Jump directly to page content

Diplomatie im Kontext des russischen Überfalls auf die Ukraine

Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln

SWP-Aktuell 2023/A 56, 23.10.2023, 8 Pages

doi:10.18449/2023A56v02

Research Areas

Direkte Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Krieg Russlands gegen die Ukraine brachen bereits nach wenigen Monaten ab. Heute versuchen Moskau und Kyjiw, durch diplomatische Initiativen den internationalen Kontext des Krieges in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die russische Kriegsdiplomatie zielt darauf ab, den »kollektiven Westen« auf globaler Ebene zu schwächen. Dies soll dazu beitragen, dass die externe Unterstützung für die Ukraine zum Erliegen kommt. Die Ukraine arbeitet darauf hin, Russland zu isolieren. Derweil setzt Russland seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg fort. Deutschland und seine Partner müssen die Ukraine weiter mili­tärisch stärken, um künftige Waffenstillstandsverhandlungen überhaupt erst zu ermöglichen.

Im Herbst 2023 werden die Rufe nach Frie­densverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland wieder lauter. Wer eine solche pauschale Forderung vorbringt, verkennt allerdings die Dynamik des bisherigen Ver­handlungsverlaufs ebenso wie das kom­plexe Geflecht diplomatischer Prozesse, das sich seit Februar 2022 im Kontext des rus­sischen Angriffskriegs gegen die Ukraine entwickelt hat.

Krieg und Verhandlungen

Wie in jeder anderen militärischen Aus­einandersetzung wird auch in diesem Krieg das Feld der diplomatischen Aktivitäten von der Dynamik auf dem Schlachtfeld bestimmt. Beide Parteien kämpfen darum, sich im Hinblick auf ihre Kriegs­ziele einen günstigen »militärischen Ausgangshorizont« für Verhandlungen zu verschaffen. Russ­land strebt weiter danach, den unabhän­gigen ukrainischen Staat durch Besatzung und Zerstörung zu vernichten. Die Ukraine will genau dies durch die Befreiung der besetzten Gebiete und die Abwehr des russischen Luftkriegs verhindern.

Der Krieg hat bislang mehrere Phasen durchlaufen, die jeweils den Rahmen für Aktivitäten auf der diplomatischen Ebene absteckten. Die erste Kriegsphase reichte vom Einmarsch der russischen Streitkräfte im Februar 2022 bis zum Ende der ersten ukrainischen Gegenoffensive im Herbst 2022. Der rasche russische Ein- und Vor­marsch erweckte zunächst den Anschein einer überwältigenden Überlegenheit der angreifenden Seite. Angesichts der starken ukrainischen Gegenwehr mussten die russi­schen Streitkräfte im April jedoch die Be­lagerung Kyjiws und die Nordfront auf­geben. Moskau konzentrierte seine Truppen fortan im Osten und Süden der Ukraine. Dort konnten die ukrainischen Streitkräfte im Zuge ihrer ersten Gegenoffensive zwi­schen August und November 2022 bedeu­tende Gebiete befreien. Putin proklamierte daraufhin im September 2022 die Annexion der nur teilweise russisch besetzten ukrai­nischen Gebiete Donezk, Luhansk, Sapo­rischschja und Cherson. Er kündigte außer­dem eine Teilmobilmachung an.

Diese russischen Maßnahmen beendeten eine Phase, in der es vergleichsweise inten­sive Kontakte zwischen den Kriegsparteien gegeben hatte. Zu Beginn der Vollinvasion verhandelte die ukrainische Seite aus einer Position der existentiellen Bedrohung her­aus. Ende März bot sie im sogenannten Istanbuler Kommuniqué weitreichende uni­laterale Konzessionen an. Kyjiw signalisierte seine Bereitschaft zu dauerhafter Neutra­lität und zu bilateralen Verhandlungen über den Status der Krim im Laufe von 15 Jahren. Der Prozess wurde vom türki­schen Präsidenten Erdoğan moderiert. Er endete aus vier Gründen im Mai 2022 in einer Sackgasse: Moskau zeigte kein Inter­esse an den ukrainischen Vorschlägen und beharrte auf seinen maximalen Kriegs­zielen (1). In dem Maße, wie die ukrainische Gegenwehr Wirkung zeigte (2), fand sich eine internationale Unterstützungskoalition zusammen, die die ukrainischen Streit­kräfte durch Waffenlieferungen weiter ertüchtigte (3). Die Aufdeckung horrender Kriegsverbrechen in den Gebieten, die Russ­land bis Anfang April besetzt hatte, ließ in der Ukraine die gesellschaftliche Unter­stützung für Kompromisse mit Moskau auf den Nullpunkt sinken (4).

