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Der Nexus zwischen al-Qaida und Iran

Taktische Zusammenarbeit trotz strategischer Gegnerschaft

SWP-Aktuell 2024/A 09, 01.03.2024, 8 Pages

doi:10.18449/2024A09

Research Areas

Nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 erklärte al-Qaida ihre Solidarität mit den Muslimen in Palästina und rief zu Anschlägen auf israelische und jüdische Ziele weltweit auf. Doch kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass al-Qaida eine anhaltende Schwächephase durchlebt und nicht mehr imstande zu sein scheint, international Attentate zu verüben. Ein Grund für die Schwäche ist die große Abhängigkeit der al-Qaida-Führung von Iran. Derzeitiger Chef der Organisation soll der Ägypter Saif al-Adl sein. Er folgte auf seinen Landsmann Aiman al-Zawahiri, der Ende Juli 2022 in Kabul getötet worden war. Bis heute hat al-Qaida diese Neubesetzung nicht ver­kün­det, vor allem weil Saif al-Adl in Iran vermutet wird. Ob Adl die Orga­nisa­tion wiederbeleben kann, hängt wesentlich davon ab, ob er neuen Einfluss auf den al-Qaida-Ableger in Syrien gewinnen und dieser erneut erstarken kann. Andernfalls dürf­te sich die schon lange währende Fragmentierung des al-Qaida-Netzwerks fortsetzen.

Der Fall Saif al-Adl wirft ein Schlaglicht auf die langjährigen Verbindungen zwischen der Islamischen Republik und al-Qaida. Iran hält al-Qaida-Führungspersonen schon seit 2003 fest, um sich vor Anschlägen der Terror­­organisation zu schützen. Darüber hin­aus unterstützte Iran al-Qaida, um den US-Truppen im Irak (bis 2011) und in Afgha­ni­stan (bis 2021) Probleme zu berei­ten. Mit Übernahme des Chefpostens durch Saif al-Adl traten auch die Verbindungen zwischen Iran und al-Qaida in eine neue Phase. Nach Zawahiris Ableben wurden Zweifel laut, ob Adl tatsächlich neuer al-Qaida-Chef werden kann. Da er in Iran vermutet wird und die Islamische Republik seinen Handlungsspiel­raum eng begrenzen dürfte, scheint er vielen Beobachtern kein geeigneter Kan­di­dat für eine Organisation, die versucht, zu alter Stärke zurückzufinden.

Die Frühgeschichte von al-Qaida in Iran, 2001–2015

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und der folgenden Intervention der USA in Afghanistan gegen Taliban und al-Qaida flohen die meisten Angehörigen der Organisation, angeführt von Usama Bin Laden und Aiman al-Zawahiri, nach Paki­stan. Doch zogen Teile der Gruppe rasch nach Iran weiter. Seitdem halten sich zahl­reiche Anführer und Mitglieder mitsamt Familien teils freiwillig, teils unter Zwang in Iran auf. Das Verhältnis zwischen ihnen und der Islamischen Republik ent­wickelte sich bis 2015 in drei Phasen.

Phase 1: 2001–2003

Die ersten al-Qaida-Flüchtlinge trafen schon vor der Jahreswende 2001/02 in Iran ein. Der al-Qaida-Religionsverantwortliche Abu Hafs al-Mauritani traf damals eine Über­ein­kunft mit dem Qods-Korps der Revolutionsgarden. Sie besagte, dass die Jihadisten auf­genommen würden, aber auf alle Aktivitäten verzichten sollten, die Aufmerksamkeit erregen würden. Ab Januar 2002 wuchs die Zahl der al-Qaida-Funktionäre und -Kämpfer rasch auf mehrere hundert an. Neben Mauri­tani kamen nicht nur weitere Anfüh­rer wie der damalige Militär- und Sicherheitschef Saif al-Adl und andere Mitglieder des Militär­rates, sondern auch Familien­angehörige wie Bin Ladens Erstfrau Khairiya und seine Söhne Saad und Hamza.

