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Eine Korona-Präsidentschaft in Corona‑Zeiten?

Die Doppelaufgabe des deutschen Ratsvorsitzes: Kriseneindämmung und Schub für ein solidarisches und autonomes Europa

SWP-Aktuell 2020/A 52, 22.06.2020, 8 Pages

doi:10.18449/2020A52

Research Areas

Laut Duden ist die Korona der sichtbare Strahlenkranz der Sonne im Falle einer totalen Sonnenfinsternis. Die Finsternis der Corona-Pandemie ist nicht total, aber die menschlichen Opfer und wirtschaftlichen Folgen, die sie mit sich bringt, sind un­ge­mein verheerend. Das stellt auch die EU »vor die größte Bewährungsprobe« ihrer Geschichte (Bundeskanzlerin Merkel). In dieser Lage übernimmt Deutschland am 1. Juli 2020 die EU-Ratspräsidentschaft – im Spannungsfeld zwischen hohen Erwartungen auf der einen und geschrumpften Möglichkeiten einer Präsidentschaft auf der anderen Seite. Dabei geht es neben Kriseneindämmung auch um nachhaltige Weiterentwicklung der EU. Denn darin liegt die größte Chance und Herausforderung: die Lehren der Pandemie zu beherzigen und sie zu nutzen, um eine dauerkriselnde EU zu revitalisieren. Das können die EU-Mitglieder nur zusammen erreichen, die deutsche Prä­sidentschaft kann aber viel dazu beitragen, indem sie Kompromisse schmiedet, Impulse liefert und sich am Leitbild eines solidarischen und autonomen Europa orientiert – auch über die Ratspräsidentschaft hinaus.

Wieder einmal übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft in einer Krise. Schon 2007 war es nach der niederländischen und französischen Zurückweisung des Verfassungsvertrages an Deutschland, dafür zu sorgen, dass seine Substanz erhal­ten wird und später in den Lissabon-Vertrag überführt werden konnte. Diesmal ist die Herausforderung indes ungleich größer.

Zwischen der Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 und derjenigen im zweiten Halbjahr 2020 liegen 13 Jahre einer Serie von Krisen, die man auch als an- und abschwellende EU-Dauerkrise ansehen kann: die 2008 ausgebrochene Finanz- und Wirtschaftskrise, die spätestens ab 2010 die Eurozone erfasste und zur Zerreißprobe wurde; ab 2015 die noch nicht ausgestandene Flüchtlingskrise; dann der Brexit sowie das Aufkommen anti-europäischen Populismus und die Missachtung der EU-Rechtsstaatlichkeit durch einige Mitgliedstaaten – eine Abfolge von Erschütterungen, die eine nachhaltige Stabilisierung und Dynamisierung der EU verhindert hat (zur EU-Dauerkrise siehe SWP-Studie 6/2019).

Dazu kommt nun eine Corona-Pandemie mit Hunderttausenden Toten und dem laut Internationalem Währungsfonds wahr­scheinlich tiefsten Absturz der Weltwirt­schaft seit den 1930er Jahren. Auch in Euro­pa sind der Pandemie mehr als hundert­tausend Menschen zum Opfer gefallen, der wirtschaftliche Einbruch wird gravierender sein als je zuvor in der Geschichte der EU.

Mehr als nur eine Krisen‑Präsidentschaft

Mit der Ratspräsidentschaft muss Deutschland in dieser kritischen Phase nun in der EU und darüber hinaus Führungsverantwortung übernehmen. Die Pandemie be­schleunigt internationale Umbrüche und Tendenzen, die bereits vor ihrem Ausbruch wirksam waren. Hierzu gehören die Abkehr von multilateralen Institutionen und Regeln ebenso wie der Rückbau der Globalisierung. Zwar legt die Pandemie schonungslos die Verwundbarkeiten offen, die globale Han­dels- und Lieferketten mit sich bringen; doch zeigt sie auch, dass Grenzen nicht immun machen. Das gilt in noch höherem Maße für den Klimawandel, und auch gegen Migrationsdruck gibt es keine zuverlässige Abschottung. Sie sollte auch nicht gesucht werden, denn globaler Austausch und Arbeitsteilung können Wohlstand und Ent­wicklung aller fördern. Deshalb ist multi­laterale Kooperation über die Pandemie-Be­kämpfung hinaus für die EU unverzichtbar.