Im Juli 2022 vermittelten die Türkei und die Vereinten Nationen eine ukrainisch-russische Einigung über die teilweise Auf­hebung der russischen Seeblockade im Schwarzen Meer. Im Rahmen der sogenann­ten Black Sea Grain Initiative (BSGI) konnte die Ukraine ihre Getreideexporte, wenn auch in viel geringerem Umfang als vor dem Krieg, wieder aufnehmen. Es gelang indes nicht, aus dem diplomatischen Teil­erfolg eine positive Dynamik für andere Ver­handlungen, beispielsweise über die Sicher­heit des Kernkraftwerks Saporischschja, abzuleiten – ganz zu schweigen von einer Rückkehr zu Waffenstillstandsgesprächen. Die vertraglich festgelegten regelmäßigen Verlängerungen der BSGI gerieten vielmehr zu einem Drahtseilakt für die Vermittler, weil Moskau immer wieder drohte, seine Zustimmung zu entziehen. Russland nutzte außerdem seine Inspektionsrechte, die mit der BSGI verknüpft waren, um die ukraini­schen Ausfuhren immer weiter zu verlang­samen.

Russlands proklamierte Annexion der ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson am 30. Sep­tember 2022 markierte eine Zäsur im Hin­blick auf bilaterale Friedensverhandlungen. Denn Moskau fordert seit September 2022, Kyjiw müsse die »Zugehörigkeit« nicht nur der Krim, sondern auch der anderen (teil­weise) besetzten Territorien zum russischen Staatsgebiet anerkennen, bevor Friedens­gespräche aufgenommen werden können. Außen­minister Sergej Lawrow hat diese Position im September 2023 folgender­maßen zusammengefasst: »[…] wir sind bereit, uns zu einigen, auf der Grundlage der Realitäten vor Ort und unserer […] In­ter­essen. Auch unsere Sicherheitsinteressen müssen berücksichtigt und die Entstehung eines Nazi-Regimes an unserer Grenze muss verhindert werden; ein Regime, das sich offen zum Ziel gesetzt hat, alles Russische auf der Krim und in Noworossija zu ver­nichten.« Der Versuch, durch Annexionen neue, noch weiterreichende Tatsachen in den entscheidenden Territorialfragen zu schaffen, blockiert seitdem alle Bemühungen um Frieden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj untersagte Anfang Oktober 2022 per Dekret weitere Verhandlungen mit Wladimir Putin.

Auf die erste ukrainische Gegenoffensive und die russische Eskalation folgte von November 2022 bis Mai 2023 eine Phase des Stellungskriegs. Russland versuchte, aus der Luft die Energieinfrastruktur in der Ukraine zu zerstören und so den Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung zu brechen. Die Kriegsparteien kämpften unter hohen Verlusten an Menschen und Material um einzelne Orte entlang der Frontlinie. Zum Symbol dieses Abnutzungskriegs wurde die Schlacht um Bachmut. Die Front­linie ver­änderte sich kaum.