Die Beziehungen zwischen den Jihadisten und ihren Gastgebern verschlechterten sich im Laufe des Jahres 2002, weil sich viele Ankömmlinge nicht an die Absprache zwischen Mauritani und dem Qods-Korps hielten und so das Augenmerk ausländischer Dienste auf Iran lenkten. Rasch setzte eine Verhaftungswelle ein. Einige Jihadisten wurden von Iran an ihre Heimat­länder ausgeliefert. Anderen Geflüchteten bot das Qods-Korps die Weiterreise in das jeweilige Heimatland oder Staaten wie Paki­s­tan, Malaysia oder die Türkei an. Überdies er­möglichten es die Revolutions­gardisten dem jordanischen Jihadisten Abu Musab al-Zarqawi und seinen Gefolgs­leuten, in den Irak zu ziehen, wo diese bald den Kampf gegen die US-Truppen aufnahmen.

Die al-Qaida-Militärführung um Saif al-Adl hielt sich zunächst in Schiraz auf. Laut der US-Regierung bildete sie einen »manage­­ment council«, der die Handlungsfähigkeit der Organisation erhalten sollte.

Phase 2: 2003–2009

Im März/April 2003 wurde eine zweite Ver­haftungswelle initiiert, die fast die gesam­ten Struk­tu­ren al-Qaidas in Iran einschließlich Saif al-Adls und seines Umfelds traf. Ein Grund für die neue Vorgehensweise der Iraner dürfte der Irak-Krieg gewesen sein, der im März 2003 begonnen hatte. Die Füh­rung in Teheran könnte befürchtet haben, dass Washington nach den Inter­ventionen in Afghanistan und im Irak auch die Islami­sche Republik angreifen könnte. Für einen Angriff wäre die Anwesenheit von al-Qaida-Führern in Iran ein probates Argument gewesen. Noch gefährlicher wurde die Lage, als publik wurde, dass Saif al-Adl von Iran aus in engem Kon­takt mit einer al-Qaida-Gruppe stand, die am 12. Mai 2003 einen Anschlag in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad verübt hatte, bei dem 35 Menschen starben, unter ihnen acht Amerikaner. Möglicherweise hatten die Iraner frühzeitig von Adls Kon­takten nach Saudi-Arabien erfahren und entschlossen sich auch deshalb, die al-Qaida-Führer festzusetzen.

Die wichtigsten von ihnen wurden für knapp zwei Jahre inhaftiert und später mit ihren Familien auf Basen der Revolutionsgarden unter Hausarrest gestellt. Es gab jedoch Möglichkeiten, mit der Außenwelt zu kommunizieren. So konn­te Saif al-Adl vielbeachtete Texte pub­lizieren, etwa über das Leben Abu Musab al-Zarqawis und über Sicherheit in terrori­stischen Gruppierungen. Einer Tochter Bin Ladens gelang es im November 2009 sogar, in die saudi-ara­bi­sche Botschaft zu fliehen. Das Ereignis war für die iranische Führung peinlich. Seit 2001 hatte sie konsequent geleugnet, dass sich al-Qaida-Kader und ihre Angehörigen im Land aufhielten. Infolge der Flucht kamen aber zahlreiche Details ans Licht.

Für Mai 2003 bis 2009 gibt es keine Indi­zien, dass die festgesetzten al-Qaida-Anfüh­rer Einfluss auf Operationen und ihre Pla­nung nahmen. Doch konnte al-Qaida Iran fast ungehindert als Transitland nutzen, womöglich sogar mit Hilfe der Garden. Ab 2004/05 reis­ten Re­kruten aus der arabischen Welt und Europa meist un­behelligt auf dem Landweg nach Iran und von dort illegal nach Paki­stan. Auch Geld schaffte al-Qaida aus Kuwait und Katar auf diesem Weg nach Pakistan. In der Gegenrichtung entsandte die al-Qaida-Zentrale Kuriere und anderes Personal, die Kon­takt zu den neu gegründeten al-Qaida-Ab­legern und weite­ren verbündeten Gruppen in Saudi-Arabi­en, Irak, Algerien und Jemen hielten.