Die Vorzeichen dafür sind allerdings nicht günstig: Trumps Amerika sieht in internationalen Regeln und Regimes eher Schaden als Nutzen, China tritt zunehmend selbstherrlich auf, eine erbitterte Macht- und Systemrivalität beider Staaten könnte das 21. Jahrhundert prägen.

Diese drei Faktoren (EU-Dauerkrise, Pan­demie-Verheerungen, Welt-Unordnung) bilden den Unter- und Hintergrund der deutschen Ratspräsidentschaft.

Deutschland sieht insofern einer Ratspräsidentschaft unter beispiellosen Um­ständen entgegen. Die allein deshalb hohen Erwartungen werden noch gesteigert durch seine kri­senbedingt gewachsene Stärke: Von allen größeren EU-Staaten hat Deutsch­land die besten Aussichten, sich zu erholen, weil es die Pandemie bisher vergleichsweise gut bewältigt hat. Außerdem kann es sich dank seiner Wirtschaftskraft und solider Finanzen staatliche Hilfs- und Konjunkturpakete in einer Größenordnung leisten wie kaum ein anderes EU-Land.

Daraus ergeben sich zwei überwölbende Leitlinien für die Ratspräsidentschaft: Deutschland kann sich vom Pandemie-Ein­bruch nur nachhaltig erholen, wenn das seinen EU-Nachbarn auch gelingt; nur ein erstarktes Europa kann Globalakteuren wie den USA und China, aber auch Google, Ama­zon und Co. ein ebenbürtiger Partner sein.

Die zweite Leitlinie für Deutschland ist, mit seiner Stärke behutsam umzugehen. Da­für muss die Ambivalenz dieser Stärke in Rechnung gestellt werden: Einerseits braucht es gerade in der größten EU-Bewäh­rungsprobe eine Ratspräsidentschaft mit Macht und Gestaltungswillen, andererseits sollte Deutschland nicht als übermächtig wahrgenommen werden. Es gilt dabei auch, die Dienstleistungsrolle der Präsidentschaft nicht über die ständigen Führungspositionen in der EU zu stellen. Da sich das aber nicht immer vermeiden lässt, wird es dar­auf ankommen, Empathie und Fingerspit­zengefühl zu be­weisen. Denn die wirk­mächtigste Ressource für ein einiges Europa ist das Vertrauen ineinander und darauf, dass eine Kollektivmacht Europa im Ein­klang steht mit nationaler Identität und nationalen Interessen.

Diese Ressource, im Zuge der europäischen Dauerkrise bereits arg strapaziert, ist zu Anfang der Corona-Pandemie einer schweren Belastung ausgesetzt worden: »Als Europa wirklich füreinander da sein musste, haben zu viele zunächst nur an sich selbst gedacht.« (Kommissionspräsidentin von der Leyen am 26. März 2020). Das wirkt nach, auch wenn inzwischen europäischer Ge­meinsinn überwiegt. Ihn zu revitalisieren ist die übergreifende Herausforderung der deutschen Ratspräsidentschaft.

Die geschrumpfte Präsidentschaft

Eine realistische Einschätzung muss aller­dings berücksichtigen, dass die Gestaltungs­möglichkeiten einer EU-Präsidentschaft geringer geworden sind. Schon grundsätzlich beschränkt sich der Vorsitz von EU-Institutionen auf den Rat der EU, und auch dort kann die Präsidentschaft nur vermitteln und vorschlagen, für Entscheidungen ist die Zustimmung der anderen Mitgliedstaaten erforderlich.

Eine gute Präsidentschaft zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie als »ehr­licher Makler« auftritt und Kompromisse aushandelt: zwischen den Mitgliedstaaten im Rat sowie im EU-Gesetzgebungsverfah­ren mit Parlament und Kommission. Diese Rolle auszufüllen fällt kleineren Mitgliedstaaten häufig leichter, da sie weniger Macht haben und deshalb weniger im Verdacht stehen, ihren Ratsvorsitz für nationale Ziele zu nutzen. Größere Staaten dagegen kön­nen sowohl höheren Erwartungen als auch stär­keren Konflikten zwischen nationalem Eigen- und europäischem Gesamtinteresse ausgesetzt sein – wie bei den während der deutschen Ratspräsidentschaft im Fokus stehenden Haushaltsverhandlungen.