Im Juni 2023 begannen die ukrainischen Streitkräfte ihre zweite Gegenoffensive (Phase 3). Sie trafen nun auf wesentlich stär­kere Verteidigungslinien, weshalb ihnen keine Gebietsgewinne gelangen, die mit denen des Vorjahrs vergleichbar gewesen wären. Neben Vorstößen auf die besetzten Ge­biete im Osten und Süden greift das ukrainische Militär die Nachschublinien der russischen Besatzungstruppen auf der Krim an. Eine der Reaktionen Russlands auf die Offensive war mit hoher Wahrscheinlichkeit die Sprengung des Kachowka-Stau­damms am 6. Juni 2023. Moskaus Ausstieg aus dem Getreideabkommen am 18. Juli 2023 sollte ebenfalls in diesem Kontext ge­sehen wer­den. Danach bombardierte die russische Luftwaffe gezielt ukrainische Hafenanlagen und Getreidespeicher an der Schwarzmeerküste und im Donaudelta, um ukrainische Getreideexporte weiter zu er­schweren. Wie im Vorjahr reagierte Moskau auf die ukrai­nische Offensive nicht mit konventioneller oder gar nuklearer mili­tärischer Eskalation. Stattdessen – und umso brutaler – zielt die russische Krieg­führung darauf ab, neben der Verteidigungs­fähigkeit auch die Lebensgrundlagen der ukrainischen Gesellschaft zu zerstören und so den Widerstandswillen der Menschen zu brechen. Die massenhafte Deportation von Männern, Frauen und Kindern, die Zer­störung von lebenswichtiger Infrastruktur, Folterungen, Morde, Vergewaltigungen und Unterdrückung in den besetzten Gebieten lassen ebenfalls auf genozidale Intentionen schließen. Russland will die Teile der Ukraine, die sie nicht militärisch unter­werfen kann, in einen failed state verwandeln. Das Putin-Regime hat also die Mittel seiner Kriegführung den (für die russischen Streit­kräfte unerwartet ungünstigen) mili­tärischen Bedingungen in dem Nachbarland angepasst. An seiner Absicht, die Ukraine als unabhängigen Staat zu zerstören, hält es unbeirrt fest. Die Kämpfe werden voraussichtlich im Spätherbst 2023 wieder an Dynamik verlieren. Nach Teilerfolgen der ukrainischen Truppen im September und Oktober 2023 bleibt offen, wo genau die Frontlinie dann verlaufen wird.

In der zweiten und dritten Phase des Krieges blieben direkte Kontakte zwischen den Konfliktparteien auf humanitäre Fragen und insbesondere auf Gefangenenaustausche beschränkt. Diese finden, teil­weise vermittelt durch Drittstaaten, weiter­hin statt. Die Verständigung hat jedoch enge Grenzen. So laufen ukrainische For­derungen nach der Rückgabe entführter Kinder fast vollständig ins Leere. Gespräche über ein Ende der militärischen Auseinandersetzung und eine Friedenslösung finden derzeit nicht statt. Die grundsätzlichen Positionen des russischen Aggressors und der angegriffenen Ukraine haben sich extrem weit voneinander entfernt. Beide Seiten konzentrieren sich nun darauf, internationale Unterstützung für sich zu mobilisieren.

Russland: Selbsterklärter »Führer der antikolonialen Bewegung«

Die russische politische Elite lebt schon lange in dem Glauben, der »kollektive Wes­ten« führe einen Krieg gegen Russland. Die Ukraine wird, auch nach anderthalb Jahren erbitterten und erfolgreichen Widerstands, nicht als eigenständige Akteurin betrachtet. In den Augen Moskaus ist und bleibt sie Anhängsel und Marionette Washingtons. Mit dieser Sicht auf das Nachbarland ver­bindet sich die Erwartung, dass die USA Kyjiw in absehbarer Zeit zu einem Waffen­stillstand mit Gebiets­abtretungen an Russ­land zwingen werden. Moskau setzt hier auf den Faktor Zeit und seine Möglich­keiten, politische Krisen in den westlichen Demokratien zu verstärken. Auch das wiederholte Drohen mit einer nuklearen Eskalation ist Teil dieser Strategie. Die rus­sische Kriegsdiplomatie zielt außerdem auf die Isolation und Schwächung des Westens im internationalen System. Sie wendet sich seit 2022 zunehmend an die Staaten des Globalen Südens und knüpft an anti­kolo­niale, anti-interventionistische und anti­westliche Narrative in den Gesellschaften Afrikas, Lateinamerikas und Asiens an.

Das Antikolonialismus-Narrativ tauchte in der russischen Rhetorik im Sommer 2022 auf. Nach dem Abschluss der BSGI erhob Moskau den Vorwurf, die EU-Staaten be­hielten in »typisch kolonialer« Manier den größten Teil des ukrainischen Getreides für sich, statt ihn mit den besonders von Hunger bedrohten Staaten Afrikas zu teilen. Bei seinem Auftritt vor dem Waldai-Klub im Oktober 2022 behauptete Wladimir Putin, das westliche Globalisierungsmodell sei nichts weiter als die Fortführung des euro­päischen Kolonialismus. Dabei bedrohe die westliche Wertedekadenz die Grundlagen traditioneller Zivilisationen in Afrika, Asien, Lateinamerika (und eben auch Russ­land). Putin erklärte: »Wir hatten immer sehr gute Beziehungen mit Afrika [...]. Diese einzigartigen Beziehungen wurden in den Jahren geformt, als die Sowjetunion und Russland die afrikanischen Staaten in ihrem Freiheitskampf unterstützten«.