Phase 3: 2009–2015

In den Jahren 2009 und 2010 erhielten die im Iran festgesetzten al-Qaida-Führer erst­mals seit 2003 wieder größeren Handlungs- und Bewegungsspielraum. Damals wurden meh­re­re Funktionäre und Familienangehörige im Zuge eines Gefangenenaustauschs aus Haft oder Hausarrest entlas­sen. Im März 2010 kam ein iranischer Diplomat frei, den al-Qaida im November 2008 in Peschawar entführt hatte. Offenbar nutzte al-Qaida die Gelegenheit, um inhaftierte Mitglieder frei­zupressen und Richtung Paki­stan zu be­ordern. Außer­dem musste Tehe­ran die Be­wegungsfreiheit von al-Qaida-Funktio­nären in Iran erweitern, unter ihnen Saif al-Adl.

Die Jahre 2009 und 2010 waren für die Organi­sation äußerst wichtig, weil diese seit den Attentaten auf den öffent­lichen Nah­­verkehr in London im Juli 2005 zu keinen nennens­werten Anschlägen mehr imstande gewesen war. Die strategische Debatte darüber in der Führungsriege um Bin Laden mündete in den bisher letzten Versuch, al-Qaidas Akti­vitäten in der west­lichen Welt wiederzu­beleben. In einer Ab­folge von Er­eignissen, die oft als »Euro­plot« bezeichnet werden, schickte die Organisation meh­rere west­liche Rekruten von Pakistan zu­rück in ihre europäischen Heimatländer, vor allem nach Deutschland. Mit kleine­ren Attentaten dort sollten sie demonstrieren, dass al-Qaida wei­ter­hin in der Lage war, ihre Feinde im Westen zu bekämp­fen. Unterdessen hoffte die Organisation, sich in Paki­stan Luft zu verschaffen, um erneut große Anschläge auf westliche Ziele ver­üben zu können.

Es war offensichtlich, dass mehr Handlungsspielraum für die al-Qaida-Führer in Iran und die Freilassung von Personal ein solches Projekt befördern konnten. Doch die Folgen blieben begrenzt. Die meisten Anschlagspläne des Europlots, etwa die der »Düsseldorfer Zelle« 2011, wurden schon in einem frühen Stadium vereitelt. Noch gravierender waren aber die Verluste von Führungspersonal in den Jahren 2011 und 2012. Im Mai 2011 wurde Usama Bin Laden im pakistanischen Abbottabad von US-Spezialkräften getötet. Parallel führten die USA einen gnadenlosen Drohnenkrieg gegen die al-Qaida-Spitze in Nord-Wazi­ri­stan, in dessen Folge der Organisation die Anführer ausgingen und sie in der Bedeu­tungslosigkeit versank. Nur die Führung in Iran hätte dies ändern kön­nen, doch bis 2015 wurden keine Neuig­keiten über die Gruppe rund um Saif al-Adl publik.

Akteure und ihre Motive

Die Beziehung zwischen der Islamischen Repu­blik und al-Qaida war nie stabil, ob­wohl sich so viele al-Qaida-Kader im Land und meist auch unter Kontrolle iranischer Sicherheitskräfte befanden. Tiefes Misstrauen kennzeichnete das gegenseitige Verhält­nis. Zudem gab es Meinungsverschieden­heiten in der al-Qaida-Führung und Kompe­tenzstreitigkeiten unter den Sicherheits­behörden der Islamischen Republik, etwa zwischen dem Qods-Korps und dem Geheim­­dienstministerium (Wezarat-e Ettelaat). Wenn zusammengearbeitet wurde, dann vor allem, weil beide Seiten ein Interesse hat­ten, dass die US-Truppen Afgha­nistan und den Irak verließen. In der Feind­schaft gegenüber den USA, Israel und Saudi-Arabien fanden al-Qaida und die Isla­mische Republik eine gemeinsame Basis.

Al-Qaida

Die Verbindung von al-Qaida und Iran wurde nach den Anschlägen des 11. Septem­ber 2001 aus der Not geboren. Nach ihrer Flucht aus Afghanistan waren die al-Qaida-Führer in Pakistan nicht sicher, wie zahl­reiche Verhaftungen und Auslieferungen an die USA zeigten. Deshalb entschied sich ein Teil von al-Qaida für die Flucht nach Iran. Saif al-Adl soll schon in den 1990er Jahren Kontakte zu den Revolutionsgarden geknüpft haben. So lag es nahe, dass al-Qaidas Militärchef und enge Gefolgsleute den Weg nach Iran wählten. Zu seiner Gruppe gehörten neben Abu Hafs al-Mauri­tani die Ägypter Abu Muhammad al-Masri und Abu al-Khair al-Masri. Hätten sich die al-Qaida-Flüchtlinge an die Absprache mit den Revolutionsgarden gehalten, hätten sie möglicherweise die Verhaftungswelle vom Frühjahr 2003 und die jahrelange Internierung verhindern können.

