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Die Frage der Gemeinschaftskompetenzen aus deutscher und französischer Sicht

Arbeitspapier 36, 15.08.2002, 3 Pages

Zusammenfassung

Wer macht was in Europa, wer soll für was verantwortlich sein? Wo sind die Grenzen der Befugnisse der Europäischen Union gegenüber den Mitgliedstaaten und gegenüber dem Bürger? Die Erklärung von Laeken sucht nach einer präziseren Abgrenzung der Kompetenzen im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip. Es geht um die Verteilung und Begrenzung der Macht in der Europäischen Union, zugleich aber auch um den Erhalt von Handlungsspielräumen für Mitgliedstaaten, ihre Länder, Regionen und Bürger.

Die nationalen Debatten um diese zentralen Verfassungsfragen Europas haben in Deutschland und Frankreich unterschiedliche Intensität, Akzente und Motive. In Deutschland liegt der Ursprung der Sorge der Länder darin, die für ihre Existenz und Legitimität essentiellen politischen Handlungsspielräume zu verlieren. In Frankreich dagegen bestehen Bedenken bezüglich der Übertragung des deutschen föderalen Modells auf die Union einerseits, und die Sorge um die Erhaltung der nationalen Souveränität andererseits. In beiden Ländern verbindet sich die Debatte mit der Überzeugung, dass es um die Kernfrage einer europäischen Verfassung geht und das Ziel vor allem mehr Klarheit und Rechtssicherheit sein muss. Gemeinsam ist dabei auch das Votum für eine Systematik der der Union zugewiesenen Kompetenzen mit der Unterscheidung zwischen ausschließlichen, geteilten/konkurrierenden, Koordinierungs-/ Ergänzungskompetenzen etc. Ein Kompetenzkatalog nach deutschem Muster steht indessen nicht mehr zur Debatte. Überlegungen zu einer prozeduralen Abstützung der Kompetenzabgrenzung, sei es durch den Europäischen Gerichtshof , sei es durch ein neues Kompetenz- bzw. Verfassungsgericht, sei es durch ein eher politisch / parlamentarisches Kontrollgremium gibt es in gleicher Weise in beiden Ländern.

Trotz aller Definitionsprobleme und alternativen Ordnungsmodelle erscheint es auf dieser Grundlage möglich, eine Kompetenzordnung zu entwerfen, die im Rahmen eines die drei Säulen der EU verschmelzenden Verfassungs(vertrags-)textes das geltende Recht vereinfachend zusammenfasst und zugleich präzisiert. Es beruht auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und folgenden Strukturprinzipien:

  • In Anlehnung an das geltende Recht werden bestimmte Kategorien der Recht-setzungskompetenzen unterschieden und in einem einführenden Kapitel jeweils mitsamt den zur Verfügung stehenden Handlungsinstrumenten definiert.
  • Diesen Kategorien werden die betreffenden Politikbereiche zugeordnet, wobei die Handlungsbefugnisse und ihre Grenzen in einer gegenüber dem geltenden Recht stark vereinfachten Form und Sprache beschrieben werden.
  • Besondere Regeln gelten für die Handlungs- bzw. Beschränkungsverbote und Harmonisierungskompetenzen, die sich auf die Herstellung und das Funktionieren des Binnenmarktes und die Sicherung des Wettbewerbs beziehen.
  • Für den Vollzug des europäischen Rechts wird die grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten festgelegt, wobei spezielle Exekutiv- oder Konkretisierungsbefugnisse der EU (Kommission) einer ausdrücklichen Ermächtigung bedürfen.

