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Eine Neubetrachtung der poli­tischen Einstellungen türkischer Migranten in Deutschland

Analyse des Wahlverhaltens jenseits von »Loyalität gegenüber der Türkei« und »Mangel an demokratischer Kultur«

SWP-Studie 2020/S 06, 01.04.2020, 34 Pages

doi:10.18449/2020S06

Research Areas

Dr. Sinem Adar ist Wissenschaftlerin am Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) an der SWP. CATS wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt. Zwischen Juli 2017 und Dezember 2018 war sie IPC-Stiftung Mercator Fellow bei der SWP.

 Für die große Zustimmung, die die türkische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und Präsident Recep Tayyip Erdoğan von türkischen Wählern im Ausland erhalten, gibt es sowohl materielle als auch emotionale Ursachen. Es scheint, als hätten sozioökonomische Veränderungen und wahrgenommene Verbesserungen in der Qualität der staatlichen Insti­tutionen – in der Türkei und auch in Deutschland – zu einem positiven Image der türkischen Regierung beigetragen.

 Ein Faktor, der die Wahlunterstützung der türkischen Migranten und ihrer Kinder zugunsten der AKP erklärt, ist ein Gefühl des Stolzes, das aus der Wahrnehmung einer »starken Türkei« unter der Regierung von Präsi­dent Erdoğan resultiert.

 Ein weiterer Grund für den hohen Stimmenanteil, den die AKP verbuchen kann, ist offenbar auch die Angst vor dem Verlust sozialer und politischer Errungenschaften.

 Da sich ihr Interesse an der Migrantenbevölkerung mit ihren außen- und innenpolitischen Ambitionen deckt, wird die türkische Regierung an ihrem stark identitätsbezogenen Ansatz vermutlich auch in Zukunft festhalten. Hinzu kommt, dass durch die sich verschärfende türkische Wirt­schaftskrise mit einiger Wahrscheinlichkeit auch der Bedarf an Rück­überweisungen steigen wird.

 Es ist von entscheidender Bedeutung, zwischen den Bemühungen der tür­kischen Regierung, türkische Migranten und ihre im Ausland geborenen Kinder für ihre innen- und außenpolitischen Zwecke zu instrumentalisieren, und der Forderung der Migranten nach politischer Interessenvertre­tung und gleichberechtigter Anerkennung zu unterscheiden.

Problemstellung und Empfehlungen

Durch die Änderung des Wahlgesetzes im Jahr 2008 und weitere Wahlrechtsreformen im Jahr 2012 er­hiel­ten alle türkischen Staatsbürger über 18 Jahren das Recht, in ihrem jeweiligen Wohnsitzstaat ihre Stimme an dort eingerichteten Wahllokalen abzugeben. Sie durften zwar bereits seit 1987 an türkischen Wah­len teilnehmen, doch war ihnen dies zuvor nur an Sonder­wahllokalen an türkischen Flughäfen und Grenz­kontrollposten möglich. Durch die Novellierung des Wahlgesetzes wurde der finanzielle und logistische Aufwand für Türken im Ausland deutlich reduziert. Seit der Präsidentschaftswahl 2014, als die Wahl­berechtigten zum ersten Mal in ihren Wohnsitz­staaten ihre Stimme abgeben konnten, ist der Urnen­gang für türkische Migranten und deren Kinder zu einer Routine geworden, denn seither haben drei Parlamentswahlen, eine Präsidentschaftswahl und ein Referendum stattgefunden.

Im Zeitraum von 2014 bis 2018 stieg die Zahl der im Ausland eingetragenen Wähler von 2,8 auf 3 Mil­lionen. Rund die Hälfte davon leben in Deutschland, wo im gleichen Zeitraum die Wahlbeteiligung von 18,93 Prozent auf 45,7 Prozent gestiegen ist. Bei allen Wahlen stimmten die wahlberechtigten türkischen Migranten mehrheitlich für die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und deren Vor­sitzenden Recep Tayyip Erdoğan, die in Deutschland sogar höhere Stimmenanteile verbuchen konnten als in der Türkei selbst. Gleichermaßen fiel der Prozentsatz der Ja-Stimmen bei dem umstrittenen Verfassungs­referendum im Jahr 2017 in Deutschland höher aus als in der Türkei. Diese massenhafte Unterstützung der AKP und Präsident Erdoğans durch Wähler, die im Ausland leben, wirkte sich maßgeblich auf die Wahlergebnisse aus.

Der relativ höhere Stimmenanteil, den die AKP und Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Deutschland und anderen europäischen Staaten mit großen türkischen Gemeinden, wie beispielsweise den Niederlanden, Bel­gien und Österreich, erzielt haben, hat in der Politik und in der Öffentlichkeit dieser Länder Besorgnis aus­gelöst. Insbesondere in der gesellschaftlichen Debatte in Deutschland wurde das Phänomen überwiegend als Ausdruck einer »Loyalität gegenüber der Türkei« gedeutet und dementsprechend als Zeichen einer fehlgeschlagenen Integration und eines mangelhaften Eintretens für demokratische Werte und Normen.

Die neuen Bestimmungen im Wahlgesetz, die es türkischen Staatsbürgern im Ausland ermöglichen, in ihrem Wohnsitzland zu wählen, müssen im Kontext des seit 2010 geänderten Umgangs mit Migranten aus der Türkei und ihren im Ausland geborenen Kindern gesehen werden. In den letzten zehn Jahren hat die AKP-Regierung parallel zu einer weltweit intensivierten Diasporapolitik systematisch eine Politik für tür­kische Migranten und deren Nachkommen entworfen und umgesetzt. In dieser Phase wurden neue staat­liche Behörden wie das Amt für Auslandstürken und verwandte Gemeinschaften (YTB) geschaffen. Sicht­bare Zeichen der neuen Agenda sind die offensiven Bemühungen um eine Mobilisierung der Jugend, die Praktiken der transnationalen Einflussnahme von Seiten staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure in den Bereichen Bildung, Kultur und Religion und die explizite Förderung der Beteiligung türkischer Migranten an den sozialen Interaktionen der Gesell­schaften, in denen sie leben. Ideologisch flankiert wird diese Politik von einer breiteren Konzeptualisierung der Diaspora, die als religiöse Einheit definiert wird. Ein weiterer Baustein der neuen Strategie ist ein brei­terer Ansatz bei der Austeilung von Sozialleistungen, insbesondere in den Bereichen Familie und Bildung.

Durch die zunehmende Verflechtung der Beziehungen zwischen Partei, staatlichen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Akteuren hat sich ein Netzwerk von Seilschaften mit engen Verbindungen zur AKP-Regierung entwickelt. Dazu gehören bei­spielsweise die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB) und die Union Internatio­naler Demokraten (UID).

Seit den 1990er Jahren haben türkische Migranten in Gesprächen mit türkischen Politikern wiederholt zwei wesentliche Forderungen vorgetragen: eine stär­kere Vertretung ihrer Interessen in der Türkei und die Organisierung einer Verbandslandschaft in Deutschland, die sich um die sozialen, kulturellen und politi­schen Bedürfnisse der Migranten kümmert und deren Tätigkeit sich positiv auf die gesellschaftliche Stellung der Türken in Deutschland auswirkt. Vor diesem Hin­ter­grund lässt sich die große Sympathie, auf die die AKP und Erdoğan bei türkischen Migranten und ihren Kindern stößt, sowohl auf materielle als auch auf emotionale Gründe zurückführen. Es scheint, als hät­ten sozioökonomische Veränderungen und die Wahr­nehmung, dass sich die Qualität der staatlichen Insti­tutionen, sowohl in der Türkei als auch in Deutschland, verbessert hat, zu einem positiven Image der Partei beigetragen. Ein weiterer Faktor, der die große Unterstützung türkischer Migranten und ihrer Kinder für die AKP erklärt, ist ein Gefühl des Stolzes, das sich aus dem Eindruck einer »starken Türkei« unter der Regierung von Präsident Erdoğan herleitet.

Da sich ihr Interesse an der Migrantenbevölkerung mit ihren außen- und innenpolitischen Ambitionen deckt, wird die türkische Regierung an ihrem stark identitätsbezogenen Ansatz vermutlich auch in Zu­kunft festhalten. Hinzu kommt, dass durch die sich verschärfende türkische Wirtschaftskrise mit einiger Wahrscheinlichkeit auch der Bedarf an Rücküberweisungen steigen wird. Deutsche und europäische Ent­scheidungsträger und Politiker sollten zunächst un­bedingt zwischen den systematischen Bemühungen der türkischen Regierung, die türkischen Migranten und ihre im Ausland geborenen Kinder für ihre innen- und außenpolitischen Zwecke zu instrumentalisieren, und den Bedürfnissen der Migranten unterscheiden. In Zeiten, in denen sich in Deutschland und andernorts in Europa Populismus und einwanderungsfeindliche Ansichten breitmachen, ist es nicht einfach für die jeweilige politische Führung, den legitimen Hoff­nungen und Erwartungen im Ausland lebender Türken gerecht zu werden, denen es in erster Linie um politische Interessenvertretung und gleichberechtigte Anerkennung geht. Diese Herausforderung sollte Entscheidungsträger jedoch nicht davon abhalten, politische Maßnahmen zu treffen, die diese Anliegen berücksichtigen. So ist es beispielsweise unbedingt erforderlich, türkischen Migranten und ihren in Deutschland geborenen Kindern das Wahlrecht bei Kommunalwahlen einzuräumen.

Allerdings sollten Überlegungen, wie dem Anspruch der türkischstämmigen Bevölkerung auf poli­tische Interessenvertretung Rechnung getragen werden kann, nicht ausschließlich auf das Wahlrecht beschränkt werden. Migrantenverbände sind einfluss­reiche Akteure im Bereich der Repräsentation von Migranten. Angesichts des wachsenden Einflusses des türkischen Staates auf die Verbände, sollte ein be­son­deres Augenmerk auf deren institutionelle Unabhän­gigkeit gelegt werden. Nicht zuletzt sollten politische Akteure von ausgrenzenden Diskursen gegen den Islam und praktizierende Muslime ab­sehen.

Vom Verlassen der Türkei bis zur Ansiedlung in Deutschland

Die Migration von Menschen aus der Türkei nach Deutschland hat eine lange Geschichte, die in den frühen 1960er Jahren mit der Ankunft der sogenannten »Gastarbeiter« begann. Während die Migration in dieser ersten Phase vor allem wirtschaftlich motiviert war, haben sich die Wanderungsimpulse im Laufe der Jahrzehnte parallel zu den politischen und sozio­ökonomischen Entwicklungen in der Türkei ver­ändert. Insbesondere der Militärputsch im Jahr 1980 und die zunehmende politische Unterdrückung vor allem linksgerichteter und kurdischer Dissidenten in den 1990er Jahren führten zu einem Anstieg der Asyl­bewerber und politischen Exilanten aus der Türkei. Etwa zur gleichen Zeit ließ sich eine Einwanderung hochqualifizierter Arbeitnehmer und Studierender beobachten – zwar nur in geringer Zahl, aber die Migranten repräsentierten eine große berufliche Bandbreite. In den darauffolgenden Jahrzehnten sollte sich diese Form der Einwanderung fortsetzen.1 Zuletzt wurde durch die beispiellose »Säuberungs­welle«, die die türkische Regierung nach dem Putsch­versuch vom 15. Juli 2016 einleitete, ein neues Kapi­tel in der Geschichte der politisch und wirtschaftlich begründeten Migration von der Türkei nach Deutschland aufgeschlagen.

Rund ein halbes Jahrhundert nach der Ankunft der ersten »Gastarbeiter« in Deutschland, machen türki­sche Migranten und ihre Kinder heute den größten Teil der zugewanderten Bevölkerung des Landes aus.2 Ihre Zahl beläuft sich auf rund 2,9 Millionen.3 Davon sind 52,2 Prozent in Deutschland geboren. Ins­gesamt ist die türkischstämmige Bevölkerung relativ jung, der Anteil der 20- bis 40-Jährigen beträgt 48 Prozent der türkischen Bevölkerung insgesamt. Das Verhältnis Männer/Frauen liegt bei nahezu 1:1, mit einer leich­ten Majorität zugunsten der Männer (51,5 %). Was die Rechtsstellung dieser Migranten und ihrer Kinder an­belangt, so hat nur rund die Hälfte von ihnen die türkische Staatsbürgerschaft. Die Zahl derer mit nur deutscher Staatsbürgerschaft beläuft sich auf etwa 800 000 und jener mit doppelter Staatsbürgerschaft auf rund 530 000.4

Diversifizierung der Migrationsmuster

In den 1960er Jahren kamen im Rahmen der An­werbe­abkommen die ersten Arbeitskräfte aus der Türkei nach Deutschland und in andere Länder Europas. Die Türkei unterzeichnete entsprechende Abkommen mit Deutschland (1961), Österreich, Bel­gien und den Niederlanden (1964), Frankreich (1965) und Schweden (1967).5 Die globale Ölpreiskrise im Jahr 1973 führte zu einer Abnahme des Bedarfs an ausländischen Arbeitskräften, weshalb das Anwerbeabkommen mit Deutschland ausgesetzt wurde. Nichts­destotrotz setzte sich bis in die 1980er Jahre hinein die Auswanderungsbewegung nach Europa fort (wenngleich die Zahlen nun wesentlich geringer waren), meist im Rahmen des Familiennachzugs. In dieser Zeit sind über 790 000 Migranten in verschiedene europäische Ländern eingewandert,6 allein 82 Prozent davon (648 000) nach Deutschland.7

Die Gastarbeiter aus der Türkei setzten sich aus ethnischen Türken und Kurden zusammen, die vor allem aus ländlichen Regionen ihres Heimatlands stammten. Nachdem neue Bestimmungen für den Familiennachzug erlassen und 1969 in das Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschafts­gemeinschaft (EWG) aufgenommen worden waren, verstärkte sich in den 1970er Jahren eine Migration mit dem Ziel der Familienzusammenführung. Zwi­schen 1983 und 1984 führte die Regierung Helmut Kohls Rückkehrprogramme ein, von denen zwar einzelne Wirtschaftsmigranten Gebrauch machten, allerdings in unerheblichem Umfang.8 Im Laufe der Zeit kehrte rund die Hälfte der Migranten, die zwi­schen 1961 und den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen waren, in die Türkei zurück.9 In den späten 1980er Jahren wurde den deutschen und den türkischen Behörden klar, dass ein bedeutender Teil der Wirtschaftsmigranten, die anfangs mit der Inten­tion eines nur vorübergehenden Aufenthalts nach Deutschland gekommen waren, dort bleiben und nicht in die Türkei zurückkehren würden.

Im Fall der Asylbewerber war die Antwort auf die Frage nach dem Bleiben weitaus klarer. Die ersten türkischen Asylsuchenden kamen bereits in den 1970er Jahren nach Deutschland, in einer Zeit, in der die Türkei von heftigen politischen Wirren und schwe­ren ideologischen Auseinandersetzungen geprägt war. Zahlreiche linksgerichtete Aktivisten suchten in dieser Zeit in Deutschland Asyl. Bis zur Macht­übernahme durch das Militär im Jahr 1980 konnte jedoch noch nicht von einem Massenzustrom von Asylbewerbern gesprochen werden. Die politisch motivierte Migration aus der Türkei hielt in den 1990er Jahren weiter an. In dieser Periode waren es jedoch hauptsächlich kurdische Bürger, die im Schat­ten des bewaffneten Konflikts zwischen der türki­schen Armee und Kämpfern der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) vertrieben wurden und in Deutschland Zuflucht suchten.