Zweitens hat sich mit dem Vertrag von Lissabon der Charakter der Präsidentschaft deutlich gewandelt. Denn seitdem werden die wichtigsten Gremien im Ratssystem von eigenen, ständigen Vorsitzen geführt – der Europäische Rat, in dem die politischen Leit­linien der EU verhandelt werden (Charles Michel), der Rat für Auswärtiges (Hoher Vertreter Josep Borrell), die Eurogruppe (noch Mário Centeno) sowie alle mit dem Euro und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verknüpften Ratsarbeits­gruppen. In den wichtigsten Foren, allen voran dem Europäischen Rat, ist somit Bundeskanzlerin Merkel auch während der deutschen Ratspräsidentschaft eine reguläre Teilnehmerin, soweit das für die Vertreterin des größten EU-Mitgliedstaates auch sonst der Fall ist. In der Folge sind die meisten Ratspräsidentschaften seit Lissabon auch eher unscheinbar gewesen und haben sich, wenn überhaupt, durch effektive Dienstleis­tung im Sinne eines guten Managements der Ratsgeschäfte ausgezeichnet. Öffentlichkeitswirksam geblieben sind einzig die ein­mal pro Ratspräsidentschaft stattfindenden Gipfeltreffen im entsprechenden EU-Staat.

Drittens ist auch die Agenda für eine Ratspräsidentschaft meist in ein Korsett der langfristigen legislativen Planung der EU eingebunden, das den eigenen Gestaltungsspielraum begrenzt. Sechs Monate sind sel­ten ausreichend, um Gesetzgebungsvorhaben von Beginn bis zum endgültigen Beschluss auf europäischer Ebene zu verhandeln. Der deutsche Ratsvorsitz beginnt ein halbes Jahr nach Amtsantritt der Von-der-Leyen-Kom­mis­sion, in einer EU-Legislaturperiode traditionell der Zeitpunkt, in dem die Kom­mission ihre ersten großen Gesetzgebungs­initiativen einbringt – für die deutsche Ratspräsidentschaft wären das insbesondere die Initiativen des »European Green Deal« oder zur Digitalisierungsstrategie.

Bei der wichtigen Aufgabe der Vermittlung beschränken die Auswirkungen der Pan­demie auch logistisch die Handlungsmöglichkeiten der Präsidentschaft. Die ›Kompromissmaschine EU‹ funktioniert vor allem mittels einer Vielzahl von formellen und informellen Treffen. So führte die fin­nische Ratspräsidentschaft im zweiten Halb­jahr 2019 beispielsweise je 52 Rats­sitzungen und Treffen im Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten (AStV) durch, 1 164 Sitzungen von Rats­arbeitsgruppen sowie 131 Treffen in Finn­land. Hinzu kommen die vielen Vorbereitungstreffen, die eine Präsidentschaft zur Aushandlung von Kompromissen abhält. Eine der wichtigsten Aufgaben der Präsi­dentschaft ist dabei mittlerweile die Ab­stimmung mit EU-Parlament und Kommission in den so­genannten Trilogen, um EU-Gesetzgebung im Detail zwischen den Insti­tutionen auszuhandeln. Unter der finni­schen Präsidentschaft gab es insgesamt 74 solcher Triloge. Vertreter der Bundesregierung rechnen damit, dass zumindest zu Beginn der Präsidentschaft nur 30 Prozent der regulären Ratsarbeit stattfinden kann – das wird alle Vorhaben der Präsidentschaft notgedrungen einschränken.

Nicht zuletzt obliegt es der Ratspräsi­dentschaft, auf externe Krisen zu reagieren. Nicht wenige Ratspräsidentschaften wurden mit Krisen konfrontiert, die weite Teile ihrer Agenda verdrängt haben. Im ersten Halbjahr 2020 musste die kroatische Rats­präsidentschaft, in Reaktion auf die Pan­demie, einen Großteil der Ratsarbeit digital organisieren. Angesichts des unsicheren weiteren Verlaufs der Pandemie, ihrer wirt­schaftlichen, sozialen und außen- wie sicher­heitspolitischen Folgen, und der Präsident­schaftswahlen in den USA wird auch die deutsche Ratspräsidentschaft ihre Agenda und die Arbeit des Rates laufend anpassen müssen.