Außen­minister Lawrow unternahm seit Sommer 2022 zahlreiche Reisen, um sich der Sympathien von Regierungen im Glo­balen Süden zu versichern. Internationale Gipfeltreffen wie das der Shanghaier Orga­nisation für Zusammenarbeit (4. Juli 2023), der Russland-Afrika-Gipfel in St. Petersburg (27. bis 28. Juli 2023) oder der Gipfel der BRICS-Staaten (22. bis 24. August 2023) beweisen aus russischer Perspektive, dass der Einfluss des Westens schwindet und Russland sich in der neu entstehenden Multipolarität auf die Unterstützung von Großmächten wie China, Indien, Brasilien und anderen verlassen kann. Im neuen Krieg zwischen Israel und der palästinen­sischen Terrororganisation Hamas im Oktober 2023 versucht Russland, sich als Vermittler zu positionieren – nicht ohne den Hinweis, der Krieg sei eine Folge der gescheiterten Nahostpolitik der USA.

Allerdings musste Moskau auch Rückschläge hinnehmen. So waren beim Russ­land-Afrika-Gipfel in St. Petersburg im Juli 2023 zwar 49 afrikanische Staaten vertreten. Es erschienen aber nur 17 Staats- und Regie­rungschefs, im Gegensatz zu 43 beim ersten Tref­fen dieser Art 2019. Der Ausstieg Russ­lands aus dem Schwarzmeer-Getreide­abkommen nur wenige Tage vor der Zusam­menkunft wirkte sich spürbar negativ auf die Gesprächsatmosphäre aus. Die Gipfelvorbereitungen waren vom diplomatischen Tauziehen um Putins Teilnahme überschattet. Am Ende konnte er selbst nicht nach Johannesburg reisen, weil sich die südafrikanische Regierung an den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gebunden sah.

Ukraine: Internationalisierung der Kriegsdiplomatie

Die Ukraine änderte im Herbst 2022 ihre Strategie auf dem diplomatischen Parkett. Beim G20-Gipfel in Indonesien am 15. No­vem­ber 2022 stellte Präsident Selenskyj seine »Friedensformel« in zehn Punkten vor. Sie ist der zweite ukrainische Vorschlag zur Beendigung des Krieges, unterscheidet sich aber grundlegend vom Istanbuler Kom­muniqué vom März 2022. Letzteres ging aus direkten ukrainisch-russischen Gesprä­chen hervor und war als Vertragsentwurf zwischen den beiden Kriegsparteien an­gelegt. Die Ukraine stand damals unter großem militärischem Druck und bot weit­reichende Konzessionen an.

Die Friedensformel hingegen richtet sich nicht mehr an Russland, sondern an die internationale Gemeinschaft. Sie soll die ukrainische Position erklären, diese an re­levante globale Themen (Ernährungskrise, Klimawandel und Umweltzerstörung, Ener­giekrise) anschlussfähig machen und die internationale Solidarität mit der Ukraine stärken. Der Plan enthält keine Kompromiss­vorschläge, sondern Bedingungen, die aus ukrainischer Perspektive erfüllt sein müssen, bevor es zur Unterzeichnung eines Friedens­vertrags kommen kann. Dazu zählen der vollständige Rückzug der russischen Streit­kräfte, die Rückkehr aller Deportierten, die strafrechtliche Verfolgung der begangenen Kriegsverbrechen und Reparationen.

Die Ukraine fordert seit dem Beginn der russischen Vollinvasion internationale Sicherheitsgarantien. Das Istanbuler Kom­muniqué schloss Russland noch in die Gruppe der möglichen Garantiestaaten ein. Mit dem Fortschreiten des Krieges schwand jedoch die Bereitschaft Kyjiws, diese Option weiter in Erwägung zu ziehen. Im September 2022 veröffentlichte die ukrainische Präsidialadministration ein Konzept für künftige internationale Sicherheitsgarantien für die Ukraine (Kyiv Security Compact). Das Dokument sieht eine rechtlich bindende Kombination aus bilateralen und multilateralen Verträgen vor, in die die Ukraine, eine Kerngruppe von westlichen Garantiestaaten und eine breitere inter­nationale Unterstützergruppe eingebunden sein sollen. Russland taucht in dem Papier nur noch als Aggressor auf. Im Fokus des Plans steht keine Beistandsregelung wie im Artikel 5 des Nato-Vertrags. Stattdessen geht es um den Ausbau der ukrainischen Fähigkeiten, künftige russische Angriffe abzuschrecken und, wenn nötig, abzuwehren. Zu diesem Zweck sollen die Garantiemächte laut Kyiv Security Compact massiv in das ukrainische Verteidigungsbudget und in die Rüstungsindustrie des Landes investieren, Waffen, Luftabwehrsysteme und Hochtechnologien liefern und sich an der Ausbildung der ukrainischen Streit­kräfte beteiligen.