Während die türkische Politik im Jahr 2002 mit der Regierungsübernahme durch die AKP zunächst in eine relativ ruhige und scheinbar stabile Phase ein­trat, flammten Ende der 2000er Jahre die soziopolitischen Konflikte erneut auf. Die AKP-Regierung schlug die Proteste mit einer in der neueren Geschichte der Türkei nie dagewesenen Härte nieder. Der Putsch­versuch vom 15. Juli 2016 – und die darauffolgende Säuberungskampagne, die noch breiter angelegt war als nach dem Staatsstreich von 1980 – löste eine weitere Welle der politischen Migration aus.10 Neben Asylbewerbern halten sich derzeit zahlreiche Akade­miker, Künstler und Journalisten in Deutschland auf, die meisten von ihnen mit zeitlich befristeten Auf­enthaltsgenehmigungen. Hinzu kommen die vielen hochqualifizierten Arbeitskräfte, die in den vergangenen Jahren im Zuge der sich schnell verschärfenden Wirtschaftskrise11 ihr Heimatland verlassen haben, um in Deutschland ihr Glück zu suchen. Die Zukunft dieser Neuankömmlinge – egal ob sie in Deutschland bleiben werden oder nicht – ist zurzeit genauso ungewiss wie die Zukunft der Türkei.

Veränderung des zivilgesellschaftlichen Engagements

Einhergehend mit der Diversifizierung der Migrations­muster und der Migrantenmilieus hat sich auch das zivilgesellschaftliche Engagement der Migranten gewandelt. Im Verlauf der Jahrzehnte entstand eine Heerschar von Organisationen mit unterschiedlichen politischen Ausrichtungen und Motivationen. Zudem haben Migranten begonnen, in und zu verschiedenen Bereichen ihres Lebens in Deutschland Vereine zu bilden. Diese Verbandsstruktur hat sich im vergangenen Jahrzehnt durch eine Durchdringung mit zahl­reichen AKP-freundlichen Organisationen merklich verändert.

An der Sozialisierung von Migranten und ihren Kindern sind eine ganze Reihe von Institutionen beteiligt. Dazu zählen Moscheen, Vereinigungen wie zum Beispiel Nachbarschaftsinitiativen oder Heimat­ortsgemeinschaften, aber auch Kaffeehäuser. Seit den 1960er Jahren lässt sich darüber hinaus ein kontinuierliches Interesse vieler Migranten an der türkischen Politik beobachten, und zwar ungeachtet ihrer welt­anschaulichen Orientierung. Dieses Interesse offen­bart sich in Diskussions-, Vortrags- oder Gedenk­veranstaltungen und in Demonstrationen. Entsprechend der ethnischen, religiösen und ideologischen Vielfalt der türkischen Bevölkerung ist das thema­tische Spektrum dieser Veranstaltungen sehr breit. Während ein Teil der Migranten einen nationalen Feiertag begeht, gedenkt ein anderer dem Völkermord an den Armeniern.

Auch wenn ein solches allgemeines Interesse an der türkischen Politik attestiert werden kann, lässt sich aus diesem Befund nicht automatisch eine hohe Mobilisierbarkeit der türkischstämmigen Migranten ableiten. Diese hängt vom Grad und der Art des Engagements der zivilgesellschaftlichen Organisationen ab. In seinem Tätigkeitsbericht für die Jahre 2007–2008 schätzt der Unterausschuss für Menschen­rechte des türkischen Parlaments, dass rund 20 Pro­zent der türkischen Migranten in Deutschland orga­nisiert sind.12

In den vergangenen fünf bis sechs Jahrzehnten haben sich die zivilgesell­schaftlichen Kompetenzen der türki­schen Migranten und ihrer Kinder erheblich weiterentwickelt.

Im Verlaufe der vergangenen fünf bis sechs Jahrzehnte haben sich die zivilgesellschaftlichen Kom­petenzen der türkischen Migranten und ihrer Kinder erheblich weiterentwickelt. In den 1970er Jahren war die Vereinslandschaft noch von Arbeiterverbänden und landsmannschaftlichen Organisationen dominiert.13 Ende des Jahrzehnts kamen mehr und mehr politische Assoziationen auf und diese diversifizierten sich auch ideologisch stärker.14 Bemerkenswert ist, dass der türkische Staat zum gleichen Zeitpunkt be­gann, in diesem Bereich aktiv zu werden. Einige der neu gegründeten Vereinigungen, wie beispielsweise die Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealis­ten­vereine in Deutschland e.V. (ADÜTDF) und die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB), hatten eine enge Bindung an Ankara. Die ADÜTDF wurde 1978 gebildet, um den Aktivitäten der kurdischen Vereine und der PKK entgegenzuwirken.15 Aus ähnlichen Motiven wurde 1984 die DITIB gegründet. Sie sollte der starken Position islamistischer Gruppen wie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) und dem Verband Islamischer Kulturzentren (VIKZ) des religiösen Ordens Süleymancılar in Deutschland etwas entgegensetzen, die beide zu jener Zeit von der Türkei als radikale Grup­pen eingestuft wurden.16

Die Veränderungen in der Vereins- und Verbandslandschaft in den 1980er Jahren beschränkten sich jedoch nicht auf den Ausbau und die Diversifizierung von Organisationen türkischer Migranten. Sie er­streckten sich auch auf deren Ziele und Stoßrichtungen. Während sich die Assoziationen der ersten Phase vor allem auf Themen im Zusammenhang mit der Türkei konzentriert hatten, richtete sich die Arbeit der Vereinigungen, die in den späten 1980er Jahren und frühen 1990er Jahren auf den Plan traten, stärker auf das Leben der Migranten in Deutschland.17 Zwei Faktoren waren für diesen Wandel ausschlaggebend: die wachsende Erkenntnis unter den Migranten, dass ihr Aufenthalt von Dauer sein würde, und die sich ändernden sozioökonomischen und soziopolitischen Bedingungen in Deutschland, insbesondere nach der Wiedervereinigung.18 Unabhängig von ihrer politischen Neigung und dem Grad ihrer Nähe zum türki­schen Staat konzentrierten sich Migrantenvereinigun­gen zunehmend auf Fragen, die das Leben der tür­kischstämmigen Bevölkerung in Deutschland betref­fen. So richteten zum Beispiel die DITIB und die IGMG ihren thematischen Fokus rasch auf das Pro­blem der Diskriminierung und hier vor allem auf jene Erscheinungsform, die die Religionszugehörigkeit der türkischen Migranten zum Gegenstand hat.

In den frühen 2000er Jahren erfuhr die Vereins- und Verbandslandschaft der Türkischstämmigen in Deutschland eine weitere tiefgreifende Veränderung: die Gründung von AKP-freundlichen Organisationen wie der UID, der Stiftung für politische, wirt­schaft­liche und soziale Forschung (SETA) oder der Yunus-Emre-Kulturzentren. Diese Einrichtungen erwiesen sich umgehend als erfolgreich in der Mobilisierung von Migranten zugunsten der AKP und Präsident Erdoğans. Außerdem arbeiten sie eifrig daran, die öffentliche Meinung über die AKP im Ausland positiv zu beeinflussen.

Die UID wurde 2004 in Köln mit Unterstützung des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan gegründet.19 Sie agiert als Lobby-Organisation der AKP und hat Niederlassungen in ganz Europa. 15 davon befinden sich in Deutschland. Wie es auf ihrer Internetseite heißt, besteht das Ziel der UID in der Erhaltung des kulturellen und sprachlichen Erbes der Türkei. Gleich­zeitig hat sie die Aufgabe, die aktive Teilhabe türkischer Migranten und ihrer Kinder am gesellschaftlichen Leben ihrer Wohnsitzländer zu fördern. Diese beiden Ziele decken sich mit der migrations­politischen Position Erdoğans und der AKP, wonach eine »Integration ohne Assimilation« gefördert werden soll.20 Die Vorstandsmitglieder der UID treten oft in Fernsehdebatten türkischer Sender auf, die im Aus­land ausgestrahlt werden, wie zum Beispiel TRT Avrupa und Kanal Avrupa. Die UID spielt außerdem eine maßgebliche Rolle bei der Organisation von Kundgebungen türkischer Politiker in Europa und bei der Mobilisierung stimmberechtigter Migranten im Vorfeld von Wahlen.

Die Stiftung für politische, wirtschaftliche und soziale Forschung (SETA), an deren Spitze derzeit entfernte Verwandte Erdoğans21 stehen, wurde vom früheren türkischen Präsidenten Abdullah Gül kon­zipiert und 2005 vom damals engsten außenpolitischen Berater Erdoğans, Ahmet Davutoğlu, als AKP-nahe Denkfabrik gegründet.22 Der derzeitige Sprecher Präsident Erdoğans, Ibrahim Kalın, war ihr erster Direktor und pflegt weiterhin enge Beziehungen zu Davutoğlu, der sich mittlerweile von der AKP distan­ziert hat. Die SETA verfügt über Niederlassungen in Ankara, Istanbul, Washington D.C., Kairo und Berlin, und veröffentlicht in regelmäßigen Abständen AKP-freundliche Stellungnahmen und Berichte über die türkische Innen- und Außenpolitik. Es gehört zum Selbstverständnis des Think-Tanks, Einfluss auf die öffentliche Meinung und politischen Debatten im Ausland auszuüben.

Die Politik der Türkei gegen­über türkischen Migranten und deren Kindern

Parallel zu den Wandlungen in der Vereins- und Ver­bandslandschaft hat sich seit den 1960er Jahren auch das Verhältnis der Türkei zu türkischen Migranten und ihren im Ausland geborenen Kinder verändert. Verschiedene Faktoren wie etwa die Ansicht über die vermeintlich vorübergehende Natur der Migration aus der Türkei, sicherheits- und außenpolitische Er­wägungen Ankaras und schließlich die Bedürfnisse der Migranten selbst haben die türkische Politik gegenüber türkischen Migranten und ihren Kindern beeinflusst. Über die Jahrzehnte hinweg lassen sich drei Phasen der türkischen Migrations­politik aus­machen.

Vorübergehender Aufenthalt: Finanzielle und soziale Rücküberweisungen

Die Wirtschaftsmigration von der Türkei nach Deutschland basierte ursprünglich auf dem so­genannten Rotationsprinzip. Die Gastarbeiter sollten nach Ablauf eines Jahres in die Türkei zurückkehren. Wenngleich sich dieses Modell in der Praxis nicht bewährte, war der Ansatz, dass der Aufenthalt in Deutschland zu Arbeitszwecken vorübergehenden Charakter habe, weit über sein Scheitern hinaus prä­gend für die Beziehungen zwischen den türkischen Behörden und den Migranten. In den 1960er und 1970er Jahren stellten finanzielle und sogenannte soziale Rücküberweisungen die Hauptantriebskraft für Migration dar.23 Bis 1971 waren es vor allem die türkische Arbeitsagentur ISKUR und die Konsulate, die die Beziehungen der Regierung zu den Migranten koordinierten. Im Jahr 1971 kam das Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet) als weiterer Akteur hinzu. Diyanet war vor allem für die Bereitstellung von Imamen und anderer religiöser Vertreter zu­ständig.24

Dauerhafter Aufenthalt und zunehmende Sicherheitsbedenken der Türkei

Der sich wandelnde Charakter der Migration aus der Türkei nach dem Militärputsch von 1980 und die Er­kenntnis, dass Gastarbeiter möglicherweise gar nicht in die Türkei zurückkehren werden, bewogen die türkische Regierung zu einem Politikwechsel. Der Begriff »im Ausland lebende Bürger«, der sich auf türkische Migranten und ihre Kinder bezog, wurde in dieser Zeit populär.25 In dieser zweiten Phase der türkischen Migrationspolitik beteiligte sich die Regie­rung in Ankara nun stärker am Leben der Migranten. Der Strategiewechsel wurde in Artikel 62 der vom Militär erlassenen Verfassung von 1982 verankert: Demnach trifft der »Staat [...] die notwendigen Maß­nahmen zur Gewährleistung der Einheit der Familie der im Ausland arbeitenden türkischen Staatsbürger, der Erziehung ihrer Kinder, ihrer kulturellen Bedürf­nisse und ihrer sozialen Sicherheit, zum Schutz ihrer Bindungen an das Vaterland und zur Unterstützung bei ihrer Rückkehr in die Heimat.«26

Insbesondere in den 1990er Jahren traten politische Repräsentanten der Türkei in einen intensiven Austausch mit Migrantenvertretern über Themen wie doppelte Staatsbürgerschaft, Sozialleistungen für die Migrantenbevölkerung, Wahlberechtigung und Sprach- und Religionsunterricht in den Wohnsitz­ländern.27 In dieser Zeit kam das Bildungsministerium als neuer Akteur bei der Koordination der politischen Maßnahmen ins Spiel, vor allem was den Sprach- und Religionsunterricht anbelangte.28 Darüber hinaus räumte die türkische Regierung mit der Einführung der sogenannten »Rosa Karte« im Jahr 1995 ehemaligen Staatsbürgern, die ihre türkische Staatsbürgerschaft aufgeben mussten, um sich in Deutschland einbürgern zu lassen, unter anderem in den Bereichen Aufenthaltsrecht, Freizügigkeit und Beschäftigung die gleiche Rechtsstellung ein wie türkischen Inländern. Mit der Rosa Karte ging hingegen keine Ausweitung des Rechts auf politische Interessen­vertretung oder auf Beschäftigung bei einer öffent­lichen Institution einher.29

Neben der Erkenntnis, dass ein großer Teil der Migration dauerhaft sein würde, trugen auch die zunehmenden Sicherheitsbedenken des türkischen Staates zu einer Anpassung seiner migrationspolitischen Strategie bei. Die DITIB wurde, wie bereits erwähnt, 1984 gegründet, um der starken Position zweier islamistischer Organisa­tionen in Deutschland entgegenzuwirken, die der türkische Staat zu jener Zeit als radikale Gruppen einstufte: die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) und der Verband Islamischer Kulturzentren (VIKZ). Den Einfluss dieser beiden Vereinigungen einzudämmen, war jedoch nicht die einzige Mission der DITIB. Sie übernahm auch die Aufgabe, den türkischen Migranten in Deutschland religiöse und kulturelle Dienstleistungen anzubieten,30 eine Funktion, die zuvor Diyanet von der Türkei aus erfüllt hatte. Doch trotz dieser räum­lichen Aufgabenverlagerung ist die DITIB seit ihrer Gründung eng mit dem türkischen Diyanet verbandelt. So ist beispielsweise der Leiter des Diyanet gleich­zeitig Ehrenpräsident und Aufsichtsrats­vorsitzender der DITIB.31 Diese wird offiziell von einem hochrangigen Beamten des Diyanet geleitet, der als Religionsattaché von der türkischen Botschaft entsandt wird und sein Amt für vier Jahre bekleidet. Zudem werden Imame aus der Türkei nach Deutschland beordert.32