Eine (zu) ambitionierte Agenda

Unter diesen Vorzeichen musste die deut­sche Ratspräsidentschaft schon vor Beginn ihr Programm neu ordnen – das im Span­nungsfeld zwischen hohen Erwartungen, reduzierter Rolle der Präsidentschaft und erschwerten Bedingungen neu bewertet werden sollte. Allein wegen der eingeschränkten Bandbreite lassen sich die Vor­haben drei Prioritäten zuteilen.

Priorität Nr. 1: Corona, seine Folgen – und der EU-Haushalt

Die wichtigste Aufgabe der deutschen Rats­präsidentschaft wird die Reaktion der EU auf die Pandemie und ihre Sekundärfolgen sein. Zu Beginn der Präsidentschaft dürften die Infektionszahlen in den EU-Staaten weiterhin rückläufig sein, im Großteil der Staa­ten werden die Einschränkungen des öffentlichen Lebens sukzessive gelockert. Das Tempo der Lockerungen, die selektive Öff­nung von Grenzen sowie das Infektionsgeschehen bleiben jedoch unterschiedlich. Selbst ohne zweite Corona-Welle wird viel Abstimmung notwendig sein, um die Maß­nahmen innerhalb der EU so weit wie mög­lich zu koordinieren.

Gleichzeitig werden Fliehkräfte begünstigt. Die Corona-Pandemie ist ein symmetrischer Schock mit asymmetrischen Auswirkungen: Prognosen zufolge trifft sie die südlichen EU-Staaten wirtschaftlich härter als nördliche und mittel-/osteuropäische Staaten. Selbst Griechenland, dem es gelun­gen ist, die Infektionszahlen relativ niedrig zu halten, dürfte aufgrund der enormen Bedeutung des Tourismus wirtschaftlich besonders leiden. Hinzu kommen die unter­schiedlich großen haushaltspolitischen Spielräume. Staaten wie Deutschland war es möglich, besonders umfangreiche Kon­junkturprogramme aufzulegen. Diese Dis­paritäten könnten auch den Zusammenhalt des Binnenmarkts gefährden.

Nach deutsch-französischem Vorschlag soll die Antwort auf diese Disparitäten ein EU-Wiederaufbaufonds sein, den die EU-Kommission mittlerweile in ihren Vor­schlag für den »Mehrjährigen Finanzrah­men« (MFR) der EU 2021–2027 einbezogen hat – mit 500 Milliarden Euro an Zuwendungen und 250 Milliarden Euro an Kre­diten für den Wiederaufbau. Kernfragen wie das Volumen des Fonds, das Verhältnis von Zuschüssen und Krediten sowie die Kon­trolle der Mittelverwendung sind wäh­rend der deutschen Ratspräsidentschaft aus­zuhandeln. Falls sich die Mitgliedstaaten auf ein vergleichbares Grundgerüst einigen, wäre dies auch ein substantieller Integra­tions­schritt für die EU.

Eng damit verwoben ist die Finalisierung des regulären MFR. Im MFR legt die EU je­weils für sieben Jahre die Eckdaten ihres Haushalts fest, der nächste ist für 2021–2027 fällig. Die MFR-Verhandlungen gehö­ren zu den schwierigsten in der EU, da nicht nur politische Prioritäten festgelegt werden, sondern auch bestimmt wird, wel­che Staaten als Nettoempfänger besonders vom EU-Haus­halt profitieren und welche als Netto­zahler besonders viel beitragen sollen. Auch hier ist eine enge Abstimmung mit den anderen Institutionen notwendig – den Vorschlag für den MFR unterbreitet die Kommission, die heiklen Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten werden auf höchster Ebene im Europäischen Rat geführt und von deren Präsidenten Michel geleitet. Deutschland ist also vornehmlich für die Vorbereitung und dafür zuständig, den im Europäischen Rat erzielten Kom­pro­miss mit dem Europäischen Parlament zu Ende zu verhandeln.

Das erfordert viel Koordinationsarbeit, und der Einsatz ist hoch: an der Verabschiedung von MFR und Wiederaufbaufonds wird die deutsche Präsidentschaft gemessen werden.

Priorität Nr. 2: Brexit und andere zeitkritische Dossiers

Zweite Priorität haben jene Prozesse, die aufgrund rechtlicher Fristen im Jahr 2020 abgeschlossen werden sollten – trotz logis­tischer Einschränkungen infolge der Pan­demie. Hierzu gehören nicht nur der MFR, der im zweiten Halbjahr 2020 beschlossen werden muss, damit EU-Finanzmittel zu Beginn 2021 ausgezahlt werden können, sondern etwa auch die jährlichen Fischerei­quoten oder der reguläre Haushalt 2021.