Selenskyjs Zehnpunkteplan bildet seit dem Herbst 2022 die Grundlage für die ukrainische Diplomatie. Die Forderung nach Sicherheitsgarantien ist aus Kyjiws Perspektive eine logische Ergänzung der Friedensformel: Im Angesicht der russischen Vernichtungsintention ist ein Waffenstill­stands- oder gar Friedensvertrag auch nach der Befreiung der besetzten Territorien nur denkbar, wenn die Sicherheit der Ukraine durch starke internationale Garantien ge­währleistet ist.

Auch Kyjiw legt bei seinem Werben für die beiden Initiativen einen Schwerpunkt auf den Globalen Süden und hier insbesondere auf die Länder Afrikas. Außenminister Kuleba besuchte den Kontinent bereits drei­mal seit dem Beginn der russischen Voll­invasion. Die Ukraine plant die Eröffnung neuer Botschaften in afrikanischen Haupt­städten. Im Herbst 2022 rief sie das huma­nitäre Programm »Grain from Ukraine« ins Leben, in dessen Rahmen ukrainisches Getreide an Länder geliefert wird, deren Bevölkerung in besonders starkem Maße von Unterernährung bedroht ist. Laut ukrainischem Außenministerium haben bis Juni 2023 170.000 Tonnen ukrainischen Getreides Somalia, Äthiopien, Kenia und Jemen erreicht. Auch dieses Programm versucht Russland durch die Aufkündigung der BSGI zu sabotieren. Putin kündigte beim Russland-Afrika-Gipfel im Juli 2023 an, sein Land werde seinerseits kostenfrei Getreide an afrikanische Staaten liefern.

Kyjiw wird in seinen diplomatischen Be­mühungen von Deutschland und anderen westlichen Partnern unterstützt. Am 23. Juni 2023 kamen in Kopenhagen die Sicherheitsberaterinnen und ‑berater der Führungsspitzen Brasiliens, Dänemarks, Deutschlands, der EU, Frankreichs, Groß­britanniens, Indiens, Italiens, Japans, Kana­das, Saudi-Arabiens, Südafrikas, der Türkei und der Vereinigten Staaten zusammen, um Selenskyjs Friedensformel zu diskutieren. Die dänische Regierung hatte sich bereit­erklärt, gemeinsam mit der Ukraine (ver­treten durch Selenskyjs Sicherheitsberater Andrij Jermak) als Gastgeberin zu fungieren. Ziel Kyjiws war es, den von Selenskyj im Zusammenhang mit der Friedensformel an­gekündigten internationalen Friedensgipfel auf den Weg zu bringen und möglichst viele Staaten in dieses Format einzubinden. Zum nächsten Treffen dieser Art lud die saudi-arabische Führung gemeinsam mit der Ukraine am 5. und 6. August 2023 nach Dschidda ein. Diesmal waren über vierzig Staaten vertreten, darunter erstmals auch China. Die Teilnehmenden einigten sich darauf, die Beratungen in Arbeitsgruppen zu den einzelnen Punkten der ukrainischen »Friedensformel« fortzuführen. Die dritte internationale Zusammenkunft zur Frie­dens­formel soll am 28. und 29. Oktober in Malta stattfinden. Die ukrainische Führung treibt die Friedensformel auch mit den diplomatischen Vertretungen in Kyjiw voran. Laut dem Büro des ukrainischen Präsidenten nahmen zu­letzt über siebzig Botschafterinnen und Botschafter an die­sem Prozess teil.