Die Impulse für die Veränderungen in der zweiten Phase der türkischen Migrationspolitik sind allerdings nicht vollständig auf Seiten der Regierung in Ankara zu suchen. Auch die Migranten selbst äußerten in den 1990er Jahren in Gesprächen mit türkischen Be­amten verstärkt den Wunsch, dass sich die türkische Politik aktiv für ihre Belange in Deutschland ein­setzen solle. Die Protokolle von Zusammenkünften zwischen Vertretern türkischer Behörden und Migran­ten in Berlin im Dezember 1992 bestätigen dies. Auslöser für die Entscheidung der türkischen Regierungsstellen, diese Treffen in Deutschland ab­zuhalten, war der tödliche Brandanschlag auf türki­sche Bürger in Mölln einen Monat zuvor. Auf der Tagesordnung der Gespräche fanden sich unter anderem die folgenden Punkte: »Mangel an gleich­berechtigter Anerkennung, obwohl man bereits seit fast 30 Jahren in Deutschland lebt«, »das Sicherheitsproblem«, »der Mangel an politischer Teilhabe ins­besondere bei den Kommunalwahlen in Deutschland« und »diskriminierende Einstellungen der deutschen Gesellschaft«.33 Der Unterausschuss für Menschenrechte des türkischen Parlaments, der die Meetings organisierte, identifizierte in seinem Tätigkeitsbericht unter den türkischen Migranten ein starkes Bedürfnis, dass »der türkische Staat, das Parlament und die angegliederten Institutionen sowie die Medien die türkischen Bürger im Ausland aktiv unterstützen und sich aktiv für sie einsetzen«.34

Die Entwicklung einer muslimischen »Diaspora«: Partnerschaften zwischen der Regierung und der Zivilgesellschaft

Im Zeitraum zwischen der Mitte der 1980er und den frühen 2000er Jahren definierte die türkische Regie­rung zwei wesentliche Ziele ihrer Migrationspolitik neu: Zum einen wollte sie den Interessen der Migran­ten besser gerecht werden – und zwar im Hinblick nicht nur auf Angelegenheiten, die die Türkei be­trafen, sondern auch auf Probleme, die mit dem Aufenthalt der Migranten in den Wohnsitzländern zusammenhingen. Zum anderen wollte die Türkei den Aktivitäten von Gruppen entgegenwirken, die sie zu jener Zeit als radikal einstufte. Angesichts der extrem instabilen politischen Lage in der Türkei wurde dem zweiten Ziel allerdings weitaus mehr Aufmerksamkeit geschenkt und die Ausformulierung einer Politik, die den Forderungen und Wünschen der Migranten Rechnung trug, blieb Stückwerk. Erst in den späten 2000er Jahren gelang es der Regierung allmählich, ihre Migrationspolitik institutionell zu konsolidieren, während zeitgleich die Diasporapolitik weltweit an Bedeutung gewann.35 Der türkische Staat begann, die Auslandstürken zunehmend als religiös-kulturelle Gruppe wahrzunehmen und zu behandeln, als eine Gruppe, die für die neu definierten außen­politischen Ziele der Türkei nutzbar sei. Er vollzog damit einen Schwenk, der die Institutionalisierung einer auf die Auslandstürken gerichteten Politik be­feuerte. Dieser Wandel der Politik gegenüber den türkischen Migranten und ihren im Ausland gebore­nen Kindern spiegelt sich auch in der vermehrten Verwendung des Begriffs »Diaspora« in den 2010er Jahren wider, und zwar sowohl in türkischen Regie­rungsdokumenten als auch in türkischen wissenschaftlichen Arbeiten. In dieser dritten Phase werden die Auslandstürken im offiziellen und im akademischen Sprachgebrauch von »unseren Staatsbürgern im Ausland« zur »muslimisch-türkischen Diaspora«, die jetzt verstärkt zur sozialen, wirtschaftlichen und politischen Teilhabe in ihren Wohnsitzländern auf­gefordert wird.

Im Jahr 2010 wurde zum ersten Mal in der Geschich­te der türkischen Republik eine separate Regierungsbehörde gegründet mit dem Auftrag, politische Maßnahmen und Programme zu planen, zu koordinieren und umzusetzen, die sich an türki­sche Bürger im Ausland, »verwandte Gemeinschaften« (womit zum Beispiel die Muslime auf dem Balkan gemeint sind) und Studierende im Ausland richten. Das Amt für Auslandstürken und verwandte Gemein­schaften (YTB) wurde 2010 unter der Ägide des Büros des Ministerpräsidenten ins Leben gerufen und ist mittlerweile an das Ministerium für Kultur und Tourismus angegliedert.36 2017 zählte das YTB ins­gesamt 287 Voll- und Teilzeitmitarbeiter.37

Die Organisation verfolgt im Wesentlichen drei Zielsetzungen, die sich allesamt auf im Ausland lebende türkische Bürger richten:38 1. Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls zum Heimatland, 2. Erhaltung der Muttersprache, der Kultur und der Identität und 3. Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung der türkischen Diaspora in den Wohnsitzländern. In einem Interview im Jahr 2014 erklärte der damalige Leiter der Organisation, dass diese drei Tätigkeits­felder zur Entwicklung einer »aktiven Bürgerschaft« beitragen sollen, die an den Gesellschaften ihrer Wohn­sitzländer teilhat, ohne dabei ihr kulturelles Erbe aufzugeben.39

Dementsprechend umfassen die Aktivitäten des YTB folgende Bereiche: Bildung und türkische Sprache, kultureller Austausch, Menschenrechte und Gesetze, Familie und soziale Dienstleistungen, zivil­gesell­schaftliche Initiativen, Wirtschaft und Beschäftigung sowie bilinguale Vorschulbildung.40 Ein Großteil der Angebote des YTB richtet sich an Jugendliche (vor allem an jene, die in den 1990er Jahren geboren wur­den) und Kinder. Zu den Maßnahmen im Bereich Bildung zählen: Wochenendschulen; ein Master-Programm an Partneruniversitäten in der Türkei, in dessen Rahmen Türkischlehrer ausgebildet werden, die anschließend im Ausland unterrichten sollen; Stipendien für im Ausland lebende Bürger zur Unter­stützung der Forschung zur Migrantenbevölkerung sowie zur Förderung der akademischen und intellektuellen Teilhabe; die Durchsetzung von Quotenregelungen an türkischen Universitäten für türkische Migranten; Bildungsprogramme zu Menschenrechten in der Türkei; und zweisprachige Programme zur Vorschulbildung.

Die Projekte zum »kulturellen Austausch« schließen organisierte Begegnungen in der Türkei ein, bei denen das kulturelle Erbe der Türkei im Mittelpunkt steht. Ein Agendapunkt ist zum Beispiel die Teil­nahme von Migranten an den Evliya-Çelebi-Anatolia-Kulturveranstaltungen. Weitere Bestandteile der Pro­gramme sind Praktika für jugendliche Migranten bei türkischen Regierungsbehörden; die Diaspora-Jugend­akademie, die 2013 ins Leben gerufen wurde; eine Quote für türkische Jugendliche, die im Ausland leben, bei den alljährlich vom Bil­dungsministerium organisierten Jugendcamps; und die Veranstaltung von Jugendcamps in der Türkei, die sich gezielt an türkische Jugendliche aus dem Ausland richten.

Neben den oben aufgeführten Aktivitäten bietet das YTB seit kurzem zwei spezielle Förderprogramme an: eines zur Entwicklung von Expertise zu recht­lichen Fragen im Zusammenhang mit Diskriminierung und eines zur Bereitstellung von Familien- und Sozialleistungen, die in den vergangenen Jahren vermehrt in den Fokus der Diasporapolitik gerückt sind. Das Ministerium für Familien- und Sozialpolitik zum Beispiel eröffnete im Jahr 2015 Büros in Düssel­dorf und Köln, die in die institutionelle Struktur der türkischen Konsulate eingegliedert wurden.41 Diese Büros fungieren als Vermittler von Sozialleistungen außerhalb der Grenzen der Türkei. Die Migranten und ihre Kinder haben zum Beispiel Anspruch auf Unterstützung für eine Geburt und auf Kindergeld. Beide Leistungen wurden 2015 in der Türkei ein­geführt.42

All diese Programme und Angebote des YTB stehen im Ausland lebenden türkischen Bürgern und In­habern der sogenannten »Blauen Karte« gleicher­maßen offen. Die Blaue Karte ersetzte im Zuge der Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes im Jahr 2009 die oben erwähnte Rosa Karte.43 Mit der Einfüh­rung der Blauen Karte wurden die Rechte bestätigt, die jenen türkischen Staatsbürgern, die mit Erlaubnis des türkischen Staates ihre türkische Staatsbürgerschaft aufgaben, mit der Rosa Karte gewährt worden waren. Im Unterschied zu dem früheren Zertifikat wurde mit der Blauen Karte das Recht auf eine be­fristete Beschäftigung bei einer öffentlichen Institu­tion in der Türkei zuerkannt. Zudem können Inhaber der Blauen Karte von staatlichen Beiträgen zur frei­­willigen Alterssicherung profitieren, wenn sie sich für eine Vorsorge in der Türkei entscheiden. Ferner kön­nen sie freiwillig in die Sozial- und Rentenversicherung in der Türkei einzahlen.

Das YTB organisiert seine Aktivitäten in Zusammen­arbeit mit verschiedenen türkischen Ministerien, darunter auch das Außenministerium und das Minis­terium für Familien- und Sozialpolitik. Das Diyanet und die DITIB beteiligten sich ebenfalls aktiv an YTB-Projekten.44 Diese werden hauptsächlich in Partnerschaft mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Universitäten innerhalb und außerhalb der Türkei geplant und umgesetzt. Der Vorsitz des YTB stellt Finanzmittel bereit und leistet institutionelle Unter­stützung. Ein typisches Projekt ist zum Beispiel das Kooperationsabkommen für ein Master-Programm zur Ausbildung von Türkischlehrern, welches das YTB mit der Universität Sakarya unterzeichnet hat.45 Interessenten, die im Ausland einen ersten Studienabschluss in Erziehungs- und Sozialwissenschaften erworben haben, können sich für das Programm bewerben. Ein weiteres Beispiel ist das zweisprachige Programm für Vorschulbildung, das dem YTB im Jahr 2014 vom Zentrum für Europäische Studien an der Akdeniz-Universität vorgeschlagen wurde. Im Rahmen dieses Projekts kooperierte das YTB auch mit der Alice Salomon Hochschule Berlin.46

Dass das YTB den Schwerpunkt seiner Aktivitäten auf Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Organi­sationen legt, ist offensichtlich ein Reflex auf eine Forderung der Migrantenverbände, die diese in den 1990er Jahren wiederholt gegenüber türkischen Be­amten geäußert haben. Zwar entwickelten sich die zivilgesellschaftlichen Kompetenzen der türkischen Migranten in den 1980er und 1990er Jahren maßgeblich weiter, aber die Vereins- und Verbandslandschaft blieb aufgrund ideologischer, ethnischer und reli­giöser Konfliktlinien weiter gespalten. In den 1990er Jahren wurde immer wieder die Forderung an zivil­gesellschaftliche Akteure laut, sich besser zu organi­sieren und gemeinsam an einem Strang zu ziehen, um politische Interessen effizienter durchzusetzen. Dieses Anliegen wurde beispielsweise bei einem Besuch türkischer Abgeordneten im November 1999 vorgetragen. Bei einem weiteren Besuch türkischer Parlamentarier im Februar 2001 wurde zudem der Wunsch geäußert, einen »Türkischen Rat« zu bilden, das heißt einen von der türkischen Regierung geför­derten Dachverband für die türkischen Migranten­vereine. Wenngleich die Forderung nach einer ge­einte­ren Zivilgesellschaft weiter besteht,47 war die Systematisierung und Institutionalisierung der Migra­tions­politik durch das YTB unter Beteiligung zivil­gesell­schaftlicher Akteure offenbar ein zeitgerechter, strategischer Schachzug, um auf die Bedürfnisse der türkischen Migranten in Deutschland einzugehen.

Das Wahlverhalten verstehen

Die Einführung des Wahlrechts für im Ausland lebende türkische Migranten lässt sich im Kontext der Veränderungen in der dritten Phase der türkischen Migrationspolitik besser verstehen. Mit der Reform des Wahlgesetzes im Jahr 2008 und den im Jahr 2012 folgenden Novellierungen erhielten alle Inhaber eines türkischen Passes, die über 18 Jahre alt waren, das Recht, in ihrem jeweiligen Wohnsitzstaat ihre Stimme an dort eingerichteten Wahllokalen abzugeben.48 Zwar war es türkischen Staatsbürgern, die im Ausland lebten, bereits seit 1987 möglich, an Wahlen ihres Herkunftslands teilzunehmen. Vor der Gesetzes­änderung war die tatsächliche Wahlbeteiligung der Migranten jedoch gering, denn mit der Stimmabgabe, die nur an türkischen Flughäfen und Grenzkontroll­posten erfolgen konnte, ging ein großer logistischer und finanzieller Aufwand einher.

Das Recht, im Ausland an türkischen Wahlen teilnehmen zu dürfen, war in den 1990er Jahren eine dringende Forderung der Migranten.

Das Recht, im Ausland an türkischen Wahlen teil­nehmen zu dürfen, war eine Forderung, die Migranten in den 1990er Jahren bei Treffen mit türkischen Regierungsbeamten wiederholt vorgebracht hatten.49 Die erste Regelung, die eine Stimmabgabe aus dem Ausland vorsah, wurde am 23. Juli 1995 verabschiedet, infolge einer Verfassungsänderung, die die da­malige Koalitionsregierung beschlossen hatte.50 Wenn­gleich türkische Bürger dank dieser Änderung nun im Ausland hätten wählen dürfen, versäumten es die Entscheidungsträger seinerzeit, die Neuregelung ent­sprechend in der Wahlgesetzgebung umzusetzen. Erst 2012 waren alle erforderlichen rechtlichen Maßnahmen getroffen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2014 gaben im Ausland lebende türkische Staatsbürger zum ersten Mal ihre Stimme in Wahllokalen ab, die in ihren Wohnsitzstaaten eingerichtet worden waren.

Das Wahlverhalten in Zahlen51

Seither konnten türkische Staatsbürger im Ausland bei drei Parlamentswahlen (7. Juni 2015, 1. November 2015 und 24. Juni 2018), einer Präsidentschaftswahl (24. Juni 2018) und einem Referendum (16. April 2017) mitwählen. Zwischen der Präsidentschaftswahl von 2014 und den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni 2018 erhöhte sich die Zahl der im Ausland eingetragenen Wähler von 2,8 auf 3 Millio­nen. Im gleichen Zeitraum stieg auch die Wahlbeteiligung von 18,9 auf 50 Prozent. Rund die Hälfte der im Ausland registrierten Wähler lebt in Deutschland. Dort blieb die Zahl der eingetragenen Wähler im Zeit­raum von 2014 bis 2018 zwar relativ stabil, doch auch hier nahm die Wahlbeteiligung entsprechend dem allgemeinen Trend deutlich zu. Wie aus Tabelle 1 (Seite 17) hervorgeht, nahmen an der Präsidentschafts­wahl von 2014 lediglich 18,93 Prozent52 der Wahl­berechtigten teil; bei den Präsidentschafts- und Par­lamentswahlen 2018 waren es bereits 45,7 Prozent.

Tabelle 1 Beteiligung in Deutschland lebender türkischer Wähler an Wahlen in der Türkei

Präsidentschaftswahl 2014

18,93

Parlamentswahl Juni 2015

33,40

Parlamentswahl November 2015

39,80

Referendum 2017

45,84

Parlaments- und Präsidentschaftswahlen Juni 2018

45,70

Quelle: siehe Fn. 51.

Neben diesem deutlichen Anstieg der Wahlbeteiligung – im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen –, fällt der hohe Stimmenanteil auf, den die AKP und die prokurdische und linksgerichtete Demokratische Partei der Völker (HDP) im Ausland verbuchen konnten. Bei allen drei Parlamentswahlen zwischen 2014 und 2018 gewannen sowohl die AKP als auch die HDP im Ausland einen höheren Anteil an Stimmen hinzu als in der Türkei. Bei der Parlaments­wahl im Juni 2018 zum Beispiel erhielt die AKP in der Türkei 42,56 Prozent der Stimmen und im Aus­land 51,73 Prozent. Auf die HDP entfielen 11,7 Pro­zent in der Türkei und 17,31 Prozent im Ausland. Bei den Wahlen im Juni und im November 2015 ließ sich ein ähnlicher Trend beobachten.