Trotzdem konnte al-Qaida Iran in den folgenden Jahren als Transitland nutzen. So wichtig war das Land, dass ein al-Qaida-Führer, bei dem es sich um Bin Laden gehandelt haben könnte, es in einem Brief einmal als »unsere wichtigste Arterie für Finanzen, Personal und Kommunikation« beschrieb. Über Iran gelang es al-Qaida, die Verbindung zwischen ihrem damaligen Hauptquartier in Waziristan und sowohl den Verstecken Bin Ladens und Zawa­hiris als auch den Kampfgebieten im Nahen Osten zu halten. Besonders wichtig war der Irak, wo Abu Musab al-Zarqawi im Oktober 2004 al-Qaida in Mesopotamien gründete. Der Libyer Atiyat­ullah al-Libi, später einer der bedeutendsten al-Qaida-Anführer, war jahre­lang für die Kontakte zwischen dem Irak und Pakistan verantwortlich und hielt sich meist in Iran auf. Es gelang ihm und der al-Qaida-Spitze aber nie, Zarqawi und die iraki­sche al-Qaida unter Kontrolle zu bringen.

Bekannt wurde außerdem der syrische al-Qaida-Logistiker Yassin al-Suri, der späte­stens seit 2005 ausländische Kämpfer über Land nach Pakistan und Afghanistan brach­te und sie von dort auch wieder zurück in den Nahen Osten geleitete. Zudem war Suri von seiner Basis im Osten Irans aus für den Transfer von Geldspenden aus den Golf­staaten an die al-Qaida-Zentrale zuständig. Die US-Regierung war fest davon überzeugt, dass Suris Aktivitäten von der iranischen Regierung zumindest geduldet wurden. Auch der deutsche al-Qaida-Rückkehrer Rami M. berichtete 2010, dass Suri »Schleu­ser und für den Transfer von Geld verantwortlich« gewesen sein soll. M. glaubte, Suri habe »mit der iranischen Regierung zusam­mengearbeitet«. Suri wurde im Dezember 2011 von iranischen Behörden verhaftet, nachdem die US-Regierung kurz zuvor seine Aktivitäten offengelegt hatte. Nach seiner Freilassung soll er diese aber späte­stens 2014 wieder aufgenommen haben.

Im Laufe der Zeit dürfte al-Qaida auch den Schutz schätzen gelernt haben, den die internierten Anführer in Iran genossen. Seit der Verstärkung des Drohnenkrieges der USA in Paki­stan 2007 und 2008 verlor al-Qaida binnen weniger Jahre so viele wichtige Kommandeure, dass ihr Hauptquartier in Nord-Wazi­ristan in Bedeutungslosigkeit ver­sank. Zudem starben bei Angriffen während der Jahre 2008 bis 2012 hunderte mittlere Füh­rungskader, Kämpfer und Angehörige ver­bündeter Organisationen. Die al-Qaida-Füh­rer in Iran hingegen überlebten diese Phase. Nur jene, die Iran in Richtung Afgha­nistan, Pakistan oder später Syrien verließen, wur­den ebenfalls getötet, auch Bin Ladens Söhne Saad 2009 und Hamza 2019 in Paki­stan. Die einzi­ge Aus­nahme war der Ägyp­ter Abdallah Ahmad Abdallah (alias Abu Muhammad al-Masri). Am 7. August 2020 wurde er in Teheran Opfer eines Anschlags, der wahrscheinlich auf das Konto einer von Israel kontrol­lierten Gruppe ging.