Im Vorfeld des Nato-Gipfels in Vilnius am 11. und 12. Juli 2023 warb Kyjiw in den Hauptstädten des Bündnisses intensiv für seine Beitrittsambitionen und für Sicherheitsgarantien. Die Gipfelerklärung enthielt erneut die grundsätzliche Zusage, die Ukraine aufzunehmen; konkrete Aussagen über den Zeitpunkt eines Beitritts oder über längerfristige Sicherheitsgarantien fanden sich allerdings nicht darin. Die G7-Staaten kündigten in Vilnius an, mit Kyjiw bilate­rale und multilaterale »security commitments« formal fixieren zu wollen. Washington und Kyjiw nahmen Anfang September 2023 als Erste Gespräche dazu auf.

Internationale Vermittlungsinitiativen

Die lange Dauer und die globalen Aus­wirkungen des Krie­ges haben unterschiedliche Akteure mit Friedensinitiativen auf den Plan gerufen. Bislang blieben alle er­folglos.

Türkei: In der ersten Phase des Krieges etablierte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan als einflussreichster Mediator. Erdoğan war 2022 der einzige Staatschef, der einen stabilen Zugang zu den politischen Führungen beider Konfliktparteien, vor allem aber zu Wladimir Putin hatte, um einen Gesprächsprozess zu lan­cieren. Diese Position begründete seine Rolle bei den Verhandlungen über einen Waffenstillstand zwischen Februar und Mai 2022 und, mit Unterstützung der VN, über die BSGI im Juni/Juli 2022. Gleichwohl zeigt das Scheitern sowohl der Friedensverhandlungen als auch des Getreideabkommens, wie begrenzt Erdoğans Möglichkeiten waren. Die proklamierten Annexionen im September 2022 verengten den Spielraum des türkischen Staatschefs weiter. Trotz­dem konnte er Wladimir Putin Ende Oktober 2022 noch davon abbringen, das Getreideabkommen aufzukündigen.

Im Sommer 2023 war der türkische Präsi­dent dazu nicht mehr in der Lage. Für die Türkei hatte sich die Situation seit Jahres­beginn dramatisch verändert. Das katastrophale Erdbeben im Februar 2023 stellt das Land vor immense humanitäre und wirt­schaftliche Herausforderungen. Erdoğan sucht deshalb seit den Präsidentschafts­wahlen im Mai 2023 wieder verstärkt An­schluss an den Westen. In der Hoffnung auf westliche Finanzhilfen und Investitionen nahm er im Juli 2023 sein Veto gegen den Nato-Beitritt Schwedens zurück. Er ließ Offiziere des ukrainischen Asow-Regiments, die sich nach einem russisch-ukrainischen Gefangenenaustausch in der Türkei auf­gehalten hatten, in die Heimat ausreisen und sprach sich gar für einen Nato-Beitritt der Ukraine aus. Diese Schritte stießen in Moskau auf Verärgerung. Ein Treffen der beiden Präsidenten in Sotschi am 4. Sep­tember 2023 brachte keine Reaktivierung des Getreideabkommens. Möglicherweise insistierte der türkische Präsident in dieser Frage auch deshalb nicht, weil Aserbaid­schans Militäreinsatz zur Rückeroberung Berg-Karabachs bevorstand. Ankara und Baku setzten hier auf russische Zurück­haltung – vor allem auch im Hinblick auf die Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus der Exklave.

China legte am 24. Februar ein »Positions­papier« vor, dessen 12 Punkte jedoch vage blieben. Der Text enthält zwar ein Bekennt­nis zum Prinzip der territorialen Integrität und zur Ablehnung der Drohung mit dem Ein­satz von Nuklearwaffen. Das chinesische Dokument ist aber der russischen Position sehr viel näher als der ukrainischen.

Ende April 2023 ernannte die chinesische Regierung den Diplomaten Li Hui zum Sonderbeauftragten für die Beilegung des Krieges. Li besuchte seitdem Moskau, Kyjiw und verschiedene europäische Hauptstädte. Seine Anwesenheit bei dem internationalen Treffen in Dschidda im August 2023 wurde von der Ukraine und ihren Unterstützern als Erfolg gewertet. Doch China tariert seine Politik weiter sehr sorgfältig aus. Die diplo­matischen und sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen Peking und Moskau sind seit Februar 2022 äußerst eng. Die Teil­nahme von Li Hui am Dschidda-Treffen war umrahmt von anderen hochrangigen Regie­rungskontakten, um in Moskau keinesfalls den Eindruck eines Kurswechsels aufkommen zu lassen.