Und noch eine Besonderheit fällt ins Auge: Der Stimmenanteil der AKP war in Deutschland (ähnlich wie in den Niederlanden, Belgien und Österreich) höher als ihr Gesamtergebnis im Ausland. Bei der Wahl im Juni 2018 kam die Partei in Deutschland auf 56,3 Prozent der Stimmen (63,35 Prozent in den Niederlanden, 65,08 Prozent in Belgien und 63,24 Pro­zent in Österreich). Bei der Wahl im Juni 2015 ergab sich ein ähnliches Bild. Damals gewann die AKP in Deutschland 53,65 Prozent der Stimmen (und zwi­schen 60 und 65 Prozent in den Niederlanden, Bel­gien und Österreich).53

Andererseits konnte die AKP in Deutschland in allen Konsularbezirken den größten Stimmenanteil für sich verbuchen (siehe Tabelle 2, S. 18). Ihre Wahl­ergebnisse bewegten sich zwischen 44 Prozent (in Berlin bei den Wahlen am 7. Juni 2015) und 70 Pro­zent (in Münster bei den Wahlen am 1. November 2015). Die zweitbeliebteste Partei in Deutschland war entweder die größte Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), oder die HDP. Auf die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die bei den Wahlen von 2018 ein Bündnis mit der AKP ein­ging, entfielen dagegen nur zwischen 7 und 11 Pro­zent.

Warum sind die Stimmen aus dem Aus­land für die politischen Parteien in der Türkei so wichtig?

Die Stimmen aus dem Ausland hatten einen Einfluss auf die Ergebnisse der türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sowie auf das Referendum von 2017.54 Bei der Präsidentschaftswahl 2018 und beim Referendum ein Jahr zuvor wurden die Voten aus dem Ausland direkt zu denen in der Türkei hin­zugezählt. Ihr Einfluss auf die jeweiligen Ergebnisse war signifikant: So konnte beispielweise Präsident Erdoğan bei der Präsidentschaftswahl 2018 50,8 Pro­zent der Stimmen aus der Türkei auf sich vereinen, was nur für einen knappen Sieg in der ersten Runde gereicht hätte. Zusammen mit den 894 585 Stimmen,

Tabelle 2 Anteil der in Deutschland abgegebenen Stimmen nach Partei

AKP

MHP

CHP

HDP

Berlin

7. Juni 2015

43,92 %

8,09 %

23,60 %

20,48 %

1. November 2015

48,46 %

6,30 %

22,60 %

19,48 %

24. Juni 2018

45,30 %

6,06 %

22,40 %

20,12 %

Düsseldorf

7. Juni 2015

59,49 %

11,36 %

13,10 %

13,58 %

1. November 2015

64,60 %

8,84 %

12,30 %

12,56 %

24. Juni 2018

59,85 %

9,78 %

12,72 %

11,66 %

Essen

7. Juni 2015

61,93 %

10,63 %

10,53 %

14,35 %

1. November 2015

67,11 %

7,41 %

16,18 %

12,87 %

24. Juni 2018

66,45 %

8,51 %

9,43 %

10,69 %

Frankfurt

7. Juni 2015

47,72 %

9,80 %

17,28 %

21,87 %

1. November 2015

54,36 %

7,41 %

16,19 %

20,25 %

24. Juni 2018

50,82 %

8,38 %

17,03 %

18,44 %

Hamburg

7. Juni 2015

50,21 %

8,25 %

18,02 %

20,95 %

1. November 2015

54,36 %

6,41 %

17,07 %

19,79 %

24. Juni 2018

50,90 %

7,34 %

17,24 %

19,26 %

Hannover

7. Juni 2015

47,63 %

7,95 %

16,04 %

25,32 %

1. November 2015

53,90 %

6,61 %

14,79 %

22,98 %

24. Juni 2018

53,13 %

6,91 %

15,72 %

19,18 %

Karlsruhe

7. Juni 2015

53,69 %

8,33 %

16,09 %

18,86 %

1. November 2015

60,02 %

6,56 %

14,33 %

17,38 %

24. Juni 2018

55,06 %

8,02 %

16,03 %

15,93 %

Köln

7. Juni 2015

54,44 %

9,05 %

15,11 %

18,83 %

1. November 2015

60,80 %

6,84 %

14,05 %

16,84 %

24. Juni 2018

56,84 %

8,58 %

14,10 %

15,44 %

Mainz

7. Juni 2015

55,01 %

7,63 %

13,26 %

21,92 %

1. November 2015

59,55 %

6,02 %

11,92 %

20,79 %

24. Juni 2018

55,58 %

8,13 %

14,11 %

17,26 %

München

7. Juni 2015

57,78 %

10,39 %

21,07 %

9,22 %

1. November 2015

63,35 %

7,54 %

19,14 %

8,00 %

24. Juni 2018

56,05 %

8,91 %

20,03 %

8,46 %

Münster

7. Juni 2015

65,72 %

7,57 %

11,35 %

12,48 %

1. November 2015

71,05 %

5,80 %

10,27 %

11,25 %

24. Juni 2018

59,14 %

6,89 %

14,74 %

14,49 %

Nürnberg

7. Juni 2015

46,39 %

13,29 %

23,56 %

13,14 %

1. November 2015

54,76 %

10,21 %

21,26 %

11,44 %

24. Juni 2018

49,19 %

9,56 %

22,42 %

11,16 %

Stuttgart

7. Juni 2015

55,05 %

11,91 %

12,50 %

17,07 %

1. November 2015

60,89 %

9,34 %

11,92 %

15,21 %

24. Juni 2018

57,61 %

10,08 %

13,04 %

13,26 %

die er im Ausland erhielt, erreichte er aber unterm Strich 52,59 Prozent der gültigen Stimmen. Auch beim Referendum von 2017 hatten die Stimmen aus dem Ausland einen ziemlich großen Einfluss. Sie machten rund 19 Prozent (256 000 Stimmen) der Gesamtdifferenz (1,37 Millionen) zwischen den Ja- und den Nein-Stimmen aus.

Bei Parlamentswahlen haben die im Ausland abgegebenen Stimmen einen doppelten Effekt.

Bei Parlamentswahlen haben die im Ausland ab­gegebenen Stimmen einen doppelten Effekt: Zum einen wirken sie sich auf die Zahl der Parlamentssitze aus, die eine Partei gewinnen kann. Die im Ausland abgegebenen gültigen Stimmen werden auf die Wahl­bezirke verteilt. Dies geschieht auf der Grundlage des Verhältnisses dieser Stimmen zu den gültigen Stim­men aus dem Inland. Nachdem die genaue Gesamtzahl der Stimmen aus dem Ausland berechnet wurde, die jeder Wahlbezirk erhält, werden diese auf die politischen Parteien verteilt, und zwar im Verhältnis zu ihrem Gesamtstimmenanteil aus dem Ausland. Da die AKP den höchsten Anteil der Stimmen aus dem Ausland erzielte – der dazu noch höher war als in der Türkei – profitierte sie am stärksten von diesen Stimmen. So erlangte zum Beispiel die AKP bei der Parlamentswahl im November 2015 dank der Stim­men aus dem Ausland drei zusätzliche Parlaments­sitze.

Zum anderen spielen die Stimmen aus dem Ausland eine Rolle für das Erreichen der Zehn-Prozent-Hürde. Für den Einzug ins Parlament müssen die Parteien mindestens zehn Prozent der gültigen Gesamtstimmen (Summe der Stimmen aus dem Inland und aus dem Ausland) auf sich vereinen. Die Stimmen aus dem Ausland trugen wesentlich dazu bei, dass die HDP bei der Wahl im November 2015, bei der die Hürde bei 4,78 Millionen Stimmen lag, Sitze im Parlament erhielt. In der Türkei holte die HDP 4,91 Millionen Stimmen, wodurch sie nur ganz knapp die Hürde überschritt. Dementsprechend waren die 234 000 zusätzlichen Stimmen, die im Ausland auf sie entfielen, von entsprechend hohem Gewicht.

Über diese unmittelbaren Auswirkungen auf die Sitzverteilung hinaus haben die Stimmen aus dem Ausland auch eine symbolische Bedeutung. Die Ver­einfachung der Regelungen zur Wahlbeteiligung im Ausland ist eine der bedeutenden Maßnahmen, die der türkische Staat im Rahmen seiner Strategie ergrif­fen hat, eine Diaspora zu entwickeln, die das religiöse und sprachliche Erbe der Türkei aufrechterhält. Für die Regierungspartei AKP ist die Mobilisierung der Wählerschaft ein wichtiger Katalysator zur Erreichung dieses Zwecks. In einem Interview im Jahr 2015 äußerte sich der damalige Präsident des YTB dazu wie folgt:

»27 Prozent der Migrantenbevölkerung ist zwischen 18 und 30 Jahren alt. Die Sozialisierung dieser Gruppe fand vornehmlich im Ausland statt. Gleichzeitig nimmt der Anteil der in der Türkei geborenen Bevölkerung im Vergleich zu der im Ausland geborenen Bevölkerung rapide ab. Unter Berücksichtigung dieser beiden Faktoren lässt sich sagen, dass sich die Wahlbeteiligung proportional zu der Fähigkeit der Migrantenbevölkerung ent­wickelt, ihre soziale Identität und ihr Zugehörigkeitsgefühl zu ihrem Heimatland zu bewahren.«55

Die Jugend wird von der AKP ganz offensichtlich als entscheidendes Instrument für die Herausbildung jener Diaspora erachtet, die das Ideal der Regierungspartei ist. So ist es sicher kein Zufall, dass eine über­wältigende Zahl der Projekte der YTB einen Jugend­bezug hat. Die Quote wird wahrscheinlich in den kommenden Jahren beibehalten werden. Eine Aus­sage von Zafer Sırakaya, der bis zu seiner Wahl als Abgeordneter der AKP aus Istanbul bei der Parlaments­wahl im November 2018 die regierungsnahe Migran­tenorganisation Union Internationaler Demokraten (UID) leitete, bestätigt dies:56

»Wir werden weiter unermüdlich an der Stärkung [des Gefühls] der Zugehörigkeit der Jugend zu ihrem Heimatland arbeiten. Die jungen Generationen sind in der Tat unsere Zukunft. Wir werden ihnen eines Tages unser Heimatland übergeben. Aus diesem Grund spielt die Jugend im Ausland eine wichtige Rolle. Wir werden das Stipendien­angebot ausweiten, um zur Bildung und Speziali­sierung der jungen Menschen beizutragen. Zu diesem Zweck werden wir auch die Quoten für im Ausland lebende Jugendliche an türkischen Universitäten verdoppeln. Darüber hinaus werden wir die Praktikumsmöglichkeiten in unserem Land verbessern. Wir werden neue Module in das Beschäftigungssystem des öffentlichen Dienstes ein­führen, um die Beschäftigungsmöglichkeiten in öffentlichen Institutionen zu erhöhen. Wir legen besonderes Augenmerk darauf, dass sich unsere Bürger im Ausland, und insbesondere die Jugend, nicht von unserer Kultur entfernen. Wir werden unsere Bemühungen zur Verwirklichung dieses Ziels weiter fortsetzen. Eines unserer Projekte in diesem Zusammenhang ist das Angebot von Reisen, mit denen wir 100 000 junge Menschen in unser Land einladen, um sie in unsere Kultur und Geschichte einzuführen. Eine der Grundlagen unserer Kultur ist die Sprache. Aus diesem Grund werden wir die Gründung zweisprachiger Schulen fördern. Außerdem werden wir die Zahl der Projekte und die Projektförderung erhöhen und die Projekte vielfältiger gestalten, damit unsere Kinder ihre Muttersprache lernen können. Ferner werden wir die Gründung kultursensibler und -kompa­tibler Pflegeheime fördern.«

Unterschiedliche Wählerpräferenzen – über die reinen Zahlen hinaus

Es überrascht nicht, dass die AKP im Jahr 2018 einen wesentlichen Teil ihrer Wahlkampagne ihrer »Dia­sporapolitik« gewidmet hat.57 Bei einer Rede in Sarajevo beim sechsten Jahrestreffen der UID im Mai 2018 sagte Präsident Erdoğan dazu Folgendes:

»Um die Belange unserer im Ausland lebenden Bürger zu berücksichtigen, haben wir das YTB gegründet. Außerdem gewähren wir unseren Bürgern, ungeachtet ihres Wohnorts, Zugang zu den staatlichen Institutionen, indem wir die Zahl der Konsulate und Botschaften erhöhen. Wir unterstützen stets jegliche Beteiligung unserer Bürger an zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Der­zeit befinden wir uns in der Phase des Aufbaus eines Koordinierungsrats für im Ausland lebende Bürger, der die Aktivitäten der verschiedenen Institutionen leichter machen und ihre Koordi­nation verbessern soll. Zudem planen wir die Ein­richtung von Bei­räten in den konsularischen Regionen im Ausland, die vom YTB geleitet werden und an denen unsere im Ausland lebenden Bürger beteiligt werden sollen. Ferner arbeiten wir an der Einrichtung einer Kommission für Bürger im Aus­land innerhalb des Parlaments.«58

Berichten zufolge haben türkische Konsulate An­fang Juni 2018 im Rahmen der Wahlkampagne der AKP Briefe an die dort eingetragenen Bürger versendet, die von Präsident Erdoğan unterzeichnet waren. In diesen Briefen wurde offensichtlich für eine Unter­stützung der AKP und Erdoğans geworben – als Gegenleistung für die Vergünstigungen, die die im Ausland lebenden Bürger erhalten haben.59 Wenngleich keine andere Partei die Diaspora im Wahlkampf so systematisch ins Visier genommen hat wie die AKP, sei an dieser Stelle anzumerken, dass vor der Wahl auch Oppositionsparteien im Ausland für sich geworben haben. Angesichts der institutionellen und finanziellen Kapazitäten, die sich die AKP im ver­gan­genen Jahrzehnt durch den Einsatz staatlicher Mittel und dank der Zusammenarbeit mit zivilgesellschaft­lichen Akteuren und Netzwerken innerhalb und außerhalb der Türkei aufgebaut hat, starteten die Oppositionsparteien jedoch mit einem Wettbewerbsnachteil in den Wahlkampf.

Annähernd 90 Prozent der türkischen Medienlandschaft sind politisch oder finanziell abhängig von der AKP-Regierung.60 Seit dem Verkauf der Doğan-Medien­gruppe an den regierungsfreundlichen Konzern Demirören im Jahr 2018 befinden sich neun der zehn meistgesehenen TV-Sender und neun der zehn meist­gelesenen nationalen Zeitungen in der Hand regie­rungsfreundlicher Unternehmen.61 Doch nicht nur die nahezu vollständige Kontrolle über die Medien, sondern auch die starke Zentralisierung der öffent­lichen Finanzen haben der AKP einen unfairen Wett­bewerbsvorteil gegenüber den Oppositionsparteien verschafft. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist die strategische Verwendung von Mitteln aus dem Staatshaushalt durch die AKP, um ausschließbare Güter in parteifreundliche Gebiete in der Türkei zu lenken, die sich durch eine besonders hohe Zustimmung zur Regierungspartei auszeichnen, sowie um dort höhere Investitionen, insbesondere im Bereich der Bildung, zu tätigen.62

Außerhalb der Türkei lässt sich der Wettbewerbsvorteil der AKP in großen Teilen darauf zurück­führen, dass sie sich die politischen Maßnahmen auf die Fahnen geschrieben hat, die den türkischen Migranten und ihren im Ausland geborenen Kindern zugutekommen. Die Wahrnehmung, dass dieser An­spruch berechtigt ist, breitet sich unter den Migran­ten wegen der progredierenden Verwischung der Grenzen zwischen Partei und staatlichen Institutionen immer mehr aus. Ein weiterer Faktor, der so­zusagen zur Verwirklichung dieses Anspruchs bei­getragen hat, ist die Verschmelzung der Politik mit der Vereins- und Verbandslandschaft. Durch die zu­nehmend engen Beziehungen zwischen der Partei, staatlichen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Akteuren hat sich ein Netzwerk von Seilschaften entwickelt, das alte und neue Organisationen mit engen Beziehungen zur AKP-Regierung umfasst, wie beispielsweise die DITIB und die UID.

Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass das Wahlverhalten in Deutschland heterogen geblieben ist.

Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass das Wahlverhalten in Deutschland hetero­gen geblieben ist. Von besonderer Bedeutung ist hier­bei, dass dies trotz des Wettbewerbsvorteils der AKP in Bezug auf den Zugang zur Wählerschaft und die Möglichkeiten zu deren Mobilisierung der Fall war. Die Schwankungen im Wahlverhalten zeigen sich am deutlichsten in den Stimmenanteilen der AKP und der drei wichtigsten Oppositionsparteien. Die Wahl­entscheidungen spiegeln in hohem Maße die histo­rischen Veränderungen der Migrationsmuster wider. So scheint beispielsweise die prokurdische und links­gerichtete HDP die größte Unterstützung von Seiten jener Migranten zu erhalten, die in den 1980er und 1990er Jahren aus politischen Gründen nach Deutsch­land kamen. Die Wählerschaft umfasst auch Studie­rende und Menschen, die in der Zeit nach dem Putschversuch 2016 – wiederum aus politischen Grün­den – nach Deutschland kamen. Die AKP hin­gegen verzeichnet besonders viel Zustimmung unter denjenigen, die in den 1960er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland wanderten.

Wie lässt sich die Unterstützung und/oder Sympathie für die AKP erklären?

Die Beliebtheit der AKP und Präsident Erdoğans unter den türkischen Migranten und ihren Kindern in Deutschland wird oft mit einer »Loyalität für die Türkei« und einem »Mangel an demokratischer Kul­tur« erklärt. Neben methodologischen und konzep­tionellen Schwierigkeiten, die bereits mit der Mehr­deutigkeit der Begriffe »Loyalität« und »demokratische Kultur« verknüpft sind, sagen diese Interpretationen wenig aus über die tieferen Gründe, die sich hinter der Unterstützung bzw. Sympathie für die AKP und Präsident Erdoğan verbergen. Wird versäumt, die Wahrnehmungen und Motivationen türkischer Wäh­ler in Deutschland wirklich zu analysieren, besteht die Gefahr, dass politische Meinungsbilder auf der Grundlage essentialistischer und essentialisierender Vorurteile interpretiert werden.

Die in diesem Abschnitt dargelegten empirischen Informationen basieren auf biographischen Interviews, die die Autorin im Zeitraum 2017/18 über die Dauer eines Jahres mit türkischen Migranten und ihren in Deutschland geborenen Kinder geführt hat. Es wurden insgesamt 18 Interviews mit Migranten der ersten und zwei­ten Generation (die über ein Schneeballsystem ausgewählt wurden) geführt. Das kürzeste Interview dauerte 45 Minuten, das längste zwei Stun­den. Zusätzlich bildete und moderierte die Autorin zwei Fokusgruppen, denen ausschließlich Frauen an­­gehörten. Bei den für diese Studie Befragten handelt es sich um eine heterogene Gruppe in Bezug auf Ethnizität, Religion, Religiosität, Zeitpunkt der An­kunft und rechtlichen Status. Die Autorin nahm zu­dem regelmäßig an Veranstaltungen von verschiedenen Migrantenvereinigungen teil und bediente sich während der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2018 der Methode der teilnehmenden Beobachtung.

Wenngleich die erfassten qualitativen Daten nicht repräsentativ sind, legen sie den Schluss nahe, dass es für die Unterstützung, die die AKP und Präsident Erdoğan von Wählern in Deutschland erhalten, so­wohl materielle als auch emotionale Gründe gibt. Sozioökonomische Veränderungen und die Wahrnehmung, dass sich die Qualität der Leistungen ver­schiedener staatlicher Institutionen sowohl in der Türkei als auch in Deutschland verbessert hat, haben der Regierungspartei und ihrer Leitfigur bei der Wählerschaft zu einem positiven Image verholfen. Ein starkes Gefühl des Stolzes, das von der Rhetorik einer »starken Türkei« genährt, von der charisma­tischen Persönlichkeit Erdoğans verkörpert und durch die expansive Diasporapolitik bestätigt wird, bildet offenbar das emotionale Setting für die hohe Zustim­mung zur AKP und zum Präsidenten.

Entgegen der gängigen Meinung ist Religiosität nicht die Haupt­motivation für die Wahl­unterstützung der AKP.

Entgegen der gängigen Ansicht ist Religiosität nicht die Hauptmotivation für die Wahlunterstützung der AKP. So sehen viele AKP-freundliche Wähler, ins­besondere die Älteren unter ihnen, die Partei offenbar eher in der Tradition von Mitte-Rechts-Parteien wie zum Beispiel der Demokratischen Partei, der Gerech­tigkeitspartei, der Partei des Rechten Weges und der Mutterlandspartei denn als islamistische Partei. An­dererseits hat sich in den letzten Jahren innerhalb der sehr religiösen Milli Görüş-Kreise ein wachsendes Unbehagen gegenüber der AKP-Regierung breit­gemacht.63

Wenngleich Frömmigkeit ein fester Bestandteil des Alltagslebens vieler AKP-Wähler ist, wirkt sie sich weniger stark auf ihre politischen Präferenzen aus als auf ihre Sozialisierungsmuster. Doch insbesondere in Krisenzeiten, wie beispielsweise im Zuge der Span­nungen zwischen den Niederlanden und der Türkei unmittelbar vor dem Referendum 2017, scheint die Angst vor dem Verlust sozialer und politischer Errun­genschaften selbst islamistische Wähler, die der AKP und Erdoğan kritisch gegenüberstehen, dazu zu be­wegen, eine strategische Stimme für die AKP ab­zugeben.

Materielle Vorteile und subjektiv empfundene Verbesserung des sozialen Wohl­ergehens

Die Wahrnehmung, dass sich die sozioökonomischen Bedingungen und die Dienstleistungen des türkischen Staates sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes verbessert hätten, spielt offensichtlich eine wichtige Rolle bei der Unterstützung der AKP und Präsident Erdoğans bei Wahlen. Bis vor kurzem ver­setzte die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei unter der Regierung der AKP viele Beobachter in der Türkei und im Ausland in Staunen. Als die AKP 2002 die Macht übernahm, steckte das Land seit einem Jahr in einer seiner bislang schwersten Wirtschaftskrisen. In den darauffolgenden Jahren und bis 2016 stieg das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 9 090 US-Dollar auf 25 655 US-Dollar.64 Das rasche Wirtschaftswachstum der vergangenen 15 Jahre wurde unter anderem durch einen Boom in der Bauwirtschaft begünstigt. In diesem Zeitraum hat sich die Skyline von Istanbul und anderer Städte drastisch verändert. Auch die Verkehrsinfrastruktur hat sich rasant entwickelt.65

Insbesondere bei den älteren türkischen Migranten in Deutschland scheint das wirtschaftliche Wachstum der Türkei seit den frühen 2000er Jahren die Unter­stützung – oder zumindest Sympathie – für die regierende Partei beflügelt zu haben. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die meisten Wirt­schaftsmigranten der ersten Generation und ihre Kinder, die entweder in sehr jungen Jahren nach Deutschland kamen oder dort geboren wurden, einen erheblichen Teil des Jahres in der Türkei verbringen und aktive Begünstigte des türkischen Wohlfahrts­systems bleiben. Nicht selten vergleichen sie die sozioökonomische Situation in den 1960er und 1970er Jahren mit der seit den 2000er Jahren.

Und dieser Vergleich wird in ganz unterschied­lichen Bereichen gezogen: Die einen sehen in den neuen Stadtautobahnen die Embleme des wirtschaftlichen Aufschwungs der Türkei unter der Regierung der AKP. Andere heben den im Vergleich zu früher »besseren« und »schnelleren« Zugang zu Gesundheitsleistungen hervor.66 Überhaupt empfinden viele Migran­ten, dass sich die Qualität der Leistungen staatlicher Institutionen verbessert hat. Die Befragten berichteten oft von einer gesteigerten Effizienz der Regierungsstellen seit den frühen 2000er Jahren. Be­gleitet werde diese Entwicklung von positiven Ver­änderungen beim Auftreten der Angestellten des öffentlichen Dienstes. Während man früher häufig »schlecht behandelt« worden sei, erlebe man mitt­lerweile »menschlichere« und »freundliche« Inter­aktionen. Ein Beispiel:

»Vor fünfzehn bis zwanzig Jahren war die Beantragung eines Ausweises oder die Erledigung einer anderen Angelegenheit bei einer Behörde eine komplizierte Angelegenheit. 1997 musste ich in der Türkei für meinen Vater die Rente beantragen. Ich bin zu sieben verschiedenen Behörden gegangen und habe sieben verschiedene Antworten er­halten. Dann rief ich meinen Vater an und sagte ihm, dass er sich selbst darum kümmern muss. Er brauchte nur zehn Minuten, bis er die nötigen Informationen beisammenhatte. Mir ist später klargeworden, dass die Beamten mich aufgrund meines jungen Alters nicht ernst genommen und sich über mich lustig gemacht haben. Wenn sie heute zu einer Behörde gehen, sind die Beamten höflich und versuchen, ihnen so gut wie möglich zu helfen. Manchmal macht man einen Fehler, weil man die türkische Kultur nicht so gut kennt. Und trotzdem behandelt sie der Beamte nicht schlecht, so wie es in der Vergangenheit der Fall war.«

Objektive sozioökonomische Fortschritte und sub­jektiv empfundene Verbesserungen bei der Dienstleistungserbringung spielten für die Wahlentscheidung derjenigen Wähler, die traditionell Mitte-Rechts-Par­teien wählten, eine maßgebliche Rolle. In der Tat hing der Erfolg der AKP bei der Machtsicherung eng damit zusammen, dass sie die politische Fähigkeit besitzt, in unterschiedliche gesellschaftliche Milieus hineinzuwirken und sich – vor allem in den 2000er Jahren – von der islamistischen Tradition zu diffe­ren­zieren, aus der sie hervorgegangen ist. Es ist ihr offen­bar gelungen, das Vertrauen von Wählern zu gewin­nen, die dem politischen Islam eher skeptisch gegen­überstanden:

»Meine Mutter war am Anfang skeptisch gegenüber Erdoğan. Sie hatte Angst, dass er wie Necmettin Erbakan sein könnte [der Gründer der Milli-Görüş-Bewegung in der Türkei und verschiedener islamistischer Parteien, die daraus entstanden sind]. Spä­ter aber hat sie gemerkt, dass dies nicht der Fall ist. Die AKP war zu Anfang auch anders. Sie haben viele Reformen durchgeführt und Infrastruktur­investitionen getätigt etc. Wir sind oft in die Türkei gefahren. Die Straßen sind besser geworden. Die Stadt, aus der meine Mutter stammt, hat sich ver­ändert. Meine Eltern haben all diese Veränderungen der AKP zugeschrieben. Sie haben immer gesagt, dass sie bei den Gemeindebehörden im Gegensatz zu früher sehr gut behandelt werden.«

Außerhalb der Türkei scheint die Wählerschaft die Verbesserung bei der Erbringung öffentlicher Dienst­leistungen am stärksten in den Konsulaten wahr­zunehmen. Neben dem YTB und dessen Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren spielten die Konsulate eine wesentliche Rolle in der dritten Phase der türkischen Migrationspolitik.67 Dank der Digitali­sierung der Bürgerdienste im Laufe der vergangenen zehn Jahre erhielten die türkischen Migranten und ihre Kinder einen leichten und schnellen Zugang zu Dienstleistungen wie Anmeldung, Beantragung bzw. Verlängerung von Reisepässen, Beantragung von Visa etc. Der Zugang zu diesen Dienstleistungen erfolgt über ein Internetportal, bei dem sich die Nutzer mit einer Identifikationsnummer und einem Kennwort einloggen, die sie bei einem Konsulat erhalten. Diese Veränderungen bei der Dienstleistungserbringung sind wie auch die intensivere Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren Ausdruck des neuen, von der AKP eingeschlagenen Kurses in der Außen­politik der Türkei.68 Dementsprechend stieg im Zeit­raum von 2002 bis 2015 weltweit die Zahl der Kon­sulate von 55 auf 81 und der Botschaften von 91 auf 134.69 Ein wesentlicher Grundsatz dieser neuen außenpolitischen Ausrichtung lautet, dass Public Diplomacy zum einen den Bereich der »Beziehung zwischen den Bürgern und dem Staat« und zum anderen den der »Be­ziehung zwischen Bürgern« umfasst.70

Wie aus den Aktivitätsberichten des Unterausschus­ses für Menschenrechte des türkischen Parlaments hervorgeht, haben Migrantenverbände seit den 1990er Jahren vielfach eine Verbesserung der konsu­larischen Dienstleistungen gefordert. Bevor die AKP im Jahr 2002 die Macht übernahm, wurde beispielsweise moniert, dass die Konsulate zu klein seien und das Personal Bürger mit Kopftuch schlecht behandele.71 Die wahrgenommenen Fortschritte bei der Quali­tät und Effizienz der konsularischen Dienstleistungen seit Anfang der 2000er Jahre haben, so scheint es, unter den Wählern zu einer erhöhten Zustimmung zur AKP beigetragen.

Die Rhetorik von einer »starken Türkei«

Die türkischen Wähler im Ausland rechnen der AKP-Regierung nicht nur die positiven sozioökonomischen Veränderungen in ihrem Herkunftsland und eine verbesserte Qualität der Behördendienstleistungen innerhalb und außerhalb der Türkei an; ihre Unter­stützung für die AKP und Erdoğan hat noch eine darüber hinausgehende emotionale Komponente: Ein starkes Gefühl des Stolzes, das von der Rhetorik einer »starken Türkei« genährt, von der charismatischen Persönlichkeit des Präsidenten Erdoğan verkörpert und durch die expansive Diasporapolitik im Alltag spürbar bestätigt wird.

Die türkischen Wähler im Ausland scheinen in der Institutionalisierung der Diasporapolitik den Ausdruck einer fürsorglichen Staatsführung zu sehen.

Dass die AKP-Regierung die Diasporapolitik stärker institutionalisiert und systematisiert hat, wird von den Wählern außerhalb der Türkei offenbar als materieller Ausdruck dessen wahrgenommen, was sie von einer aufmerksamen und fürsorglichen Staatsführung erwartet. So sehen die wahlberechtigten Migranten beispielsweise in den konsularischen Dienstleistungen ein Indiz für die zunehmende Fähig­keit des Staates, auf die Bedürfnisse seiner Bürger ein­zugehen. Interessanterweise spiegelt sich diese Auf­fassung auch in den Statements politischer Akteure wider. Bei der ersten Zusammenkunft des Beirats für Bürger im Ausland72 im Juni 2013 äußerte Präsident Erdoğan nämlich, dass »derjenige ein starker Staat ist, der auf die Bedürfnisse seiner eigenen Bürger, seiner ethnischen Brüder und seiner Freunde eingeht«.73 Aus­sagen dieser Art festigen unter den Migranten vermutlich wiederum den Eindruck, dass sich die Türkei unter Präsident Erdoğan zu einem starken Staat entwickelt hat.