Mit der so erreichten Systematisierung der Kompetenzzuweisungen unabdingbar verbunden wäre die politische Absicherung des Handlungsspielraums der Mitgliedstaaten bei der Ausübung der der Union zugewiesenen Kompetenzen gemäß dem Subsidiaritätsprinzip sowie die Klärung der Frage, was mit den sehr differenzierten Bestimmungen des geltenden Vertragsrechts zu den einzelnen Politikbereichen geschehen soll. Zu letzterem wird übereinstimmend empfohlen, das bislang geltende Vertragsrecht, soweit es der neuen Verfassung nicht widerspricht als "Organgesetz" weiter in Geltung zu halten. Organgesetze müssten im Rang zwischen Verfassung und Sekundärrecht stehen und der Abänderung mit qualifizierter Mehrheit des Rates und Zustimmung des Europäischen Parlaments unterworfen sein.

Geteilt sind die Meinungen über den Vorschlag, die politische Kontrolle der Subsidiarität und der Einhaltung der Kompetenzgrenzen durch den europäischen Gesetzgeber einem Parlamentarischen Subsidiaritätsausschuss zu übertragen. Hat er neben der Rechtskontrolle durch den EuGH eine Funktion? Ist eine - präventive - Rechtskontrolle durch den EuGH vorzugswürdig? Sollten in ihm auch die Länder/Regionen vertreten sein? Der Vorschlag eines Klagerechts der Regionen zum EuGH in Fällen möglicher Eingriffe in die ihnen vorbehaltenen Kompetenzen dürfte dabei noch am wenigsten kontrovers sein. Dasselbe gilt umgekehrt für die Erhaltung der für die Integration nötigen Flexibilität durch die Beibehaltung der Kompetenzen nach Art. 95 und 308 EGV. Dass hier eine Präzisierung im Sinne der Rechtsprechung nützlich wäre, ist nicht bestritten, ob hiermit Harmonisierungsmaßnahmen zur Herstellung der Wettbewerbsgleichheit ausgeschlossen oder ausdrücklich erfasst sein sollen, ist zu klären. Nur aufgeworfen sind auch die Fragen einer stärkeren Einbeziehung der Regionen in den Entscheidungsprozeß der Union, sowie schließlich der Flankierung der Sachkompetenzen der Union durch eine fiskalische Zuständigkeit und vor allem finanzielle Verantwortlichkeit der Union gegenüber dem Bürger für die von ihr veranlassten Kosten (europäische Steuer).

I. Die nationalen Kompetenzverteilungsdebatten

A. Analyse der Entwürfe und Vorschläge aus Deutschland

Die am weitesten entwickelten Positionen zur Frage der Kompetenzverteilung stammen in Deutschland von einer Forschungsgruppe der Bertelsmann-Stiftung (1), von einer von W. Schäuble und R. Bocklet geleiteten Studiengruppe (26. November 2001) (2) sowie vom Bundesrat (3) aus seiner Sitzung vom 20. Dezember 2001. Eingegangen wird auch auf die Vorstellungen der Friedrich-Ebert-Stiftung (4). Die wissenschaftlichen Beiträge beschränken sich, wie es sich gehört, auf allgemeine und abstraktere Überlegungen (5).

1. Vorschläge der Bertelsmann-Forschungsgruppe

Nach dem Vorschlag der Bertelsmann-Forschungsgruppe sollte das Prinzip der Kompetenzzuweisung (1) zugunsten eines Systems kategorisierter Kompetenzen aufgegeben werden, das für Bürger und Politiker transparenter und verständlicher wäre. Diese Kompetenzkategorien wären:

Zur Sicherung der Kompetenzausübung unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips wäre diese Kategorisierung der Kompetenzen jedoch nicht ausreichend. Zur Lösung dieses Problems wird eine bessere Verteilung der Befugnisse zwischen den Organen der Union und eine Vereinfachung der Entscheidungsverfahren vorgeschlagen. Das Mitentscheidungsverfahren, in dem der Grundsatz der qualifizierten Mehrheit gilt, sollte in den der ausschließlichen, der gemeinsamen und der ergänzenden Zuständigkeit unterliegenden Politikbereichen zur Anwendung kommen, für den Bereich der Koordinierung der Politik der Mitgliedstaaten sollte die Entscheidung einstimmig getroffen und die Mitwirkung der Kommission und des Europäischen Parlaments stärker begrenzt werden. Für den Verfassungssektor wäre die Ratifizierung durch die nationalen Parlamente erforderlich. Schließlich wird vorgeschlagen, bestimmte Handlungsinstrumente bestimmten Kompetenzkategorien vorzubehalten: Gesetze und bindende Beschlüsse kämen in Bereichen, die der ausschließlichen und der gemeinsamen Zuständigkeit unterliegen, zur Anwendung; Rahmengesetze, Empfehlungen und finanzielle Fördermaßnahmen würden für Sektoren mit ergänzender Zuständigkeit gelten, Empfehlungen und Berichte für die Koordinierungsbereiche.

Diese neue Systematik scheint die Zuständigkeiten zu klären, allerdings erscheint die Aufgabe des Prinzips der Kompetenzzuweisung nur schwer vorstellbar. Dieses scheint auch gar nicht erforderlich zu sein, im Gegenteil, die Zuständigkeiten müssen weiterhin "zugewiesen" bleiben, dieses aber in einer geänderten Ordnung. Dieses scheint für einen Vertrag mit Verfassungscharakter von wesentlicher Bedeutung, denn jede Verfassung zeichnet sich dadurch aus, dass neben der Schaffung von Institutionen und der Gestaltung von Entscheidungsverfahren den einzelnen Institutionen Kompetenzen zugewiesen und diese im Verhältnis zu den (Grund)Rechten der Bürger genau definiert werden.

Zudem scheint die Hauptfrage, die der ganzen Übung zu Grunde liegt, durch die Vorschläge der Bertelsmann Forschungsgruppe nicht gelöst: Der schrittweise Verlust von politischer Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten wird sich weder durch eine einfache Neugestaltung der Systematik der zugewiesenen Kompetenzen noch durch die vorgeschlagenen (und im übrigen unerlässlichen) institutionellen Reformen begrenzen lassen.

2. Die Vorschläge der CDU-CSU Arbeitsgruppe (Schäuble / Bocklet)

Die Vorschläge der Arbeitsgruppe um W. Schäuble und R. Bocklet basieren ganz ausdrücklich auf dem Grundsatz der zugewiesenen Zuständigkeiten. Wie diejenigen der Bertelsmann Forschungsgruppe sehen sie Zuständigkeitskategorien wie z.B. ausschließliche Zuständigkeiten vor. Die Gesetzgebung bildet den Rahmen für zusätzliche Maßnahmen. Es wird die Notwendigkeit einer besseren Systematik der Handlungsformen betont, je nachdem ob es sich um Regelung/Harmonisierung, gegenseitige Anerkennung, Ergänzung, Förderung, Koordinierung und (verwaltungsmäßiger) Vollzug handelt. Die Arbeitsgruppe Schäuble / Bocklet fordert, die Richtlinie auf ein Rahmengesetz zurückzuführen, das von den anderen Handlungsinstrumenten Verordnung, Beschluss, Stellungnahme und Empfehlung klar unterschieden wäre. Sie stellt fest, dass weder die Vertragsziele noch die Querschnittsklauseln (z.B. Artikel 6 EG-Vertrag) eine eigenständige Ermächtigung zum Handeln begründen. Die Gruppe fordert weiterhin, dass die der Union in den Generalklauseln wie denen des Artikels 95 EG-Vertrag und des für überflüssig gehaltenen Artikels 308 EG-Vertrag übertragenen Befugnisse besser eingegrenzt werden. Um den über die Struktur- und Kohäsionsfonds ausgeübten politischen Einfluss zu begrenzen, wird vorgeschlagen, diese durch einen "Solidaritätsfonds" zu ersetzen, aus dem Netto-Transferleistungen an die ärmsten Mitgliedstaaten geleistet werden. Aus denselben Beweggründen heraus wird vorgeschlagen, den Begriff der staatlichen Beihilfen eng zu fassen und den Mitgliedstaaten einen Freiraum für ihre Regionalpolitik zu garantieren sowie das Recht - vorbehaltlich einer Missbrauchskontrolle - selbst frei zu entscheiden, was zum Bereich der Daseinsvorsorge zählt.