Afrikanische Friedensinitiative: Mitte Juni 2023 reiste eine Delegation aus Regierungschefs und anderweitigen Repräsentanten von sieben afrikanischen Staaten (Ägypten, Komoren, Republik Kongo, Sambia, Senegal, Südafrika und Uganda), angeführt vom süd­afrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa, nach Kyjiw und Moskau. Ramaphosa stellte in Kyjiw einen Zehnpunkteplan vor, dem jedoch beide Kriegsparteien mit Zurück­haltung begegneten. Der afrikanischen Initiative folgten zunächst keine weiteren Schritte. Südafrika und andere afrikanische Staaten beteiligen sich am Prozess zur ukrainischen Friedensformel.

Brasilien: Weitere Vorstöße gingen in den vergangenen Monaten von Brasiliens Präsi­dent Lula da Silva und von der indonesischen Regierung aus. Sie blieben ohne konkrete Folge­aktivitäten. Lula kündigte beim Treffen der BRICS in Johannesburg an, er werde 2024 zum BRICS-Gipfel nach Russ­land reisen und hoffe, Putin danach in Brasilien begrüßen zu können. Der Inter­nationale Strafgerichtshof, dessen Statut Brasilien unterzeichnet hat, wäre in diesem Fall hochgradig kompromittiert.

Vatikan: Papst Franziskus ernannte im Mai 2023 den italienischen Kardinal Matteo Zuppi zum Sondergesandten für den Krieg in der Ukraine. Die angespannten Beziehun­gen zur Russisch-Orthodoxen Kirche lassen jedoch daran zweifeln, dass der Vatikan auf Moskau irgendwelchen Einfluss ausüben kann. Ob Zuppi sich mit Putins »Kinderrechtsbeauftragter« Maria Lwowa-Belowa die richtige Partnerin für Gespräche über humanitäre Probleme ausgesucht hat, ist ebenfalls fraglich. Denn auch gegen Lwowa-Belowa läuft wegen der massenhaften De­portation von ukrainischen Kindern ein Haftbefehl des IStGH. Russlandfreundliche Äußerungen des Papstes haben dem An­sehen des Vatikans in der Ukraine zuletzt schwer geschadet.

Saudi-Arabien: Saudi-Arabien ist der vor­erst letzte Spieler, der das Feld der inter­natio­nalen Vermittler betreten hat. Riad moderierte 2022 bereits einen Gefangenen­austausch zwischen Russland und der Ukraine. Die Ausrichtung des Dschidda-Treffens zur ukrainischen Friedensformel fügt sich in die außenpolitischen Ambitionen der saudischen Führung ein. Riad strebt nach einer Rolle als geopolitischer Mediator in der Region und darüber hinaus. Wie andere internationale Anlässe instrumen­talisiert es den russischen Krieg gegen die Ukraine, um seinen Ruf als menschenrechts­verletzendes Gewaltregime hinter sich zu lassen. Der Krieg gefährdet außerdem die Stabilität auf den Ölmärkten und damit wichtige saudische Wirtschaftsinteressen. Bei der Vorbereitung des Treffens in Dschid­da konnte sich Saudi-Arabien auf seine guten Kontakte zu beiden Konfliktparteien, zu China sowie zu anderen wichtigen Stakeholdern im Globalen Süden stützen.

Fazit

Russland führt seinen auf Vernichtung der Ukraine zielenden Krieg weiter. Das Putin-Regime zeigt keine Bereitschaft zu Kompromissen, obwohl es weit davon entfernt ist, seine Ziele zu erreichen. Moskau spielt auf Zeit: Die politische Führung glaubt weiter­hin, die Ukraine militärisch erschöpfen und die internationale Unterstützung für Kyjiw zersetzen zu können.

Ziel dieser Strategie scheint es zu sein, den Krieg ungefähr entlang der jetzigen Frontlinie einzufrieren. Die Ukraine, so das wahrscheinliche russische Kalkül, würde in diesem Fall politisch und militärisch ent­scheidend geschwächt. Russland hingegen könnte die Pause nutzen, um sich neu auf­zustellen und seine Destabilisierungspolitik gegenüber dem Nachbarland weiterzuführen – perspektivisch gegebenenfalls auch in Form eines neuen Kriegs.