In Präsident Erdoğan sehen die Befragten die Per­sonifizierung einer Türkei, die in der Lage ist, ihre Bürger im Ausland zu vertreten und zu verteidigen. Viele betrachten ihn als »väterliche« Figur, die auf der internationalen Bühne »gebührend respektiert« wird, »die Interessen der Migranten vertritt« und »hält, was sie verspricht«. So findet sich beispielsweise verbreitet die Auffassung, dass türkische Entscheidungsträger seit der Machtübernahme der AKP in Deutschland auf Präsidenten- und Ministerialebene empfangen wer­den, während es in der Vergangenheit lediglich diplo­matische Begegnungen auf niedrigerer Stufe gegeben habe. Außerdem scheinen viele Wähler, einschließlich derer, die keine offenen Unterstützer der AKP sind, Erdoğan dafür Beifall zu spenden, dass er es »wagt«, die europäischen Politiker »herauszufordern«:

»Ich bin weder ein großer Fan der AKP noch von Erdoğan, außer dass ich es gut finde, dass er sie [europäische und deutsche politische Akteure] herausfordert. Kein anderer Politiker vor ihm hat so etwas getan. Meine Mutter hat mir immer er­zählt, dass ihre Freunde sich über sie lustig mach­ten, wenn türkische Politiker nach Deutschland kamen. Sie sagten, sie seien wieder gekommen, um nach Geld zu fragen. Das ist nicht länger der Fall. Die Türkei macht Fortschritte. Schauen Sie sich Griechenland, Italien und Spanien an. […] Die Wirtschaftskrise hat auch die Türkei getroffen, aber sie hat ihr nicht so sehr geschadet wie anderen europäischen Volkswirtschaften. Diese sind neidisch auf diese Tatsache. Außerdem unterzieht sich Erdoğan keiner Selbstzensur, wenn er mit europäischen Politikern kommuniziert. Klar redet er ab und zu Unfug; aber dennoch: Er wagt es, andere herauszufordern.«

Nicht selten wird in diesen wahrgenommenen Ver­änderungen in den diplomatischen Begegnungen der Türkei – sowohl hinsichtlich des Status als auch der Rhetorik, die diese Treffen umgibt – ein Beleg für die Aufwertung der Türkei auf globaler politischer Ebene gesehen. Dabei ist es wenig überraschend, dass diese Interpretation von regierungsfreundlichen Medien gefördert wird. So bezeichnete eine AKP-nahe Zeitung zum Beispiel den letzten Deutschland-Besuch Präsi­dent Erdoğans im September 2018 als ein Treffen, das die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland in eine »höhere Liga« führen werde.74 Die Auf­fassung, dass die Türkei stärker geworden sei – und infolgedessen in die »Liga der entwickelten Nationen« aufgestiegen sei – scheint unter den AKP-Wählern ein starkes Gefühl des Stolzes hervorzurufen. Wo diese Emotionen sichtbar werden, lösen sie in Europa oft negative und teilweise misstrauische Interpreta­tionen aus. Die AKP-Wähler schreiben die Verschlechterung der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei häufig den Ressentiments der europäischen Länder im Allgemeinen und Deutschlands im Beson­deren gegenüber der veränderten Position der Türkei in der globalen Politik zu:

»Es scheint, als sehe Europa die Entwicklungen in der Türkei als Gefahr für sich selbst. Vor diesem Hintergrund fragt man sich, warum es immer zu einem Problem werden und kritisiert werden muss, wenn die Türkei Fortschritte macht. Die permanente Kritik in Deutschland an dem, was in der Türkei passiert, führt bei den Türken hier natürlich zu Enttäuschung.«

Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Frage, was dieses starke Gefühl des Stolzes auf die Türkei unter der AKP-Herrschaft und der Führung von Erdoğan auslöst. Es wird weitgehend anerkannt, dass Diasporagemeinden oft stark nationalistisch ein­gestellt sind.75 Die türkische Diaspora bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Doch die hartnäckige Wertschätzung für die AKP und die charismatische Persönlichkeit Erdoğan lässt sich nicht allein mit Nationalstolz erklären. Worum es den AKP-Wählern derzeit vor allem zu gehen scheint, ist die Heraus­forderung, die die Rhetorik von einer »starken Tür­kei« für das weit verbreitete Bild von der Stellung der Türken in Europa darstellt:

»Europa bringt es nicht fertig, eine starke Türkei zu akzeptieren. Für sie ist die Türkei noch immer die Türkei der 1970er Jahre. Auch wenn es dem Land in der Politik an europäischen Standards mangelt, ist es wirtschaftlich entwickelt. Aber den Deutschen sind diese Entwicklungen natürlich nicht bewusst. Für sie sind Türken noch immer ›barbarisch‹, ›provinziell‹, ›rückschrittlich‹ und ›arm‹.«

Offenbar hilft die Herausforderung, die von einer starken, von der charismatischen Persönlichkeit Erdoğans und von dessen »wagemutigem« Stil ge­prägten Türkei ausgeht, dabei, die Frustration zu lindern, die sich bei Migranten und ihren in Deutschland geborenen Kindern in Bezug auf ihre gesellschaft­liche Stellung in ihrem Wohnsitzstaat breit­gemacht hat. Viele der Befragten beschwerten sich über einen Mangel an gleichwertiger Anerkennung, obwohl sie einen deutschen Pass besitzen:

»Ich erhielt mit 18 Jahren die deutsche Staatsange­hörigkeit. Seitdem habe ich immer gesagt, dass ich deutscher Staatsbürger bin, um dann festzustellen, dass ich gar nicht als solcher akzeptiert werde. Sie erkennen einen nicht als echten Deutschen an, selbst wenn man die deutsche Staatsbürgerschaft hat. Da es unmöglich war, als solcher akzeptiert zu werden, begann ich mit 35 zu sagen, dass ich türkisch bin. Zu dem Zeitpunkt sind wir um­gezogen und haben uns Satelliten-TV organisiert und angefangen, türkisches Fernsehen zu schauen. Als ich zu sagen begann, dass ich türkisch bin, sagte man mir, ich sei deutsch. Darauf antwortete ich, dass ich nie als Deutscher akzeptiert wurde. Integration sollte von beiden Seiten stattfinden. Deutsche verstehen Integration als Assimilation.«

Insbesondere Migranten der zweiten Generation empfinden eine große Lücke zwischen der rechtlichen, über die deutsche Staatsbürgerschaft hergestellten Integration und der sozialen Integration. Die von der AKP-Wählerschaft geäußerten Gefühle der Ausgrenzung und der mangelnden Anerkennung kommen nicht von ungefähr. Sie haben konkrete Gründe. Unter Individuen mit türkischer Abstammung sind die Arbeitslosenquoten nachweislich höher und das Bildungsniveau niedriger.76 Einem kürzlich erschienenen Bericht über Diskriminierungserfahrungen in Deutschland zufolge werden türkischstämmige Bür­ger – sowie Migranten aus Nahost und Nordafrika – im Bereich Bildung wie auch auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt stärker benachteiligt.77 Die genauen Ursachen dieser empfundenen und erlebten Diskriminierung sind schwer auszumachen, da sich der Faktor Migrationshintergrund häufig mit anderen Faktoren wie beispielsweise dem sozioökonomischen Status78 oder dem Aussehen (wie im Falle des Tragens eines Kopftuchs oder anderer Manifestationen einer spezifischen Religionszugehörigkeit) überschneidet.79 Ungeachtet dessen, verbinden viele AKP-Wähler ihre Diskriminierungserfahrungen mit ihrem religiösen Hintergrund:

»Ich hatte in der Mensa einmal ein Gespräch mit Freunden über Kindernamen. Ich habe ihnen ge­sagt, dass der Name für mich nicht so wichtig ist, solange er in meiner Religion nicht verboten ist. Da haben mir meine Freunde gesagt, ich müsse meine Einstellung ändern. Wann werde ich als vollständiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt? Wird es passieren, wenn ich die deutsche Staats­angehörigkeit erhalte? Oder wenn ich meinen Namen ändere? Oder einen Deutschen heirate? Oder dem Christentum beitrete und beginne, Schweinefleisch zu essen? Wann hören diese Reaktionen endlich auf? Wann werden wir voll­ständig akzeptiert? Als ich diese Fragen aufwarf, ant­worteten meine Freunde, das sei nicht das, was sie mit ›anpassen‹ gemeint hätten. Aber die Gespräche enden immer so. Oder wenn sie einem sagen, man solle zurückgehen. Aber ich bin hier geboren. Wo soll ich hin? ›Dahin, wo deine Eltern herkommen‹, antworten sie dann. Wenn du mich so kategorisierst, denke ich dann, warum sollte ich mich dann als deutsch bezeichnen? Du hast mich doch bereits in bestimmte Schubladen gesteckt. Warum regst du dich dann auf, wenn ich etwas sage, was diese Etiketten bestätigt, die du mir bereits aufgestempelt hast? Wenn jeder Deutscher sein soll, gibt es keine Vielfalt mehr in der Gesellschaft. Sie wollen unbedingt einen Apfelbaum in einen Birnbaum verwandeln. Ich weigere mich, das zu akzeptieren.«

Angst vor dem Verlust sozialer und politischer Errungenschaften

Ein weiterer emotionaler Faktor, der offenbar zu der Entscheidung beiträgt, die AKP zu wählen, scheint die Angst zu sein, soziale und politische Errungenschaf­ten wieder zu verlieren, die unter der AKP-Regierung erworben wurden. Wie bereits erwähnt, sind in den zwei Jahrzehnten der Einparteienregierung, die zu­nehmend autoritärer wird, die Grenzen zwischen der regierenden Partei und den staatlichen Institutionen nahezu verschwunden. Bei einigen Wählern schürt diese Wahrnehmung offenbar die Sorge, ihr Zugang zu den verbesserten Dienstleistungen und die sonsti­gen Vergünstigungen könnten wieder wegfallen, sollte die AKP an Macht einbüßen oder diese ganz abgeben müssen.80

»Die meisten in Europa, die beim Referendum mit ›Ja‹ gestimmt haben, kommen wie wir aus dem ländlichen Anatolien, wo unsere Angehörigen keinen Platz im [alten politischen und wirtschaft­lichen] System hatten. Zum Beispiel war es undenkbar, einen Universitätsabschluss zu erlangen, weil es keine Möglichkeiten dafür gab. Das ist jetzt anders. In den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren sind die Chancen gestiegen. Viele bilden sich weiter oder arbeiten. Das Wohlergehen der Gesellschaft ist gestiegen. Das ist der Grund, warum sie mit ›Ja‹ gestimmt haben.«

Insbesondere unter den politisch und ideologisch treuen Wählern hat die Angst vor einer Niederlage der AKP noch eine weitere Dimension: Sie fürchten sich vor einer Machtübernahme durch die CHP. Diese Sorge lässt sich besonders unter den Milli-Görüş-nahen Wählern beobachten, trotz des wachsenden Unbehagens und der lauten Kritik, die sie gegenüber der AKP-Politik äußern. Das liegt daran, dass die CHP oft mit stark säkularistischen Bestrebungen assoziiert wird, die auf eine Zurückdrängung religiöser Wert­haltungen aus den Bereichen Recht, Bildung und Familie und auf eine Entmachtung nicht-staatlicher religiöser Akteure in der religiösen Bildung hinauslaufen. Tatsächlich haben sich Regierungswechsel von der säkularistischen CHP zu eher religiös-kon­servativen Parteien und umgekehrt stets am stärksten auf diesem Feld ausgewirkt, so zum Beispiel nach dem Übergang zum Mehrparteiensystem 1946 und nach der Übernahme der Regierung durch die kon­servative Demokratische Partei 1950 und nach dem ersten Putsch des säkularistischen Militärs 1960. Als sich in den 1970er Jahren das Ringen um die Kon­trolle politischer Organisationen und die Mobilisierung des Islams verschärften, begannen religiöse Gemeinschaften und Bewegungen auch die Parteienlandschaft zu infiltrieren.

Im Gleichschritt mit dem weltweiten Aufschwung des politischen Islam wurden auch in der Türkei in den 1970er Jahren konservative islamistische Parteien gegründet, die mit dem Nakschibendi-Orden im Zu­sammenhang standen.81 Die AKP ist als ein Nebenprodukt aus diesen Parteien hervorgegangen, die in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren wiederholt von der Armee oder dem Verfassungsgericht aufgelöst worden waren.82 Politische Verbindungen zu religiö­sen Bewegungen und Netzwerken zu haben, war je­doch nicht auf die islamistischen Parteien beschränkt. Über Turgut Özal, den Vorsitzenden der Gerechtigkeitspartei und Minis­terpräsidenten nach dem Mili­tärputsch von 1980, ist beispielsweise bekannt, dass er Beziehungen zum Nakschibendi-Orden pflegte.83

Vor diesem Hintergrund befürchteten religiös-kon­servative Wähler, die politische Krise zwischen der Türkei und den Niederlanden in den Monaten vor dem Referendum 2017 und die Spannungen zwischen der Türkei und Deutschland könnten zu einer Schwächung der AKP in der Türkei führen und der Einfluss religiöser Kreise in Wirtschaft und Gesellschaft all­gemein und besonders in den Bildungsinstitutionen, den diese unter der AKP gewonnen hatten, könne zurückgedrängt werden.84 Darüber hinaus gab es ein paar Schlüsselereignisse, die zu einer Verlagerung der Wählermeinung zugunsten der vorgeschlagenen Verfassungsänderungen beitrugen. Da es der CHP bislang noch nicht gelungen ist, sich von dem Image einer stark säkularen Partei zu befreien, brachte die Befürchtung, dass die »CHP die Macht übernimmt, falls die AKP verliert«, viele türkische Wähler im Ausland dazu, ihre ursprünglichen Vorbehalte bei­seitezuschieben und bei dem Verfassungsreferendum mit Ja zu stimmen. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass es im Vorfeld der Wahlen 2018 innerhalb der Milli-Görüş-Bewegung – insbesondere an der Basis der Partei der Glückseligkeit – eine strategische Annäherung an die CHP gegeben hat. Angesichts der hohen Wahrscheinlichkeit, dass die AKP an ihrem autoritären Kurs festhält und dabei weiter Kritik von der islamistischen Bewegung auf sich zieht, ist sehr damit zu rechnen, dass sich eine An­näherung dieser Art fortsetzen wird.