Wie etliche Autoren vor ihr sieht die Arbeitsgruppe Schäuble / Bocklet die Schaffung einer besonderen Spruchkammer beim Europäischen Gerichtshof vor, die im Falle von Kompetenzstreitigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten entscheidet. Nationale Verfassungsrichter sollten ebenfalls an diesem Kompetenzsenat mitwirken.

Die Vorschläge zur Kompetenzfrage im Anhang des Papiers zielen eindeutig darauf ab, die gegenwärtigen Befugnisse der Gemeinschaft zu verringern und zu begrenzen. Dieses wird sowohl in Bezug auf die Koordinierungspolitik z.B. im Bereich Beschäftigung, Forschung, Gesundheitswesen oder Verkehr als auch in Bezug auf die Befugnisse zur Rechtsangleichung deutlich: Insbesondere wird vorgeschlagen, die Artikel 94 und 95 EG zu ersetzen durch spezifische Zuständigkeiten für:

Der Katalog schließt mit einer Entscheidung zugunsten einer möglichen Einführung einer neuen expliziten Zuständigkeit für die Angleichung bestimmter Teile des Zivilrechts (Handelsrecht, Vertragsrecht). Alternativ sieht das Papier eine Änderung der Artikel 94 und 95 EG-Vertrag vor, um deren Anwendung auf Maßnahmen zu beschränken, deren Ziel in erster Linie und ganz unmittelbar die Verwirklichung des Binnenmarktes ist. Des weiteren wird vorgeschlagen, sie um spezielle Zuständigkeiten in den oben genannten Bereichen sowie um eine "Kollisionsklausel" zu ergänzen, nach der der Rückgriff auf die Generalklausel in den Anwendungsbereichen der Spezialbestimmungen ausgeschlossen wäre.

Neue Kompetenzen werden im Bereich der Außenbeziehungen (Handelspolitik einschließlich Dienstleistungssektor, Währungspolitik usw.) vorgeschlagen. Auf dem Gebiet der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sollte die Kommission als Sekretariat des Europäischen Rates fungieren und das für Außenbeziehungen zuständige Kommissionsmitglied sollte gleichzeitig die Aufgaben des Hohen Repräsentanten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wahrnehmen.

In Bezug auf diese Vorschläge verdienen es folgende Aspekte, festgehalten zu werden: Zum einen der Wille zu einer systematischen Klärung der Kompetenzen, die die Kompetenzzuweisungen und Kompetenzgrenzen transparenter machen würde, zum anderen die Vorschläge für eine explizitere Definition der der Union zugewiesenen Positivkompetenzen durch explizit erteilte neue Zuständigkeiten, aber auch von Negativzuständigkeiten, um ein Eingreifen der europäischen Institutionen in die rein nationalen oder regionalen Politikbereiche möglichst auszuschließen. Die Schaffung eines neuen "Kompetenzgerichts" erscheint jedoch überflüssig und würde das Risiko unzähliger Überschneidungen mit sich bringen, da der Gerichtshof bereits diese Rolle erfüllt und es kaum Streitfälle gibt, in denen sich nicht auch eine Kompetenzfrage stellen würde.