Die Ukraine hat nach dem endgültigen Ende jeder Aussicht auf bilaterale Waffenstillstandsgespräche im Frühherbst 2022 eine neue diplomatische Strategie ent­wickelt. Der politischen Führung um Präsi­dent Selenskyj ist es ge­lungen, über die Friedensformel mit einer wachsenden An­zahl von Staaten in Kontakt zu treten und dadurch Einfluss auf die internationale Debatte zu gewinnen. Dem stehen die rus­sischen Bemü­hungen auf dem inter­natio­nalen Parkett gegenüber. Es ist offen, wer diesen »Kampf der Narrative« am Ende ge­winnt. Das Ziel der Ukraine und ihrer west­lichen Unterstützer, Russland international mög­lichst weitgehend zu isolieren, ist wichtig. Den Krieg entscheiden werden jedoch andere Faktoren.

Denn ob Waffenstillstandsverhandlungen wahrscheinlich oder möglich werden, bleibt ausschließlich vom Verlauf des Krie­ges abhängig. Die Ukraine muss in die Lage versetzt werden, einen für sich günstigen militärischen Ausgangshorizont für Ver­hand­lungen herzustellen – mit anderen Worten, der russischen Seite so erhebliche Niederlagen auf dem Kriegsschauplatz zu­zufügen, dass sich das Kosten-Nutzen-Kal­kül des Putin-Regimes (oder von signifikanten Teilen der russischen Elite) ändert. Erst dann werden auch internationale Vermittlungsbemühungen greifen können. Wenn Deutschland und andere internationale Partner diesen Verlauf sicherstellen wollen, müssen sie ihre militärische Unterstützung entschlossen fortsetzen und ausbauen.

Zu einem günstigen Ausgangshorizont für künftige Verhandlungen gehört außer­dem die Gewährleistung der ukrainischen Sicherheit über den aktuellen heißen Krieg hinaus. Westliche Regierungen, einschließlich der Biden-Administration in den USA, aber auch der deutschen Bundesregierung, tun sich schwer mit Kyjiws Vorstellungen von Sicherheitsgarantien und einem kon­kreten Zeithorizont für den Beitritt der Ukraine zur Nato. Beides sollte – auch in den öffentlichen Debatten – viel stärker mit einer künftigen Verhandlungslösung in Verbindung gebracht werden. Das Putin-Regime hat seit 2014 alle internationalen Verträge und Vereinbarungen mit der Ukraine gebrochen und führt seit zwanzig Monaten einen Krieg mit genozidaler Inten­tion gegen das Nachbarland. Vertrauen in Vereinbarungen mit Moskau ist für die Menschen in der Ukraine ausgeschlossen. Ohne verlässliche Garantien für die ukrai­ni­sche Sicherheit, die auch das russische Kal­kül beeinflussen, wird es keine Verhandlungen und keine Einigung geben können.

Deutschland und andere Partner sollten die Ukraine weiter bei ihren Bemühungen unterstützen, Russland international zu isolieren. Sie müssen mit Beharrlichkeit der russischen Politik und antiwestlichen, ver­meintlich antikolonialen Narrativen im Globalen Süden entgegentreten. Das Thema Lebensmittelknappheit ist hier von beson­derer Bedeutung. Die Ukraine sollte darin unterstützt werden, die Getreideexporte über das Schwarze Meer auch nach dem Ende der BSGI fortzuführen. Das gilt auch für das »Grain from Ukraine«-Programm, zu dem die westlichen Staaten einen eigenen Beitrag leisten könnten. Formate wie der diplomatische Prozess zur ukrainischen Friedensformel können außerdem genutzt werden, um mit möglichst vielen inter­nationalen Akteuren über die Ursachen des Krieges und Wege zu seiner Beendigung sowie über Sinn und Zweck der westlichen Sanktionen ins Gespräch zu kommen.

Die Ukraine nähert sich dem zweiten Kriegswinter. Das erneute Aufflammen des Konflikts im Nahen Osten lenkt derzeit politische Aufmerksamkeit ab und könnte im Falle einer weiteren Eskalation zu einer Verknappung militärischer Ressourcen auf Seiten des Westens führen. Die Grund­konstanten des russischen Krieges gegen die Ukraine haben sich indes nicht geändert: Für aussichtsreiche Verhandlungen muss die Ukraine militärisch wesentlich gestärkt und Russland wesentlich geschwächt werden.

Dr. Sabine Fischer ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2023

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN (Print) 1611-6364

ISSN (Online) 2747-5018