Die vorgezogenen Parlamentswahlen in Serbien werden von vielen externen Beobachtern als Votum für einen EU-Beitritt gewertet. Warum dies eine Fehleinschätzung ist und worum es bei der Abstimmung tatsächlich ging, erklärt Dušan Reljić im Interview.
Kurz gesagt, 28.04.2016 Research AreasDušan Reljić
Die vorgezogenen Parlamentswahlen in Serbien werden von vielen externen Beobachtern als Votum für einen EU-Beitritt gewertet. Warum dies eine Fehleinschätzung ist und worum es bei der Abstimmung tatsächlich ging, erklärt Dušan Reljić im Interview.
Mit den vorgezogenen Parlamentswahlen wollte sich der amtierende Ministerpräsident Vučić ein klares Votum der Bevölkerung für den EU-Integrationskurs einholen. Ist ihm das gelungen?
Dušan Reljić: Das kann man so nicht sagen. Es ist keine Besonderheit von Vucics Fortschrittspartei (SNS), proeuropäisch zu sein, sondern eine derzeit noch überwiegende Grundstimmung in Serbien. Etwa 85 Prozent der Stimmen gingen, wie früher, an Parteien, die sich für den EU-Beitritt Serbiens aussprechen. Das Besondere ist, dass nur acht Prozent von Vučićs Wählern ein Hochschuldiplom besitzen, 40 Prozent hingegen haben nur einen Volksschulabschluss, die Hälfte von Vučićs Wählern verwendet kein Internet. Deren Weltbild wird vom staatlichen Fernsehen und anderen Medien, die der Premier kontrolliert, geprägt. Eine Mehrheit von Vučićs Wählern war kaum in der Lage, sich mit den Wahlprogrammen oder der Frage zu beschäftigen, wie gut oder schlecht der EU-Beitrittsprozess für Serbien ist
Worum ging es bei dieser Wahl dann?
Dem Premier ging es darum, sich abzusichern, dass ihn die Bevölkerung bei den anstehenden schmerzhaften wirtschaftspolitischen Eingriffen unterstützt. Er muss aufgrund der Forderungen des Internationalen Währungsfonds Subventionen an staatliche Betriebe kürzen und die öffentliche Verwaltung verschlanken. Sonst droht der Anstieg des staatlichen Schuldenbergs in einem »griechischen« Finanzdesaster zu enden. Die bevorstehende neue Welle von Sparmaßnahmen könnte etwa 50.000 Menschen um ihren Arbeitsplatz bringen. In einem Land mit einer Arbeitslosenquote von rund zwanzig Prozent, in dem der Lebensstandard seit Jahren fällt, ist das politisch hochriskant.
Wie erklären Sie sich die große Unterstützung angesichts dieser unpopulären Reformen?
Vučić hat versprochen dafür zu sorgen, dass der Lebensstandard der Menschen sich endlich verbessert. Objektiv ist das bisher nicht der Fall, noch immer liegt der durchschnittlich Lohn bei 350 Euro. Trotzdem haben viele Menschen nach wie vor Vertrauen in Vučić, mehr als in die anderen Kandidaten, und deshalb haben sie ihn gewählt. Es ging um seine Person, nicht um das Programm der Partei und nicht um ein Votum für oder gegen die EU. Die Demokratische Partei (DS) des früheren Präsidenten Boris Tadić und andere bürgerlichen Kräfte haben in ihrer Regierungszeit der Jahre 2000 bis 2012 große Fehler gemacht, besonders indem sie Korruption geduldet und versäumt haben, die Wirtschaft im Eiltempo zu modernisieren. So haben sie Vertrauen verspielt. Gleichzeitig hatten sie im Wahlkampf auch nicht die gleichen Chancen wie die Fortschrittspartei.
Inwiefern?
Vučić und seine Partei haben ihren Zugang zu staatlichen Ressourcen für den Wahlkampf dreist genutzt, etwa indem sie medienwirksam unzählige angeblich neue Fabriken eröffnet oder andere potemkinsche Dörfer besucht haben. Die Medien, die größtenteils von Vučićs Partei kontrolliert werden, haben außerdem die Opposition ignoriert und durchweg verleumdet. Davon abgesehen scheint es auch Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der abgegebenen Stimmen gegeben zu haben, weshalb die Opposition eine Neuauszählung fordert.
Trotz dieser fragwürdigen Praktiken erhält Vučić viel Unterstützung aus dem Westen. Warum?