Eine rechtliche Frist ist im EU-Kalender vermerkt: Am 31. Dezember 2020 endet die Brexit-Übergangszeit, nach der das Ver­einigte Königreich nicht mehr EU-Recht anwendet, EU-Binnenmarkt und Zollunion verlässt und seine Teilnahme an allen ande­ren EU-Politiken endet. Bis dahin sollte das oder sollten die Abkommen über die künf­tigen Beziehungen zwischen EU und Ver­einigtem Königreich in Kraft sein; sonst droht der »No trade deal«-Brexit, einschließ­lich Wiedereinführung von Grenzkontrol­len und Zöllen. Nicht allein wegen der Pan­demie, aber auch ihretwegen verlaufen die Gespräche bisher zäh, die Zeichen stehen auf einen erneut konfliktreichen Herbst mit harten Verhandlungen.

Politisch hat die deutsche Ratspräsident­schaft nur eine begrenzte Rolle – die Ver­handlungen führt die EU-Kommission, zwischen den EU-27 koordiniert eine eigene Arbeitsgruppe im Rat unter ständiger Lei­tung und auf politischer Ebene der Euro­päische Rat. Eigene Brexit-Initiativen der deutschen Präsidentschaft, gar eigene Gespräche mit London würden eher kontra­produktiv wirken. Für sie wird es daher vor­rangig darauf ankommen, die Verhandlungs­führer zu unterstützen und die Einheit der EU-27 zu wahren.

Priorität Nr. 3: Any other busi­ness: Die »Gestaltungsprojekte«

Die Eindämmung und vor allem wirtschaftliche Überwindung der Pandemie sowie die Verhandlungen über MFR und Brexit sind für sich schon harte Brocken. Hinzu kommt, dass in der kroatischen Präsidentschaft viele Gesetzgebungsdossiers nicht bearbeitet wur­den und die Ratsarbeit auch während des deutschen Vorsitzes noch logistisch einge­schränkt sein wird. So wird wenig Zeit und politische Aufmerksamkeit für die »Gestal­tungsprojekte« bleiben, welche die deutsche Präsidentschaft ursprünglich geplant hatte.

Politisch fällt die Präsidentschaft in den Beginn der Legislaturperiode der Kommis­sion von der Leyen. Insofern wäre der deutsche Ratsvorsitz dafür verantwortlich, die ersten großen Initiativen der neuen EU-Kommission im Rat zwischen den Mitgliedstaaten sowie in den Trilogen mit Parlament und Kommission zu verhandeln. Zentrale Vorhaben sind beispielsweise die Gesetz­gebungsinitiativen zum »European Green Deal«, die EU-Regulierung zu künstlicher Intelligenz und der Ausbau des digitalen Binnenmarkts oder der Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung von Steuerhinter­ziehung in Europa.

Der »Green Deal« ist ein Beispiel dafür, wie die Pandemie die EU-Agenda verändert. Im Zentrum der Debatte über den »Green Deal« steht nun die Frage, welche Bedeutung dem Klimaschutz beim wirtschaft­lichen Wiederaufbau zukommen soll. Kri­tiker fordern angesichts der hohen wirt­schaftlichen Kosten der Pandemie, weitere Auflagen für die europäische Industrie zu einem späteren Zeitpunkt zu erlassen. Befürworter argumentieren, dass Klimaschutz eine drängende Jahrhundertaufgabe sei und der Corona-Wiederaufbau genutzt werden solle, um die Umstellung der euro­päischen Wirtschaft auf Klimaneutralität voranzutreiben. Das wird deutsches Ver­handlungsgeschick auf die Probe stellen, zumal die Umbau-Subventionen für struk­turschwächere Mitgliedstaaten aller Wahr­scheinlichkeit nach geringer ausfallen werden, als vor der Krise abzusehen war. Deutschland verfügt aber als größte EU-Industrienation über besondere Überzeugungskraft, die es geltend machen kann, indem sich der deutsche Vorsitz für den »Green Deal« starkmacht.