Jenseits »mangelnder Loyalität« und »fehlender demokratischer Kultur«

Will man die Gründe für die massenhafte Unterstützung, die die AKP unter den türkischen Wählern in Deutschland genießt, verstehen, muss man über übliche Interpretationen, die das Wahlverhalten mit einer »mangelnden Loyalität gegenüber dem Wohn­sitzland« und »fehlender demokratischer Kultur« erklären, hinausgehen. Die Präferenzen der Wähler werden von unterschiedlichen Aspekten beeinflusst, zum Beispiel von der Sozialpolitik, von wirtschaft­lichen oder geopolitischen Erwägungen oder von medialen Darstellungen – ausschließlich oder auch in Kombination. Die Stimmabgabe als solche ist weder eine rein rationale noch eine rein irrationale Angelegenheit. In sie fließen materielles Kalkül und Affekte ein, Letztere insbesondere in Zeiten, in denen Politik zunehmend von Emotionen gesteuert wird.85

Und so sind es einerseits das wirtschaftliche Wachs­tum, die Verbesserungen bei der Dienstleistungs­erbringung innerhalb und außerhalb der Türkei und die forsche Rhetorik des Präsidenten Erdoğan, die die türkischen Wähler im Ausland dazu bewegen, die AKP in starkem Umfang zu unterstützen. Allerdings hätten diese Fak­toren allein nicht ausgereicht, um die Wähler in die Arme der AKP zu treiben. Auf Resonanz bei den türkischen Migranten und ihren im Ausland geborenen Kindern stießen auch die dia­sporafreundliche Politik der AKP-Regierung und der Diskurs eines starken Staates, den die Führung in Ankara pflegt. Denn die Agenda, die darin zum Aus­druck kommt, deckt sich mit den Forderungen der türkischen Communities im europäischen Ausland nach einer stärkeren Vertretung ihrer Interessen in der Türkei und einer leistungsfähigeren Organisation der Vereins- und Verbandslandschaft in Deutschland, die auch zu einer Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung der dort lebenden Migranten führen soll.

Die Frage, welchen Anteil an der Wahlentscheidung diese materiellen und emotionalen Motivationen in den verschiedenen Gruppen jeweils haben – und wie diese Motivationen mit anderen Faktoren interagieren – kann in dieser Studie nicht beantwortet werden. Wenngleich die Ergebnisse der vorliegenden Publikation auf einer heterogenen Stichprobe von Befragten aufbauen, wäre eine größere und re­präsentativere Erhebung erforderlich, um – mit einem höheren Konfidenzniveau – die relative Be­deutung dieser materiellen und emotionalen Beweg­gründe zur Unter­stützung der AKP in den verschiedenen Gruppen zu beleuchten. Im Rahmen zukünftiger Forschungsarbeiten ließen sich mittels einer solchen Untersuchung Korrelationen schaffen zwischen den Wählerpräferenzen und deren Begründung einerseits und bestimmten Faktoren wie beispielsweise dem Zeitpunkt der Ankunft, traditionellen Wahlmustern, dem rechtlichen Status, der Generationszugehörigkeit, dem Grad und der Form der Religiosität etc. andererseits.

Die Motivationen der Wähler dürfen nicht mit den Motivationen der poli­tischen Akteure gleichgesetzt werden.

Trotz der Einschränkungen, die mit der Nicht­repräsentativität der Stichprobe verknüpft sind, ver­deutlichen die Ergebnisse dieser Studie, dass die Moti­vationen der Wähler nicht mit denen der politischen Akteure gleichgesetzt werden sollten. Für die tür­kische Regierung ist die türkische Diaspora in Europa sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch von Bedeutung. Innenpolitisch kann sich die türkische Regierung bequem als Verteidiger bzw. Schutzpatron seiner »muslimischen« Bürger im Ausland und ihrer Nachkommen positionieren, was zweifelsohne zu dem Image eines »Staates und einer Nation, die stark und vereint sind«, beiträgt, was wiederum Präsident Erdoğan dabei hilft, seine Macht weiter zu konsolidieren. Außenpolitisch hat die AKP-Regierung – vor allem in den letzten Jahren – die »Bekämpfung von Islamfeindlichkeit« zum diskursiven Gerüst ihrer Bestrebungen gemacht, als Beschützerin nicht nur der türkischen Migranten und ihrer im Ausland ge­borenen Kinder, sondern der muslimischen Massen weltweit anerkannt zu werden.86

Den Schwerpunkt auf die Erhaltung des kulturellen Erbes, sprich der türkischen Sprache und der sunnitischen Identität, zu legen, ist jedoch keine Neuerung, die sich die AKP-Regierung zuschreiben kann. Bereits nach dem Militärputsch von 1980 ver­folgte Ankara eine solche Politik. Bemerkenswert hierbei ist, dass der Begriff »Islamfeindlichkeit« in den späten 2000er Jahren zum ersten Mal in den Berich­ten des Unterausschusses für Menschenrechte des türkischen Parlaments auftaucht.87 Beunruhigt über das im Jahr 2005 in Deutschland erlassene Zuwan­derungsgesetz, stellt der Unterausschuss in seinem Tätigkeitsbericht für den Zeitraum Oktober 2009 bis Oktober 2010 fest, dass »islamfeindliche, fremdenfeindliche und rassistische Tendenzen die politischen Entscheidungsträger beeinflussen. Deutschland, die Niederlande, Österreich, die Schweiz, Belgien und Frankreich haben durch Gesetzesänderungen den Familiennachzug schwieriger gestaltet.«

Nach den tödlichen Anschlägen in Norwegen im Juni 2011 durch den Rechts­extremisten Anders Breivik, der eine starke antimuslimische Gesinnung hegte, beschloss der Unterausschuss, die »Islamfeindlichkeit in Europa und in den USA sowie fremdenfeindliche und rassistische Einstellungen, Maßnahmen und entsprechende Gesetzesänderungen« zu be­obachten.88 Diese frühen Bemühungen zur Erfassung von »Islamfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus« gipfelten im Januar 2016 in der Bildung einer neuen Arbeitsgruppe im Unterausschuss, die mit der systematischen Untersuchung von »Islamfeind­lichkeit im Westen« beauftragt wurde.89 Aus dieser Tätigkeit geht ein jährlicher europäischer Islamophobie-Bericht hervor,90 der zum ersten Mal im Jahr 2015 von der AKP-nahen Stiftung für politische, wirtschaftliche und soziale Forschung (SETA) ver­öffentlicht wurde und Beiträge von international an­erkannten Experten für Islamfeindlichkeit beinhaltet. Dieser Report wird jedes Jahr im Rahmen einer inter­nationalen Veranstaltung, an der regelmäßig AKP-Politiker teilnehmen, der Öffentlichkeit präsentiert.

Zudem können – türkische und nichttürkische – Muslime in Call-Centern und bei den Konsulaten verbale und körperliche Angriffe, Belästigungen und sonstige diskriminierende Praktiken melden, die sie im Alltag erfahren. Zafer Sırakaya, einer der stell­vertretenden Leiter des Ausschusses für Außen­beziehungen innerhalb der AKP, der selbst als Sohn türkischer Eltern in Deutschland geboren wurde, er­klärte in seinem Neujahrsgruß Ende 2018:

»Europäische Staaten unternehmen nicht ge­nügend Anstrengungen zur Bekämpfung der ungerechten Behandlung, der europäische Türken bei der Ausübung ihrer Menschen- und Persönlichkeitsrechte ausgesetzt sind. Noch dramatischer ist die Lage, wenn man das Ausmaß der weltweiten Ausgrenzung von Individuen betrachtet, die dem muslimischen Glauben angehören. […] Wie bereits in den vergangenen Jahren haben wir auch im Jahr 2018 bedeutende Maßnahmen zur Bekämpfung von islamfeindlichen Einstellungen und populistischen Ängsten ergriffen, die Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung schüren. Wir werden diese Anstrengungen fortsetzen.«

Während sich die türkische Diasporapolitik vor allem auf türkische Migranten und ihre im Ausland geborenen Kinder in Europa und insbesondere in Deutschland fokussiert, ist der Diskurs der »Bekämpfung von Islamfeindlichkeit« breiter angelegt. Der Vorsitzende der Union Internationaler Demokraten (UID) Bülent Bilgi erklärte zum Beispiel in einem Interview, das im Dezember 2018 auf dem Sender Kanal Avrupa ausgestrahlt wurde, den Hintergrund für die Änderung des Namens seiner Organisation, die sich zuvor Union Europäisch-Türkischer Demokraten genannt hatte: »Es gibt nicht viele Menschen mit türkischer Abstammung außerhalb Europas. Um jene Menschen einzubeziehen, die zwar keine Türken sind, aber dennoch einen Platz in unserer emotio­nalen Geographie einnehmen, haben wir das Wort »Türkisch« aus dem Namen genommen. Zum Beispiel Bosnien: Bosnier sind keine Türken, aber die Türkei hegt Sympathien für sie.« Die starke Ausrichtung der AKP-Regierung auf die »Bekämpfung der Islamfeindlichkeit« zielt daher wohl darauf ab, eine muslimische Diaspora zu schaffen und gleichzeitig zu ver­suchen, die Türkei als Anführerin der ummah, der muslimischen Weltglaubensgemeinschaft, zu positio­nieren.91

Schlussfolgerungen und Empfehlungen

Bei den Präsidentschaftswahlen 2014 gaben im Aus­land lebende türkische Staatsbürger zum ersten Mal ihre Stimme an Wahllokalen in ihrem Wohnsitzstaat ab. Ermöglicht wurde dies durch eine Änderung des Wahlgesetzes im Jahr 2008 und weitere wahlrecht­liche Reformen im Jahr 2012. Die gesetzgeberischen Maßnahmen erfolgten im Kontext eines seit 2010 revidierten Ansatzes der Türkei für den Umgang mit türkischen Migranten und ihren im Ausland gebore­nen Kindern, in einer Zeit, in der Diasporapolitik weltweit an Bedeutung gewann. Die neue diaspora­politische Phase, die die AKP-Regierung eröffnet hat, ist bislang gekennzeichnet durch ein offenes Interesse an einer Mobilisierung der Jugend, die Schaffung neuer Behörden, die Zusammenarbeit zwischen staat­lichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren in den Bereichen Bildung, Kultur und Religion, das Be­treiben einer Public Diplomacy sowie eine breitere Konzeptionierung der Diaspora, als deren Wesensmerkmal der religiöse Zusammenhalt betrachtet wird.

Gleichzeitig findet ein innenpolitischer Richtungs­wechsel statt, bei dem ebenfalls die Religion zunehmend als wichtige Legitimationsquelle für politisches Handeln betont wird. Das recht ehrgeizige politische Programm der AKP-Regierung, die einerseits eine unabhängige und selbstbewusste Außenpolitik und andererseits eine sozial-konservative Innenpolitik verfolgt, zeugt von dem Bestreben, die türkische Gesellschaft sowohl innerhalb als auch außerhalb der Grenzen der Türkei neu zu gestalten. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, in dem populistische Diskurse, fremdenfeindlicher Nationalismus und Ängste im Zusammenhang mit religiösen und kulturellen Unterschieden in vielen Ländern weltweit, einschließlich Deutschlands, an Bedeutung gewonnen haben.

Das Interesse der türkischen Regierung an der Migrationsbevölkerung wird vermutlich auch in Zu­kunft fortbestehen. Auch an ihrem stark identitäts­bezogenen Ansatz wird sie wahrscheinlich festhalten, trotz der Limitierungen, die sich für den Handlungsspielraum der türkischen Führung durch die rasante Verschlechterung der Beziehungen zu ihren west­lichen Partnern und durch den Konflikt in Syrien er­geben. Hinzu kommt, dass die AKP-Regie­rung durch die voraussichtliche Verschärfung der Wirtschafts­krise unter Druck geraten und sich der Bedarf an Rücküberweisungen erhöhen wird. Ankara hat be­reits politische Maßnahmen ergriffen, um den Fluss von Rücküberweisungen in die Türkei zu erleichtern. So wurden beispielsweise durch eine Gesetzesände­rung im Jahr 2017 im Ausland lebende Bürger und Inhaber einer Blauen Karte beim ersten Kauf einer Wohn- oder Gewerbeimmobilie von der Mehrwertsteuerpflicht befreit, sofern die Transaktion in frem­der Währung erfolgt.92 Außerdem gelten im Ausland lebende türkische Staatsbürger, die in der Türkei investieren möchten, seit 2003 als »ausländische Investoren«, womit sie in den Geltungsbereich des Gesetzes über ausländische Direktinvestitionen fallen.93

Obwohl es wahrscheinlich ist, dass das Interesse der AKP-Regierung und Präsident Erdoğans an den Migranten und ihren im Ausland geborenen Kinder bestehen bleiben wird, sollte nicht davon ausgegangen werden, dass der umfassende Einfluss des türki­schen Staates auf seine Bürger im Ausland automatisch fortbesteht. Die Situation ist weitaus komplexer. Zunächst hat sich bei den Wahlen 2018 mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten dafür entschieden, nicht wählen zu gehen. Unter denen, die sich für eine Teil­nahme entschieden haben, blieb das Wahlverhalten heterogen. Wie in dieser Studie dargelegt, sind es offenbar sozioökonomische Mobilität und Statusangst, die – sei es aufgrund des Gefühls einer man­gelnden Anerkennung in Deutschland oder aufgrund der Sorge vor einer Machtübernahme durch das säkulare politische Lager in der Türkei – die Stimm­präferenzen der AKP-Wähler bestimmen. Wenngleich eine breit angelegte repräsentative Erhebung erforder­lich wäre, um generalisierbare Schlussfolgerungen ziehen zu können, lässt sich aus den Befragungen, die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegen, be­reits folgern, dass die Begründungen für eine Stimm­abgabe zugunsten der AKP zwischen den Generationen variieren.

Politische Entscheidungsträger sollten zudem nicht übersehen, dass die Einmischung der türkischen Regierung in das Leben ihrer Bürger unter den Adres­saten dieser Politik für wachsendes Unbehagen sorgt. Das jüngste Beispiel dafür ist der geschlossene Rück­tritt des Vorsitzenden und des gesamten Vorstands der DITIB in Niedersachsen. Der Landesverband be­klagte sich über die Einmischung von Seiten sowohl der DITIB-Zentrale in Köln als auch des türkischen Religionsattachés.94 Ähnliche Beschwerden über »zu viel Einmischung« wurden sogar von einigen Wäh­lern geäußert, die sonst der AKP-Politik und der Rhetorik von Präsident Erdoğan wohlgesonnen gegenüberstehen. All dies legt nahe, dass die poli­tische Einstellung türkischer Migranten und ihrer in Deutschland geborenen Kinder nicht reduktionistisch mit einer »Loyalität gegenüber der Türkei« und einem »Mangel an demokratischer Kultur« erklärt werden sollten. Die Dynamiken der politischen Meinungs­bildung sind wesentlich komplexer und erfordern daher entsprechend komplexe Antworten.

So ist es zuallererst wichtig, zwischen den syste­matischen Bemühungen der türkischen Regierung, türkische Migranten und ihre im Ausland geborenen Kinder für ihre innen- und außenpolitischen Zwecke zu instrumentalisieren, und den Forderungen der Migranten zu differenzieren. Letztere lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen: Recht auf politische Interessenvertretung und Recht auf gleichwertige Anerkennung. Zwar ist es in Zeiten eines zunehmenden Populismus und einwanderungsfeindlicher Ansichten in Deutschland und anderenorts nicht einfach, diesen Forderungen nachzukommen; aber der Spielraum für die Gestaltung und Umsetzung angemessener politischer Maßnahmen ist gleichwohl ausreichend groß. Als essentieller und entscheidender erster Schritt sollte türkischen Migranten und ihren in Deutschland geborenen Kindern das Wahlrecht bei Kommunalwahlen eingeräumt werden. Durch die Ausweitung des Rechts auf politische Interessen­vertretung würden Politiker nicht nur einer lang­jährigen Forderung türkischer Verbände in Deutschland nachkommen; die Maßnahme würde auch dazu beitragen, dass sich bei den türkischen Migranten und ihren Kindern in Deutschland ein Gefühl der Zugehörigkeit und Akzeptanz entwickelt.

