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Die »albanische Frage« nach der Wende in Tirana

Auch nach dem Regierungswechsel in Tirana werden die pan-albanischen Vereinigungsbestrebungen ein wesentlicher politischer Faktor in Südosteuropa bleiben, meint Dušan Reljić. Nun ist es wichtig, dass die EU den beitrittswilligen Ländern der Region Aufnahmegespräche anbietet.

Kurz gesagt, 03.07.2013 Research Areas

Auch nach dem Regierungswechsel in Tirana werden die pan-albanischen Vereinigungsbestrebungen ein wesentlicher politischer Faktor in Südosteuropa bleiben, meint Dušan Reljić. Nun ist es wichtig, dass die EU den beitrittswilligen Ländern der Region Aufnahmegespräche anbietet.

"Lasst uns als einheitliche Nation weiter auf den Platz im geeinten Europa zugehen, den die Albaner Albaniens und des Kosovos verdienen" – mit diesen Worten wird der wahrscheinliche neue Ministerpräsident Albaniens, der Sozialistenchef Edi Rama, aus seiner ersten Ansprache nach dem Bekanntwerden seines Wahlsieges zitiert. Sein Parteienbündnis hat am 23. Juni 84 der 140 Parlamentssitze gewonnen. Das rechtskonservative Lager des bisherigen Premiers Sali Berisha erreichte nur 54 Mandate. Berisha trat zwar als Chef der Demokratischen Partei zurück, kündigte aber an, Parlamentsabgeordneter zu bleiben.

Berisha stand im Vorfeld der Parlamentswahlen an der Spitze einer nationalistischen Bewegung. Der "beispiellose Anstieg" des Nationalismus, so das Albanische Institut für internationale Studien (AIIS), hatte in den letzten Monaten des Jahres 2012 anlässlich der zahlreichen Feiern zur 100-jährigen Unabhängigkeit Albaniens begonnen. Anfang Februar 2013 meldete sich Berisha vor einem hochkarätigen internationalen Auditorium bei der Münchner Sicherheitskonferenz aus dem Publikum zu Wort, um die "nicht gerechtfertigte Aufteilung der [albanischen] Nation unter fünf Staaten" sowie die "Albanophobia" in der Region zu beklagen. Anlässlich der Feiern zum hundertjährigen Bestehen Albaniens in Pristina (Kosovo), Skopje (Makedonien) und in Albanien selbst rief der frühere Premier in flammenden Reden jedes einzelne Mitglied der "Nation" auf, "jede Minute, jede Stunde und jeden Tag" zur Verwirklichung der nationalen Vereinigung der Albaner beizutragen. Stets betonte er dabei, dass diese Vereinigung, selbstverständlich, "im Schoße Europas" stattfinden werde, eine Wendung, die Kritiker als gewollte Zweideutigkeit empfanden, weil sie im Unklaren lässt, ob Berisha auf eine Veränderung der Grenzen abzielt.

In den albanischen Medien entspann sich eine intensive Diskussion über die Zukunftsperspektiven eines Albaniens in seinen "natürlichen" (sprich: ethnischen) Grenzen. Gemeint ist das Zusammengehen Albaniens mit Kosovo (fast 90 % Albaner), Westmakedonien (25 % Albaner) und möglicherweise auch den vorwiegend von Albanern bewohnten Gebieten in Südserbien und Montenegro. Aus ökonomischer und sozialer Perspektive sprächen, so die Diskussion in den Medien, einige Faktoren für eine Zusammenfügung der albanischen Gebilde in der Region. So könne ein größerer Binnenmarkt entstehen, der für eine effizientere Arbeitsteilung, mehr Handel, Investitionen und Beschäftigung sorgen würde. Politisch wäre der "erweiterte" albanische Staat bereit, mehr politische Bedingungen seitens der EU hinzunehmen, um so den Aufbau stabiler staatlicher Institutionen zu beschleunigen. Als NATO-Mitglied wäre das "natürliche" Albanien der Bündnisdisziplin unterworfen, wodurch die regionale Sicherheit gestärkt würde.

Aufgeschreckt von diesem "nationalistischen Delirium", so ein Skeptiker in Tirana, beeilten sich Albaniens engster außenpolitischer Partner, die USA, aber auch die Europäische Kommission und EU-Schlüsselstaaten wie Deutschland, für eine gewisse Ernüchterung zu sorgen. Der gemeinsame Tenor lautete, dass die Grenzen in Europa nicht veränderbar seien. Zwar verzichtete Berisha nach diesen Verweisen auf allzu schrille Töne, aber der nationalistische Geist war längst aus der Flasche entwichen.

In einer repräsentativen Meinungsumfrage im Frühjahr 2012 kam das AIIS zu dem Befund, dass 55 Prozent der Befragten in Albanien bei einem Referendum für die Vereinigung mit Kosovo stimmen würden, 14 Prozent wären dagegen und 16 Prozent würden sich der Stimme enthalten. In regelmäßigen Umfragen, durchgeführt seit mehreren Jahren, hat Gallup Europe festgestellt, dass das Zusammengehen der Nation in einem Staat bei allen Albanern in der Region starke Unterstützung genießt, vor allem jedoch in Kosovo (über 70 %).

Der Regierungswechsel in Tirana hat allerdings gezeigt, dass für die Mehrheit der Bevölkerung derzeit wirtschaftliche und soziale Fragen im Vordergrund stehen. Laut Transparency International ist nirgendwo sonst in Europa die Wahrnehmung von Korruption in der Bevölkerung so stark wie in Albanien. Das wirtschaftliche Wachstum war in Albanien 2012 mit etwa 1,5 Prozent das niedrigste seit 1997, dem Jahr, in dem das Land finanziell zusammenbrach. Südosteuropa leidet schwer an den Folgen der internationalen Finanzkrise, und Albanien ist besonders vom Rückgang der Überweisungen seiner vornehmlich in Griechenland und Italien lebenden Landsleute betroffen.

Um den aufgrund der Wirtschaftsmisere, der dramatischen sozialen Verwerfungen und der steigenden politischen Gegensätze im Lande drohenden Machtverlust abzuwenden, hatte Berisha bei den Parlamentswahlen versucht, noch stärker als zuvor auf die nationalpopulistische Karte zu setzen. Aber auch die oppositionellen Sozialisten konnten sich aus wahltaktischen Gründen eine Ablehnung der Vereinigungsbestrebungen nicht leisten. Indes sehen sie auch sonst keinen Anlass dafür, das populäre Ziel der Vollendung der nationalen Einheit prinzipiell abzuschreiben.

Wegen der historischen Rückständigkeit dieses Teils von Südosteuropa, aber auch wegen der wachsenden Erweiterungsskepsis in der Europäischen Union, können Albanien, Kosovo und Makedonien in absehbarer Zukunft nicht auf eine weitere Annäherung an die EU hoffen. Die Union und ihre Schlüsselstaaten verfügen darüber hinaus über einen weit geringeren politischen Einfluss auf die albanische Politik als die USA. Die jüngste AIIS-Umfrage zeigte, dass 80 Prozent der Bewohner Albaniens die USA als einflussreich gegenüber ihrem Land erachten, während nur sieben Prozent dies von der EU glauben.

Nichtsdestoweniger sollte die EU rasch Aufnahmeverhandlungen mit allen beitrittswilligen Staaten in der Region aufnehmen. Ohne eine realistische Perspektive auf zeitnahe Mitgliedschaft in der EU könnte der albanische Nationalismus ansonsten Oberhand gewinnen. Chaotische Zustände in Südosteuropa wären die Folge.

Der Text ist auch bei EurActiv.de erschienen.