Die Organisationsspitze in Pakistan war am Wohl ihrer Gefolgsleute in Iran inter­essiert. Das zeigte sich vor allem daran, dass Persönlichkeiten wie Zawahiri mehrfach anordneten, Angriffe auf iranische und schiitische Ziele zu unterlassen. Wichtig wurde dies, als die irakische al-Qaida unter Führung von Abu Musab al-Zarqawi eine antischiitische Strategie verfolgte und hun­derte Anschläge auf schiitische Politiker, religiöse Würdenträger und Zivilisten ver­übte. Der Jordanier und seine Nachfolger weigerten sich, den Anweisungen aus Paki­stan zu folgen. Andere al-Qaida-Ableger und auch al-Qaida in Afghanistan hingegen hielten sich daran.

Iran

Auf den ersten Blick scheint es ungewöhnlich, dass die schiitischen Islamisten in Teheran al-Qaida-Führern seit über 20 Jah­ren Zuflucht gewähren, obwohl Bin Laden und seine Gefolgsleute die Schiiten als »Ungläubige« betrachten und die Iraner mit schiitenfeindlichen Schimpfworten belegen. Doch hat sich die Führung der Islamischen Republik wiederholt als pragmatisch erwie­sen, wenn es darum ging, eigene Sicherheitsinteressen zu verfolgen. Bei al-Qaida dürfte – ähnlich wie bei der sunnitischen Hamas, die von Iran als Brückenkopf in den palästinensischen Gebieten genutzt wird – vor allem die gemeinsame Feindschaft gegenüber den USA und Israel die wichtigste Voraussetzung für eine mögliche Ko­operation mit Teheran gewesen sein.

Defensive Motive

Es dürfte in erster Linie ein defensives Motiv gewesen sein, das die iranische Poli­tik anleitete und sie zur langfristigen Fest­setzung der Gruppe unter Saif al-Adl und der Angehörigen Bin Ladens bewog. Gerade weil al-Qaida eine schiitenfeindliche Orga­nisation ist, die Teheran ebenso aggressiv gegenübertritt wie den Regierungen der arabischen Welt, ergibt es Sinn für Iran, die al-Qaida-Granden festzuhalten. Teheran fürchtet Unruhen unter den ethni­schen und religiösen Minderheiten in den Rand­gebieten Irans. Fast alle Kurden im Nord­westen und Balutschen im Südosten des Landes sind Sunniten, ebenso eine substan­tielle Minderheit der Araber im Südwesten. Diese Volksgruppen gelten der schiitischen Isla­mischen Republik als Sicherheitsrisiko, unterliegen vielfältigen Diskriminierungen und stehen oft in Opposition zum Regime. Sie scheinen eine besonders große Gefahr zu sein, weil ihre Siedlungsgebiete an den Außengrenzen Irans liegen. Daher sorgt sich die iranische Führung, Nachbarn könn­ten im Konfliktfall versuchen, die Minderheiten gegen den Staat zu mobilisieren. Teheran befürchtet auch, die transnationale al-Qaida könnte bestrebt sein, die Sunni­ten in Iran – unter denen es sepa­ratistische Gruppen gibt– gegen das Regime aufzuwiegeln und Anschläge zu verüben. So­lange aber wichtiges Personal und Familien in Teheran festgehalten werden, ist al-Qaida zur Zurückhaltung gezwungen.

Offensive Motive

Der wichtigste Grund dafür, dass Iran al-Qaida die Nutzung seines Territoriums als Transitgebiet für Personal und Geld gestat­tete, war die Gegenwart amerikanischer Truppen in Afghanistan ab Oktober 2001 und im Irak ab März 2003. Seit den 1980er Jahren lautet Teherans oberstes außenpolitisches Ziel, die USA zum Rückzug aus dem Persischen Golf und dem Nahen Osten zu zwingen. Damit will das Regime die Gefahr eines amerikanischen Angriffs minimieren und das größte Hindernis für die eigene Expansion in die arabische Welt beseitigen. Anstatt aber diesem Ziel näher­zukommen, musste die iranische Führung nach den Anschlägen des 11. September 2001 hin­nehmen, dass Washington mehr Truppen denn je in die Region beorderte und diese in zwei unmittelbare Nachbarstaaten Irans schickte. Die Sorge in Teheran wuchs, als Präsident Bush Iran im Januar 2002 als Teil einer »Achse des Bösen« bezeichnete. Viele Politiker, Militärs und Geheimdienstler in Teheran befürchteten sogar einen Angriff auf Iran, sobald die USA ihren Krieg im Irak erfolgreich beendet hatten.