3. Die Position der Länder und die Orientierungen des Bundesrats

Die Vorschläge des Bundesrats liegen nah bei den Anregungen der CDU-CSU Arbeitsgruppe Schäuble / Bocklet. Der Bundesrat spricht sich klar für eine Vereinfachung der Verträge aus, so dass für die Bürger die jeweiligen Zuständigkeiten der einzelnen Ebenen leichter erkennbar würden; er bringt den Wunsch zum Ausdruck, dass der Reformprozess in einen "Verfassungsvertrag" münden möge. Auch befürwortet er einen deutlicheren Schutz des Handlungsspielraums der Mitgliedstaaten auf der Grundlage der in Artikel 5 EG-Vertrag definierten Prinzipien und der Achtung der nationalen Identitäten. Nach seiner Auffassung muss die Zuweisung der Kompetenzen in den Händen der Mitgliedstaaten bleiben, das heißt, dass jedes vereinfachte Vertragsänderungsverfahren ohne Ratifizierung durch die nationalen Parlamente zumindest in dem angesprochenen Bereich ausgeschlossen ist.

Genau wie die Arbeitsgruppe Schäuble / Bocklet regt der Bundesrat an, die Formen, in denen die Union ihre Ziele verfolgt, besser zu definieren. Des weiteren übernimmt er die Vorschläge der Arbeitsgruppe Schäuble / Bocklet zur Systematik der zugewiesenen Kompetenzen, also ausschließliche Kompetenzen, Grundsatzkompetenzen und Ergänzungskompetenzen. Ein echter Kompetenzkatalog wird nur für den Fall, dass er zur Transparenz und Klarheit beiträgt und in dem Maße gewünscht, wie er das Prinzip der zugewiesenen Kompetenzen nicht in Frage stellt. Zur Vereinfachung der Verträge wird vorgeschlagen, Bestimmungen technischer Art aus den Verträgen heraus zu nehmen und in den sekundärrechtlichen Korpus zu übertragen.

Präzisierungen fordert der Bundesrat u.a. in Bezug auf

Diese Klarstellungen müssen, so besagen es die Orientierungen des Bundesrates, durch verfahrensrechtliche Bestimmungen ergänzt werden,

Nach Auffassung der Länder ist Artikel 308 EG-Vertrag überflüssig geworden und sollte durch spezifische Kompetenzzuweisungen in den Verträgen ersetzt werden. Damit die nötige Dynamik des Integrationsprozesses sichergestellt ist, wird vorgeschlagen, das Verfahren zur Änderung der Verträge zu vereinfachen und die Regierungskonferenz gegebenenfalls zu streichen. Ein einstimmiger Beschluss des Rates in Verbindung mit einer Ratifizierung durch die nationalen Parlamente wäre ausreichend.

Über diese Verfassungsvorschläge in den Orientierungen vom 20. Dezember 2001 hinaus diskutieren die Länder noch über weitere Ergänzungen, insbesondere

Es bleibt abzuwarten, inwieweit die von Schäuble / Bocklet entwickelten Positionen wie oben dargestellt letztlich von den Ländern in ihrer gemeinsamen Stellungnahme angenommen werden. Festgehalten werden sollten das Bemühen, zu einer klareren Definition und einer Systematisierung der Kompetenzzuweisungen zu kommen, um das System transparenter zu gestalten, aber auch der Vorschlag, die technischer ausgerichteten Bestimmungen auf die Ebene des Sekundärrechts zu verlagern. Der Gedanke einer Schiedskammer und die Idee einer Mitwirkung von Vertretern der Mitgliedstaaten in der Konzipierungsphase von Maßnahmen müssten noch stärker vertieft werden. Obwohl das Anliegen, die schrittweise Aushöhlung der nationalen Kompetenzen zu begrenzen, verständlich ist, scheint es doch äußerst zweifelhaft, ob die Streichung des Artikels 308 EG-Vertrag das richtige Mittel wäre: Die Regierungen werden immer eine Rechtsgrundlage finden, die von ihnen für erforderlich gehaltenen Maßnahmen zu ergreifen, andererseits würde die Aufgabe der Generalklausel (Artikel 308 EG-Vertrag) jede Integrationsdynamik blockieren. Das für Vertragsänderungen vorgeschlagene Verfahren beinhaltet keine echte Alternative, denn es bleibt bei der Einstimmigkeit und der Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten, und das bedeutet ein über alle Maßen schwerfälliges Verfahren in einem Europa mit 30 Mitgliedstaaten.