Auch der Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wird in zweifacher Hinsicht ein heikles Thema für die deutsche Präsidentschaft. Zum einen will die EU-Kommission Vorschläge machen, wie die Rechtsstaatlichkeit in der EU besser ge­schützt werden kann. Zum anderen steht in der zweiten Jahreshälfte 2020 ohnehin der nächste Bericht zur Rechtsstaatlichkeit an. Ein besonderer Fokus liegt auf Polen und Ungarn, gegen die bereits Verfahren wegen Verstößen gegen Rechtsstaatlichkeit laufen. Verschärft hat sich die Lage aufgrund der Pandemie, zu deren Bekämpfung viele EU-Mitgliedstaaten Einschränkungen von Grund­rechten und öffentlichem Leben beschlos­sen haben. Extreme Maßnahmen, die in der akuten Phase gerechtfertigt sein mögen, dür­fen nach Abklingen der Viruswelle nicht beibehalten werden. Die »Kunst« wird sein, den Schutz der für die EU konstitutiven Rechtsstaatlichkeit mit den Verhandlungen über den nächsten Haushalt und den Wie­deraufbaufonds zu verbinden. Auch ins Aufgabenbuch geschrieben hat sich die deutsche Präsidentschaft einen »Pakt für Asyl und Migration«. Dass er zustande kommt, ist jedoch angesichts der seit 2015 festgefahrenen Fronten zwischen den Mitgliedstaaten (insbesondere in der Frage der Verteilung von Flüchtlingen) eher un­wahrscheinlich (siehe SWP-Aktuell 45/2020).

Fraglich ist, wie viel von der außen­politischen Agenda der Präsidentschaft bleiben wird. Vor dem Ausbruch der Pan­demie hatte sich die Bundesregierung als Großthema die EU-Beziehungen zu China vorgenommen, der zugehörige Gipfel ist jedoch auf einen unbestimmten Termin verschoben worden. Ein Gipfeltreffen zwischen EU und Afrikanischer Union soll noch stattfinden. In das zweite Halbjahr 2020 fallen zudem die Präsidentschafts­wahlen in den USA, nach denen die EU-Mitgliedstaaten ihren Um­gang mit dem Wahlsieger abstimmen müssen – was in jedem Fall politisch heikel werden dürfte. Angesichts der inhaltlichen Überforderung der EU-Präsidentschaft wäre es außen­politisch geraten, vor allem den Hohen Ver­treter Josep Borrell zu unterstützen.

Drei Leitsätze für die Präsidentschaft

»Vergeude nie eine schwere Krise« – diese Mahnung, die Rahm Emanuel, US-Präsident Obamas Stabschef, 2009 in der Finanz- und Wirtschaftskrise prägte, gilt heute erst recht: Der wirtschaftliche Einbruch als Folge der Corona-Pandemie wird am Ende noch dras­tischer sein, und er trifft die EU zu einer Zeit, in der ihre Dauerkrise nicht ausgestan­den ist. Jenseits konkreter Projekte bieten sich drei Leitsätze an.

Mitführung praktizieren – auch über die Präsidentschaft hinaus

Aus der Not der Krise eine Tugend machen – das vermag die deutsche Ratspräsidentschaft nur, wenn ihre EU-Partner mitziehen. Aber von Deutschland als einem EU-Schwer­gewicht wird und kann mehr erwartet wer­den, als Kompromisse zu schmieden und eine vorgegebene Agenda abzuarbeiten – auch und gerade in Corona-Zeiten. Die Rats­präsidentschaft kann jedoch nicht die allei­nige Triebkraft für die Herausbildung einer starken Mitführungsrolle in Europa sein. Denn in den entscheidenden Fragen muss die Ratspräsidentschaft mit den neu gewähl­ten EU-Führungsspitzen zusammenarbeiten, die ihre politische Autorität noch festigen müssen. Der EU wäre wenig geholfen, wenn Deutschland die Präsidentschaft wieder deut­lich aufwertet, dabei aber die Mitführungsrolle von Präsident des Europäischen Rates, Kommissionspräsidentin und/oder Hohem Vertreter beschädigt. Zum anderen gilt die Führungsverantwortung für Deutschland zwar institutionell besonders in den sechs Monaten der Ratspräsidentschaft, politisch wird sie danach aber nicht enden.

