europa positionieren – und manchmal sogar gegen sie. In Syrien und Aserbaidschan gelang es Ankara und Moskau, westliche Akteure zu marginalisieren. In Libyen und im östlichen Mittelmeer tritt die Türkei als Konkurrent oder gar als Gegner von Mitgliedstaaten der EU auf. Ankaras Flirt mit Moskau und die Sorge, dass die Türkei sich von Europa ganz abwenden könnte, hatten erheblich dazu beigetragen, dass Brüssel Ankara mit Blick auf die Situation im östlichen Mittelmeer und auf Zypern mit Samthandschuhen anfasste und Washington erst spät mit Sanktionen auf den Erwerb des russischen Raketen-Abwehrsystems S-400 reagierte. Zwar hatte Ankara in den Konflikten mit Moskau Putin als kühlen Strategen und schonungslosen Machpolitiker erlebt. Doch schien es Erdoğan stets zu gelingen, Eskalationen zu vermeiden.

Allen Konflikten zum Trotz – durch seine Annäherung an Russland ist Erdoğan seinem Ziel einer strategischen Autonomie seines Landes vom Westen ein ganzes Stück näher gekommen. Die Türkei manövrierte geschickt zwischen den Fronten der globalen Rivalität und konnte dadurch ihren Spielraum und ihren Einfluss in wenigen Jahren beträchtlich ausdehnen. In dieser Schaukelpolitik tritt sie westlichen Staaten gegenüber viel konfrontativer auf als gegenüber Russland. Besonders die Regierungspresse zeichnet seit Jahren ein positives Bild von Russland und ein negatives von den USA und von Europa. Das bleibt nicht ohne Wirkung auf die öffentliche Meinung: Etwa einen Monat vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine votierte in der Umfrage eines renommierten Meinungsforschungsinstituts eine knappe relative Mehrheit von 39 Prozent der Befragten für die außenpolitische Zusammenarbeit mit Russland und China, nur eine Minderheit für die Kooperation mit Europa und den USA.

In den ersten Tagen nach dem Angriff folgte Ankaras Politik exakt dem genannten Muster. Die Türkei verurteilte zwar den Angriff. Sie beteiligt sich jedoch nicht an Sanktionen gegen Russland. Bei der Abstimmung über die Suspendierung der Vertretungsrechte Russlands im Europarat enthielt sich die Türkei als einziger europäischer Nato-Staat der Stimme und hält als solcher auch seinen Luftraum offen für russische Flugzeuge.

Besonderes Augenmerk richtet sich darauf, ob und wie die Türkei den Vertrag von Montreux umsetzt. Das Vertragswerk von 1936 regelt die Passage von Kriegsschiffen durch die türkischen Meerengen Dardanellen und Bosporus ins Schwarze Meer. Es begrenzt die Zahl, die Tonnage aber auch die Dauer des Aufenthalts von Schiffen von Nichtanrainer-Staaten im Schwarzen Meer. Das Übereinkommen sieht vor, dass die Wasserwege im Fall eines Krieges für Schiffe der Konfliktparteien zu sperren sind, und es überträgt Ankara die Anwendung seiner Regelungen.

Ankara schwenkt um

Die Türkei ließ sich zunächst vier Tage Zeit, bevor sie die russische Invasion als »Krieg« klassifizierte. Sie schreckt jedoch bis heute davor zurück, die Wasserstraßen – so wie es das Vertragswerk vorsieht – für Schiffe der Konfliktparteien, Russland und Ukraine, auch offiziell zu sperren. Stattdessen warnt Ankara »alle Länder, Schwarzmeer-Anrainer oder nicht«, davor, Kriegsschiffe durch die Meerengen zu senden. Dem Wortsinn nach richtete sich dieser Schritt nicht einseitig gegen Moskau, sondern erschwerte es auch Nato-Schiffen, ins Schwarze Meer zu fahren. Dabei ist eine Sperrung der Wasserstraßen für Kriegsschiffe aller Länder nach dem Vertrag nur dann erlaubt, wenn Ankara sich selbst durch einen Krieg unmittelbar bedroht sieht. Auf diese Weise lavierte die Türkei sich durch die ersten Tage dieses Krieges.

Anfangs fast unmerklich setzte jedoch ein Umschwung ein, und dafür gibt es Gründe: Zum einen zeigt der Westen eine seit dem Kalten Krieg ungekannte Einigkeit und Entschlossenheit, und seine Sanktionen untergraben die Stellung Russlands in der Welt. Zum zweiten verliert Putin sein Charisma als erfolgreicher Staatsmann und verlässlicher Partner. Drittens sieht Ankara, dass Putins Vision eines russischen Großreichs weitere Kriege heraufbeschwören könnte. Und viertens schließen sich die Reihen der Kontrahenten: Für die Türkei wird es schwieriger, die liebgewonnene Schaukelpolitik weiter fortzusetzen.

So kommen aus Ankara in den vergangenen Tagen stark prowestliche Töne. Die Türkei werde im Austausch mit dem Westen fortfahren, die Ukraine zu unterstützen, so der Sprecher des Staatspräsidenten. Außenminister Mevlüt Çavusoglu will nun bereits vor Tagen russischen Wünschen nach einer Passage von Kriegsschiffen durch den Bosporus »in aller Freundschaft« widersprochen haben. Und Staatspräsident Erdoğan spricht sich für die Aufnahme der Ukraine in die EU und des Kosovos in die Nato aus. Zudem widerspricht Ankara nicht, wenn ukrainische Diplomaten berichten, dass die Türkei weitere bewaffnete Drohnen liefert und Drohnenflieger ausbildet.

Es sieht ganz danach aus, als bringe Putin nicht nur lang vermisste Einigkeit in die EU, sondern als rufe er auch Ankara den Nutzen seiner Westanbindung in Erinnerung. Die westlichen Staaten sollten erkennen, dass nur mehr Einigkeit und mehr Entschlossenheit Ankara dazu bringt, sich wieder auf den Westen einzulassen.