4. Anmerkungen der Arbeitsgruppe der Friedrich-Ebert-Stiftung

Die im September 2001 veröffentlichten Vorschläge der "Arbeitsgruppe Europäische Integration" der Friedrich-Ebert-Stiftung sind sehr viel gemäßigter als die Vorgenannten. Für die Verfasser liegt das Problem besonders auf der Ebene der Ausübung der zugewiesenen Kompetenzen, und im übrigen sei die gegenwärtige Situation eher durch ein Kompetenzdefizit auf Seiten der Union gekennzeichnet, insbesondere auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik.

Daher schlägt die Arbeitsgruppe vor,

In Ergänzung zu diesen Veränderungen des materiellen Rechts wird die Einführung von Verfahrensvorschriften vorgeschlagen, um die Beachtung der Grenzen der zugewiesenen Kompetenzen und des Subsidiaritätsprinzips sicherzustellen. Statt der Einrichtung eines neuen Kompetenzgerichts befürwortet die Arbeitsgruppe eine Verbesserung des judiziellen Dialogs zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Verfassungsgerichten. Die Rolle des Gerichtshofs , in Zuständigkeitsfragen zu entscheiden, könnte durch eine explizite "Kompetenzklage" noch verdeutlicht werden, die auch dem Ausschuss der Regionen offen stehen würde. In Anbetracht der Tatsache, dass jede noch so sorgfältig und in Bezug auf ihr Ausmaß genau definierte Kompetenzklausel der Auslegung durch die politischen Instanzen nicht entgehen kann, spricht sich die Arbeitsgruppe für die Einrichtung eines parlamentarischen Subsidiaritätsausschusses aus, der aus Mitgliedern des Rates und des Europäischen Parlaments sowie aus Parlamentariern der mitgliedstaatlichen und regionalen Ebene besteht. Dieses Gremium wäre dafür zuständig, sich beratend zu allen Fragen von Kompetenzüberschreitungen oder eventuellen Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips zu äußern. Die Arbeitsgruppe zieht auch die Schaffung einer zweiten, aus nationalen Abgeordneten zusammengesetzten Parlamentskammer in Betracht, stellt jedoch selbst sogleich fest, dass eine solche Lösung auf den Widerstand gegen die Schaffung neuer Institutionen stoßen würde. Eine dritte Ansatzmöglichkeit wäre die Schaffung eines "Kompetenzbeauftragten" oder eines "Ombudsmanns für Kompetenzfragen", die einen jährlichen Kompetenzbericht über die Beschwerden über eine übermäßige oder nicht korrekte Ausübung von zugewiesenen Kompetenzen vorlegen würden.

Obwohl von allgemeinerer Natur scheinen diese Vorstellungen mit den Vorschlägen der vorher behandelten Autoren weitgehend vereinbar zu sein. Neben dem Streben nach Vereinfachung und Systematisierung zur Verbesserung der "Sichtbarkeit" der Kompetenzen und Verantwortungsbereiche der Union bzw. der Mitgliedstaaten verdient die Tendenz, "leichte" Lösungen verfahrenstechnischer Art zu finden, um sicherzustellen, dass die Institutionen bei der praktischen Umsetzung des Vertrags die Grenzen ihrer Zuständigkeiten beachten, hervorgehoben zu werden.