Zwar geht es zunächst um Kriseneindäm­mung, also darum, die unmittelbaren Aus­wirkungen der Pandemie zu mildern und dabei im Auge zu behalten, dass ohne Impf­stoff und wirksame Medikation eine zweite Infektionswelle noch größeren Schaden anrichten könnte. Zugleich geht es jedoch um die nachhaltige Weiterentwicklung der EU über die Corona-Pandemie hinaus. Denn darin liegt die größte Chance und Herausforderung: die Lehren der Pandemie zu beherzigen und sie für die Revitalisierung einer dauerkriselnden EU zu nutzen.

Die Corona-Krise hat dafür ein Fenster der Gelegenheit geöffnet, führt sie doch eindringlich vor Augen, was die Mitglied­staaten an ihrer Union haben. In der Pan­demiebekämpfung ist das sogenannte Prä­ventionsparadox wirksam: Strikte Hygiene sowie Kontakt- und Mobilitätsbeschränkungen sorgen für eine Eindämmung; mit ihrem Erfolg wächst aber die Neigung, läs­tige Restriktionen zu missachten. An einer ähnlichen »Erfolgsfalle« leidet zuweilen auch die EU: Sind alle davon überzeugt, dass sich ihr Scheitern für alle verbietet, kann dies die Bereitschaft schmälern, nationale Solidarität für das europäische Gemeinwohl zu üben.

Das hat sich zu Anfang der Pandemie gezeigt, als nationale Reflexe überwogen und unkoordiniert Grenzen geschlossen wurden. Die Krise hat die Mitgliedstaaten aber rasch gelehrt, dass es keinen natio­nalen, sondern nur einen kollektiven euro­päischen Ausweg gibt. So wurden auf natio­naler, aber eben auch auf europäischer Ebene beispiellose Rettungs- und Wiederaufbaumittel mobilisiert. Auch Deutschland hat mit Exportbeschränkungen an­fangs Partner verprellt, dann aber rasch praktische Solidarität gezeigt (z.B. durch Lieferung medizinischer Güter und die Auf­nahme von Covid-19-Patienten in deutschen Krankenhäusern).

Dass Solidarität und eine gemeinsame wirtschaftliche Erholung auch durch den Wiederaufbaufonds zügig realisiert werden, wird eine Hauptaufgabe der deutschen Ratspräsidentschaft sein. Dabei kommt es nicht nur auf das Ergebnis an, wichtig wird auch das Wie der Einigung sein. Denn der Fonds ist nicht nur wegen seines Umfangs einzigartig, er ist es auch, weil er auf der kollektiven Aufnahme von Schulden beruht, die langfristig aus EU-Mitteln zu­rückgezahlt werden. Das wäre ein bedeutsamer Integrationsschritt, zu dem die Mit­gliedstaaten bislang nicht bereit waren.

Möglicherweise reicht der integrative Schub der Pandemiekrise aber auch für »Paket­lösungen«. Blockaden in Einzelfragen lassen sich zuweilen auflösen, wenn diese ein­gebettet werden in ein größeres Kom­promiss­paket: Geben und Nehmen kann leich­ter fallen, wenn mehr Dossiers mit unter­schiedlichen Konflikt- und Präferenzlagen der Beteiligten im Topf sind. Ein sol­ches »Gesamtpaket« könnte aus Wiederaufbau­fonds, MFR, dem »Fonds für einen gerechten Wiederaufbau« des Green Deal, Rechts­staatlichkeit und Migration bestehen (siehe SWP-Aktuell 7/2020).

Die Gelegenheit nutzen

Zweitens könnten Deutschland und Europa eine Chance nutzen, die zuvor ver­passt wurde. Zwischen französischen und deut­schen Wahlen 2017 sowie den Europa­wahlen 2019 hatte sich in der EU die Gele­genheit für weiterreichende Reformen geboten. Sie wurde nicht genutzt – auch weil Berlin in dieser Zeit zu passiv geblieben ist.

Neben der gemeinsamen Bekämpfung der Pandemie und der Erholung von ihr begünstigen jetzt zwei weitere Faktoren die europäische Integration. Der erste ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu dem 2015 beschlossenen Anleihekauf­programm der Europäischen Zentralbank (EZB). Ob man das Urteil begrüßt oder kri­tisiert – seine zentrale Botschaft ist, dass die EZB ihren Interventionsspielraum nicht überreizen darf, will sie nicht in Konflikt mit dem Grundgesetz geraten. Diese Bot­schaft sollte die Bundesregierung dazu bewe­gen, die strukturelle Reform der Eurozone voranzubringen, um die EZB zu entlasten und die Mitgliedstaaten stärker in die Pflicht zu nehmen, füreinander zu haften. Im Ergebnis bedeutete das weniger EZB und mehr Fiskalunion.