In der Tat: Letzte Woche hat Gerhard Schröder Belgrad besucht. Auch Alfred Gusenbauer, der ehemalige österreichische Kanzler, und Franco Frattini, der ehemalige italienische Außenminister, haben Vučić unterstützt. Im Westen herrscht die Überzeugung vor, dass nur Vučić in der Lage ist, die Region zu stabilisieren. Er ist sehr geschickt darin, sich kooperativ im Verhältnis zu anderen Staaten des Westbalkans darzustellen, von friedlichen Lösungen und seinem Bemühen um den EU-Beitritt zu sprechen. Aber seine Rhetorik richtet sich in einem Satz an den Westen, im nächsten an das national-konservativen Spektrum zuhause, dem er zusichert, auch »patriotische« Ziele weiterzuverfolgen. Vučić hat sich, wie die meisten politischen Führer auf dem Westbalkan in den letzten zwanzig Jahren, darin geübt, dem eigenen Wahlvolk das eine und dem Ausland das andere zu vermitteln.
Wie könnte sich der Wahlsieg der Fortschrittspartei innenpolitisch auswirken?
Vučićs Regierungsstil ist autoritär und populistisch. Er gibt große Versprechungen und konzentriert immer mehr Macht auf seiner Person. Das war schon unter seinen Vorgängern so, aber nun ist diese Tendenz wesentlich ausgeprägter. Es gibt zwei Möglichkeiten: Die Tatsache, dass es im Parlament bunter geworden ist, könnte dafür sorgen, dass sich die Gewaltenteilung stärker durchsetzt. Das dürfte zunächst zu Spannungen führen, idealerweise aber auch die politische Kultur verbessern. Die andere Möglichkeit ist, dass die Regierung noch repressiver wird. Vučić hat nach dem Wahltag betont, dass er bunte Revolutionen in Serbien nicht zulassen, dass er sich dem Druck der Straße nicht beugen werde. Ausdrücklich hat er auf die Proteste der Opposition in der Ukraine und Makedonien als negative Beispiele hingewiesen. Das gibt Anlass zur Sorge.
Wie wahrscheinlich ist eine solche »bunte Revolution«?
Demonstrationen der Opposition sind nicht unwahrscheinlich, falls es in Folge einer möglichen Neuauszählung der Wahlstimmen zu einem anderen Verhältnis im Parlament kommen sollte, das besser für die Fortschrittspartei ist. Das könnte passieren, falls Oppositionsparteien, die nur knapp über der Fünf-Prozent-Hürde lagen, nun darunter rutschten.
Wie ist es um den EU-Beitrittsprozess in Serbien bestellt?
Die Kriterien, die die EU-Kommission setzt, sind auch für Serbien zu schaffen. Der Knackpunkt ist allerdings das Verhältnis zu Kosovo. Dreiundzwanzig EU-Staaten haben Kosovo anerkannt, fünf nicht. Belgrad beharrt darauf, dass zumindest völkerrechtlich Kosovo Teil Serbiens bleibt, Pristina verlangt die volle Souveränität, einschließlich der UNO-Mitgliedschaft. Die EU-Kommission formuliert einen Bedingungskatalog für das Verhältnis zwischen Belgrad und Pristina, der nicht zu erfüllen sein wird, so lange beide Seiten dieses Thema als Nullsummenspiel betrachten und sich nicht aufeinander zu bewegen. Schließlich muss man auch sagen, dass die EU im Augenblick so sehr mit den eigenen Problemen, vor allem mit der Flüchtlingsproblematik beschäftigt ist, dass die Erweiterungspolitik nicht mehr auf der Prioritätenliste steht. Und in dem Augenblick, in dem die EU ihre Erweiterungspolitik nicht sonderlich überzeugend vorantreibt, hat sie auch weitaus weniger Einfluss auf die Beitrittsländer.
Das Interview führten Nicola Habersetzer und Candida Splett von der Online-Redaktion.
Der Text ist auch bei EurActiv.de erschienen.
Beitrag zu einer Sammelstudie 2015/S 20, 24.11.2015, 60 Pages, pp. 51–55
Under the auspices of the EU, Belgrade and Pristina have signed new agreements on how to further normalise their relations.
Die wirtschaftliche Lage im Westbalkan ist verheerend, die EU-Beitrittsperspektive nur noch wenig glaubwürdig. Die Teilnehmer der Westbalkan-Konferenz Ende August sollten daher Investitionsprogramme beschließen, anstatt erneut nur Worthülsen zu verbreiten, meint Dušan Reljić.