5. Beiträge der deutschen Rechtswissenschaft

Zahlreiche von den politischen Instanzen entwickelten Vorschläge stützen sich auf Beiträge aus den Rechtswissenschaften, aber auch auf dieser Ebene bestehen beträchtliche Meinungsverschiedenheiten. So widersprechen von Bogdandy und Bast ganz klar der Abschaffung des Artikels 308 EG-Vertrag und führen eine Reihe von Fällen an, in denen er sich als notwendig erwiesen hat.. Ihr Vorschlag ist, bei jeder Maßnahme, die auf dieser Grundlage beruht, das Mitentscheidungsverfahren anzuwenden. In Bezug auf die Rolle des Gerichtshofs betonen sie, dass er für eine Kompetenzkontrolle geeignet sei und das Argument, er habe stets einer weiten Auslegung der Gemeinschaftskompetenzen den Vorzug gegeben, unbegründet sei. Die Einrichtung eines parlamentarischen Subsidiaritätsausschusses erscheint ihnen überflüssig und geeignet zu sein, die politischen Instanzen ihrer eigenen Verantwortung zu berauben, sie erkennen aber nicht, dass die Hauptaufgabe dieses Ausschusses politischer Natur ist, nämlich das Interesse an der Subsidiarität zu betonen und zu "personalisieren". Sie unterstreichen, dass der in Artikel 10 EG-Vertrag enthaltene Grundsatz der Treue nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits in beide Richtungen wirke, dass es aber nützlich wäre, Artikel 6 III EU-Vertrag zur Garantie eines "föderalen" Grundrechts zugunsten der Identität der Mitgliedstaaten und ihrer Regionen weiterzuentwickeln. Zur Verbesserung der Transparenz schlagen sie eine Umgruppierung der Kompetenzzuweisungen nach Art der Zuständigkeit - ausschließliche, konkurrierende, parallele (gemeinsam ausgeübte) oder fördernde Zuständigkeit - vor.

Dass das eigentliche Kompetenzproblem ein Problem der Kompetenzausübung und der Anwendung des materiellen Rechts im Hinblick auf staatliche Beihilfen oder die Freiheiten des Binnenmarkts ist, wird weithin anerkannt. Dieses gilt auch für das Problem der Handlungsfreiheit der deutschen Länder in Bezug auf Definition und Gestaltung der Daseinsvorsorge. Eine jüngst vorgestellte Analyse von Gunnar Folke Schuppert zeigt jedoch deutlich, dass das bestehende System der Artikel 16 und 86 Absatz 2 EG-Vertrag durchaus geeignet ist, den potentiellen Konflikt zwischen den legitimen Aufgaben und der legitimen Organisation der Daseinsvorsorge auf nationaler Ebene einerseits und der Sicherstellung eines nicht verfälschten Wettbewerbs auf europäischer Ebene andererseits zu lösen.

Desgleichen wird anerkannt, dass es keine Politikbereiche gibt, die gänzlich der Gemeinschaftskompetenz oder der nationalen Kompetenz unterliegen: Jeder Bereich kann eine europäische, eine nationale oder regionale Dimension haben. Das beste Beispiel bietet die Kultur. Daraus folgt, dass eine Definition der ausschließlichen Zuständigkeiten der Union ebenso wenig wie eine Negativklausel, die ein Handeln auf europäischer Ebene ausschließt, nicht absolut sein können.

Franz Mayer schlägt vor, die Zuweisung der Kompetenzen zugunsten der Union durch eine Kompetenzcharta, die sogar einen Titel innerhalb der Unionsverfassung bilden könnte, sowohl für die politischen Instanzen als auch für die Bürger "sichtbarer" zu machen. Eine Kompetenzcharta war auch bereits die von Tony Blair in seiner Rede vom 6. Dezember 2000 in Warschau vorgeschlagene Lösung, aber die Einbindung der Charta in den Verfassungstext der Union mit Hinweis auf das Sekundärrecht mit seinen stärker differenzierenden Bestimmungen könnte in die richtige Richtung weisen: Die in den bestehenden Texten enthaltenen ausführlicheren Bestimmungen könnten den Status von "Organgesetzen" erhalten, die zwischen dem Verfassungsrecht und dem abgeleiteten Recht stehen würden und nur nach einem spezifischen Verfahren geändert werden könnten.