Ein weiterer integrativer Faktor sind die USA. Unter Präsident Trump hat sich das transatlantische Verhältnis massiv ver­schlechtert und wird sich kaum verbessern, sollte er wiedergewählt werden. Aber auch unter einem Präsidenten Biden wird es kein Zurück in die Zeit vor Trump geben. Da­gegen stehen die Zerrissenheit des Landes, sein demographischer Wandel, die Ver­heerungen der Pandemie und die Verwundungen, die Trump hinterlassen wird. Die USA werden von Europa mehr Lasten­teilung und Selbstverantwortung einfordern, was mit dem europäischen Interesse an einer ausgewogeneren transatlantischen Partnerschaft zusammenfällt. Hinzu kommt, dass die amerikanisch-chinesische Rivalität, Trump hin oder her, nicht verschwinden wird, was auch an einem zur Selbstherrlichkeit neigenden Peking liegt. Nur ein einiges Europa kann verhindern, dass Dritte es zum Spielball machen.

Corona-Pandemie, Brexit, das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, eine gleich­berechtigte transatlantische Partnerschaft, Europas Selbstbehauptung in der amerikanisch-chinesischen Rivalität und gegenüber einem rabiat auftretenden China – inte­grationsfördernde Umstände und Faktoren, die einen Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft begünstigen können. Mit dem geplanten Start der »Konferenz zur Zukunft Europas« kann auch ein langfristig wirk­samer Impuls zur Weiterentwicklung der EU gesetzt werden.

Ein solidarisches und autonomes Europa fördern

Für Europa zu werben und politisch zu führen fällt leichter, wenn es ein Leitbild gibt, wofür Europa steht und wohin es sich entwickeln soll. Ein solcher Kompass könnte ein solidarisches und autonomes Europa sein. Solidarität verstanden als ein umfas­sendes, auf Gegenseitigkeit beruhendes Prinzip: Politische Solidarität auf Gegen­seitigkeit heißt, dass Solidarität dann erwar­tet werden kann, wenn alle das ihnen Mög­liche für das europäische Ganze leisten. Materielle Solidarität bedeutet mehr als die finanzielle Unterstützung jener, die durch die Pandemie einen Einbruch erlitten haben; im Kern geht es um Unionstreue, um die Achtung und Beachtung der Werte, Regeln und Ziele, wie sie in den EU-Verträgen fest­geschrieben worden sind. Dazu gehört auch und gerade, die EU als Demokratie- und Rechtsgemeinschaft zu achten. Zudem hat Solidarität auch eine externe Dimension: ein Europa, das anderen ein fairer und großmütiger Partner sein kann.

Autonomie bedeutet nicht Autarkie, die weder erreichbar noch wünschenswert ist (siehe SWP-Studie 2/2019). Ein autonomes Europa ist ein Europa, dessen Kollektivmacht seine Mitgliedstaaten unabhängiger von Dritten macht und ebenbürtig mit ihnen, seien sie staatliche oder auch nicht­staat­liche Akteure wie Google und Amazon auf amerikanischer oder Baidu und Alibaba auf chinesischer Seite. Die Pandemie hat offenbart, wie zerbrechlich Lieferketten und wie abträglich übermäßige Abhängigkeiten sein können. Eine weit über die deutsche Ratspräsidentschaft hinausweisende Aufgabe wird es deshalb sein, Europa durch eine dosierte De-Globalisierung (wieder) auto­nomer zu machen, und das nicht nur im Hinblick auf Medikamente und Schutz­kleidung, sondern auch bei digitaler Infra­struktur, Energie und Schlüsseltechnologien. Ein solches Europa kann und muss als selbstbestimmter Mitgestalter seines regio­nalen und globalen Umfelds auftreten. Erst ein autonomes Europa kann Interdepen­denzen seiner Wahl eingehen. Sich für ein solidarisches und autonomes Europa ein­zusetzen ist aller deutschen Präsidentschafts-Mühe wert.

Botschafter a. D. Dr. Eckhard Lübkemeier ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364