Allerdings sollte das Thema der politischen Repräsen­tation nicht ausschließlich auf das Wahlrecht verengt werden. Migrantenverbände sind einfluss­reiche Akteure im Bereich der Interessenvertretung von Migranten. Angesichts des wachsenden Einflusses des türkischen Staates in diesem Bereich sollte insti­tutionelle Autonomie in besonderem Maße gefördert werden. Diese Aufgabe ist nicht leicht und erfordert behutsames Vorgehen, um die Community nicht von sozialen und kulturellen Netzwerken zu isolieren. Ein gutes Beispiel für einen solchen Balance­akt ist die jüngste Entscheidung Hessens, die Zusammenarbeit mit der DITIB bei der Erteilung von Religionsunterricht auszusetzen, bis die Organisation ihre institutio­nelle Unabhängigkeit von Diyanet in der Türkei und der DITIB-Zentrale in Köln ausreichend belegt hat. Der hessische Beschluss enthält auch die Bestimmung, dass an Schulen, die bereits islamischen Religionsunterricht in Kooperation mit DITIB Hessen angeboten haben, ab dem neuen Schuljahr ein neues religiöses Bildungsangebot ab der 7. Jahrgangsstufe getestet wird.95 Dieses neue Programm richtet sich speziell an Schüler muslimischen Glaubens und wird in alleiniger Verantwortung des Bundeslands um­gesetzt. Das hessische Vorgehen hat so einerseits das Potential, DITIB zu größerer institutioneller Unabhän­gigkeit von türkischen Regierungsinstitutionen zu bewegen, und ist andererseits ganz allgemein eine Probe aufs Exempel, auf jegliche Zusammen­arbeit mit Einrichtungen zu verzichten, die von der Türkei ab­hängig sind.

Nicht zuletzt sollten politische Akteure von ausgrenzenden Diskursen gegen den Islam und praktizierende Muslime absehen. In einer hochgradig säkularisierten Gesellschaft wie Deutschland können soziale Programme, die darauf ausgerichtet sind, praktizierende Muslime mit nicht-praktizierenden Mitgliedern in einen Dialog zu bringen, zum Aufbau gesellschaftlichen Vertrauens beitragen. Zu diesem Zweck sollte die Kooperation mit überparteilichen Migrantenvereinigungen gefördert werden.

Abkürzungen

ADÜTDF

Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu (Türkisch-Demokratische Idealisten­vereine in Deutschland e.V.)

AKP

Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung)

BAMF

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

CHP

Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volks­partei)

DITIB

Diyanet İşleri Türk İslam Birliği (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.)

HDP

Halkların Demokratik Partisi (Partei der Völker)

IGMG

Islamische Gemeinschaft Milli Görüş

MHP

Milliyetçi Hareket Partisi (Partei der Nationalis­tischen Bewegung)

OECD

Organisation for Economic Co-operation and Development

PKK

Partiya Karkerên Kurdistanê (Kurdische Arbeiter­partei)

SETA

Siyaset Ekonomi ve Toplum Araştırmaları Vakfı (Stiftung für politische, wirtschaftliche und soziale Forschung)

TBMM

Türkiye Büyük Millet Meclisi (Große National­versammlung der Türkei)

UID

Union Internationaler Demokraten

VIKZ

Verband Islamischer Kulturzentren

YTB

Yurtdışı Türkler ve Akraba Topluluklar Başkanlığı (Amt für Auslandstürken und verwandte Gemeinschaften)

Endnoten

1

 Vgl. Thomas Krumm, Germany’s Turkish Voters – What Do We Know?, Istanbul: Turkish-German University, 2018.

2

 Von den mehr als sechs Millionen türkischen Staats­bürgern, die außerhalb der Türkei leben, sind rund 5,5 Mil­lionen in Westeuropa ansässig, vgl. Republic of Turkey, Ministry of Foreign Affairs, Turkish Citizens Living Abroad, <http://www.mfa.gov.tr/the-expatriate-turkish-citizens.en.mfa> (Zugriff am 1.12.2018).

3

 Vgl. Migrationsbericht 2015, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Dezember 2016, <https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/
Migrationsberichte/migrationsbericht-2015.pdf?__blob=publicationFile
> (Zugriff am 1.12.2018).

4

 Vgl. Christoph Sydow, »Debatte über den Doppelpass – das sind die Fakten«, Der Spiegel (online), 5.8.2016, <http://www.spiegel.de/politik/deutschland/deutschtuerken-doppelte-staatsbuergerschaft-das-sind-die-fakten-a-1106363.html> (Zugriff am 5.12.2018).

5

 Yurdakul weist darauf hin, dass in Deutschland bereits vor den Anwerbeabkommen eine kleine Anzahl türkischer Arbeitskräfte in der Transportbranche tätig war, Gökçe Yurdakul, From Guest Workers into Muslims: The Transformation of Turkish Immigrant Associations in Germany, Newcastle: Cam­bridge Scholars Publishing, 2009, S. 24.

6

 Vgl. Türkiye İş Kurumu Genel Müdürlüğü (İŞKUR)/
Generaldirektion der Arbeitsagentur der Türkei, Dünden Bugüne – Gestern und Heute, 1964–2011, Ankara 2011, <https://media.iskur.gov.tr/21271/dundenbuguneiskur.pdf> (Zugriff am 1.12.2018).

7

 Ebd.

8

 Yurdakul, From Guest Workers into Muslims [wie Fn. 5], S. 38.

9

 Yaşar Aydın, The New Turkish Diaspora Policy. Its Aims, Their Limits and the Challenges for Associations of People of Turkish Origin and Decision-makers in Germany, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Oktober 2014 (SWP Research Paper 10/2014).

10

 Für Zahlen zu der auf den Staatsstreich folgenden Säuberungsaktion siehe »Turkey’s Post-coup Crackdown«, Turkey Purge (online), 4.4.2019, <https://turkeypurge.com/
?fbclid=IwAR1tBi_JQ87xWbec1GqHQSr9BT4V1fjCMMdH8FnLHylJupkbr28Qkdr4uSg
> (Zugriff am 10.12.2018).

11

 »Spurning Erdogan’s Vision, Turks Leave in Droves, Draining Money and Talent«, in: New York Times, 2.1.2019, <https://www.nytimes.com/2019/01/02/world/europe/turkey-emigration-Erdoğan.html> (Zugriff am 13.2.2019).

12

 Vgl. Türkiye Büyük Millet Meclisi (TBMM), İnsan Hakla­rını İnceleme Komisyonu [Große Nationalversammlung der Türkei, Unterausschuss für Menschenrechte], 23. Sitzungs­periode, 1. und 2. Jahresbericht zur Gesetzgebung, 4. August 2007–1. Oktober 2008 [Türkisch], November 2008 <www.tbmm.gov.tr/komisyon/insanhaklari/belge/Komisyon_
Faaliyet_Raporu.pdf
> (Zugriff am 1.12.2018).

13

 Diese Organisationen sind zum größten Teil Kaffee­häuser, die als Vereine eingetragen (e.V.) sind. Die landsmannschaftlichen Organisationen, die vornehmlich von Männern geführt und frequentiert werden, spielen weiterhin eine wichtige Rolle bei der Sozialisierung türkischer Migranten, vgl. Yurdakul, From Guest Workers into Muslims [wie Fn. 5], S. 34.

14

 Yurdakul, From Guest Workers into Muslims [wie Fn. 5], S. 34. In dieser Studie liegt das Augenmerk auf Vereinigungen, die eine Bindung an den türkischen Staat haben. Jen­seits dessen ist die Vereins- und Verbandslandschaft noch weitaus vielfältiger.

15

 Alynna J. Lyon/Emek M. Uçarer, »Mobilizing Ethnic Con­flict: Kurdish Separatism in Germany and the PKK«, in: Ethnic and Racial Studies, 24 (2001) 6, S. 925–948.

16

 Günter Seufert, »Die Türkisch-Islamische Union der türkischen Religionsbehörde (DİTİB): Zwischen Integration und Isolation«, in Günter Seufert/Jean Jacques Waardenburg (Hg.), Turkish Islam and Europe, Istanbul/Stuttgart 1999, S. 261–293. Zur deutsch-türkischen Kooperation zur Ein­schränkung des politischen Islams vgl. auch Behlul Ozkan, »Cold War-era Relations between West Germany and Turkish Political Islam: From an Anti-communist Alliance to a Domestic Security Issue«, in: Southeast European and Black Sea Studies, 19 (2019) 1, S. 31–54.

17

 Demir Küçükaydın, In Erinnerung an jene, die fortgingen [Türkisch], Istanbul 2013.

18

 Yurdakul, From Guest Workers into Muslims [wie Fn. 5], S. 38.

19

 Nastasja Steudel, »The Lobby behind Turkey’s Prime Minister«, Deutsche Welle, 21.5.2014, <www.dw.com/en/the-lobby-behind-turkeys-prime-minister/a-17652516> (Zugriff am 10.12.2018).

20

 »›Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹«, in: Süddeutsche Zeitung, 17.5.2010, <www.sueddeutsche.de/politik/erdogan-rede-in-koeln-im-wortlaut-assimilation-ist-ein-verbrechen-gegen-die-menschlichkeit-1.293718> (Zugriff am 23.4.2019).

21

 »Präsident Erdoğan erhielt ein Kriter-Bild als Geschenk« [Türkisch], Kriter, Februar 2017, <https://kriterdergi.com/
siyaset/cumhurbaskani-erdogana-kriter-kapakli-tablo-hediye-edildi
> (Zugriff am 23.4.2019).

22

 Alexander Fröhlich, »Erdogans Abwehreinheit gegen liberale Muslime in Berlin«, in: Der Tagesspiegel, 4.4.2019, <www.tagesspiegel.de/berlin/tuerkisches-institut-erdogans-abwehreinheit-gegen-liberale-muslime-in-berlin/24184860.html> (Zugriff am 23.4.2019).

23

 Damla B. Aksel, »Engaging Turkey’s Emigrants«, in: Research Turkey (London: Centre for Policy and Research on Turkey), 5 (2016) 11, S. 6–14.

24

 Kerem Öktem, Turkey’s New Diaspora Policy: The Challenge of Inclusivity, Outreach and Capacity, Istanbul: Istanbul Policy Center, August 2014.

25

 Aksel, »Engaging Turkey’s Emigrants« [wie Fn. 23]. »Euro-Türken« wurde in den 1990er Jahren ebenfalls zu einem beliebten Begriff; vgl. auch Aydın, The New Turkish Diaspora Policy [wie Fn. 9], S. 9.

26

 Zeynep Şahin Mencütek/Bahar Baser, »Mobilizing Dias­poras: Insights from Turkey’s Attempts to Reach Turkish Citizens Abroad«, in: Journal of Balkan and Near Eastern Studies, 20 (2018) 1, S. 86–105.

27

 Auf die Berichte (auf Türkisch) kann über folgenden Link zugegriffen werden: <www.tbmm.gov.tr/komisyon/
insanhaklari/index.htm
> (Zugriff am 20.11.2018).

28

 Eva Østergaard-Nielsen, Transnational Politics: Turks and Kurds in Germany, London: Routledge, 2003.

29

 Mencütek/Baser, »Mobilizing Diasporas« [wie Fn. 26], S. 92.

30

 Mathias Rohe, Gutachten zum Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen in Hessen in Kooperation mit DİTİB Landes­verband Hessen e.V. nach Art. 7 Abs. 3 GG, Erlangen, 27.10.2017, S. 18–38, <https://www.hessen.de/sites/default/files/media/
prof._dr._mathias_rohe_-_islamwissenschaftliches_
gutachten_ditib_hessen_fuer_hkm_2017.pdf
> (Zugriff am 1.12.2018); vgl. auch Matthias Kortmann/Kerstin Rosenow-Williams (Hg.), Islamic Organizations in Europe and the USA: A Multidisciplinary Perspective, London: Palgrave Macmillan, 2013.

31

 Vgl. Rohe, Gutachten zum Religionsunterricht [wie Fn. 30], S. 22.

32

 Vgl. Yurdakul, From Guest Workers into Muslims [wie Fn. 5], S. 89.

33

 Vgl. TBMM, İnsan Haklarını Inceleme Komisyonu Başkanligi [Große Nationalversammlung der Türkei, Vorsitz der Kommission für Menschenrechte], Tätigkeitsbericht 1. März 1991–31. August 1992 [Türkisch], <www.tbmm.gov.tr/
komisyon/insanhaklari/docs/21dnm/mart1_1991_
agustos30_1992.pdf
> (Zugriff am 1.12.2018), S. 60–70.

34

 Ebd.

35

 Francesco Ragazzi, »A Comparative Analysis of Diaspora Policies«, in: Political Geography, 41 (2014), S. 74–89.

36

 »Mittlerweile operieren drei Organisationen unter dem Dach des Ministeriums für Tourismus und Kultur« [Türkisch], TRT Haber, 15.7.2018, <https://www.trthaber.com/
haber/gundem/kultur-ve-turizm-bakanligina-uc-yeni-kurulus-baglandi-375391.html
> (Zugriff am 23.4.2019).

37

 Yurtdışı Türkler ve Akraba Topluluklar Başkanlığı (YTB), Aktivitätsbericht der Verwaltung, 2017 [Türkisch], Ankara 2018, <https://ytbweb1.blob.core.windows.net/files/documents/2017_FAAL__YET_RAPORU_Digital.pdf> (Zugriff am 23.4.2019).

38

 Aydın, The New Turkish Diaspora Policy [wie Fn. 9].

39

 »Menschenrechte und universelle Werte lassen sich nicht auf die Grenzen eines Landes beschränken!« [Türkisch], in: Perspektif, 236 (Dezember 2014), S. 38–41. Perspektif ist das Monatsmagazin der IGMG.

40

 YTB, Aktivitätsbericht der Verwaltung, 2017 [wie Fn. 37], S. 40–47.

41

 »In vier deutschen Städten werden Familienattachés eingesetzt« [Türkisch], in: Hürriyet, 12.3.2017.

42

 »Können Mütter im Ausland Unterstützung für die Geburt beantragen?« [Türkisch], Diaspora Haber, 16.7.2018.

43

 Vgl. Türkiye Cumhuriyeti Dışişleri Bakanlığı [Außen­ministerium der Republik Türkei], Einführung und Nutzung der Blauen Karte als Ersatz für die Rosa Karte [Türkisch], o.D., <www.mfa.gov.tr/mavi-kart-_eski-pembe-kart_
-uygulamasi-.tr.mfa
> (Zugriff am 10.12.2018).

44

 YTB, Aktivitätsbericht der Verwaltung, 2017[wie Fn. 37], S. 50–51.

45

 Ebd., S. 44–45.

46

 Ebd., S. 42–43.

47

 TV-Sender Kanal Avrupa, 13.10.2018, Sendung »Perspektive« [Türkisch], TV-Debatte mit Tamer Cansız, Generalsekretär der UID, und Gönül Eğlence, Vorstandssprecherin von Bündnis 90/Die Grünen in Essen, <www.youtube.com/
watch?v=EBs2L-WRte0
> (Zugriff am 10.12.2018).

48

 Änderung des Wahlgesetzes, Gesetz Nr. 5749 vom 13.3.2008, unter <www.resmigazete.gov.tr/eskiler/2008/03/
20080322M1-3.htm
> (Zugriff am 27.5.2019). Vgl. auch Zeynep Şahin Mencütek/Seyma Akyol Yılmaz, Turkey’s Ex­perience with Voting from Abroad in the 2014 and 2015 Elections, Washington, D.C.: Rethink Institute, Oktober 2015 (Rethink Paper 24), S. 3.

49