Die iranische Führung schlussfolgerte, dass sie den US-Truppen zunächst im Irak und später in Afghanistan möglichst viele Probleme bereiten musste, um die amerika­nische Regierung jedes Interesse an einem weiteren Waffengang in der Umgebung Irans verlieren zu lassen. Im Irak baute das Qods-Korps zu diesem Zweck schiitische Terrorgruppen auf, die ab 2003 gegen die US- und briti­schen Truppen im Land vor­gingen. Allerdings halfen die Revolutionsgardisten auch vielen aus Afghanistan geflüchteten Jihadisten bei der Reise über Iran in den Nahen Osten. Vor allem Abu Musab al-Zarqawi und seine Organisation profitierten, als sie 2001/02 über Iran in den Nordirak zogen, sich dort gemeinsam mit Irakern neu organisierten und ab 2003 gegen die USA fochten – seit 2004 als al-Qaida-Ableger. Vermutlich hatten die Iraner damit gerechnet, dass Zarqawis Orga­nisation hauptsächlich die Besatzungs­truppen ins Visier nehmen würde. Zarqawi folgte einer radikal antischiitischen Strate­gie und bekämpfte den neuen irakischen Staat, in dem Teheran irantreue Schiiten in Schlüsselpositionen hievte und deshalb großes Interesse an Stabilität hatte – solange die USA unter Druck blieben.

Die iranische Führung ließ dennoch zu, dass al-Qaida Iran weiter als Transitland nutzte. Das dürfte der Einsicht geschuldet gewesen sein, dass Zarqawis irakische al-Qaida eine eigenständige Organisation war, die sich trotz ihres Namens der Kontrolle durch die al-Qaida-Spitze entzog. Die US-Truppen zogen sich zwar 2011 zurück, kehrten aber schon 2014 wieder, weil der Islamische Staat (IS), Nachfolgeorganisation der irakischen al-Qaida, Teile des Landes eingenommen hatte. Erfolgreicher war der Rückhalt für al-Qaida in Afghanistan. Die Duldung al-Qaidas auf iranischem Territori­um ergänzte die Unter­stützung der Revolu­tionsgarden für die Tali­ban, die spä­testens 2007 verdeckt ein­setzte. Ab 2015 verstärkten die Iraner ihre Hilfe, die fortan zum offenen Geheimnis wurde. Im August 2021 zogen die USA ihr Militär aus dem Irak ab.

Unklar ist, inwieweit Iran darüber hinaus die al-Qaida-Funktionäre und ihre Familien als Faustpfand im Konflikt mit den USA nutzen wollte. In der Frühzeit der Prä­senz al-Qaidas in Iran ab Oktober 2001 gab es Hinweise darauf, dass die Regierung von Präsident Mohammed Khatami bereit war, Jihadisten im Austausch gegen oppo­sitionelle Volksmodjahedin an die USA aus­zuliefern. Doch die Rede Präsident Bushs zur Lage der Nation vom Januar 2002, in der er Iran als Teil einer »Achse des Bösen« brandmarkte, beendete die kurze Phase der amerikanisch-iranischen Zusammenarbeit nach dem 11. September. Seitdem scheinen al-Qaidas Geiseln nicht mehr Gegenstand von Verhandlungen zwischen den USA und Iran gewesen zu sein.

Das neue al-Qaida-Hauptquartier in Syrien, 2015–2020

Im Jahr 2015 leitete die al-Qaida-Führung von Iran aus den bisher letzten Versuch ein, ein neues Hauptquartier auf­zubauen, von dem aus sie Anschläge in der westlichen Welt planen konnte. Ausgangspunkt waren Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch zwischen der jeme­nitischen al-Qaida und der iranischen Regie­rung. Die Jemeniten ließen im März 2015 einen irani­schen Diplomaten frei, der im Juli 2013 in Sanaa entführt worden war. Im Gegenzug entließ Teheran die fünf wich­tigsten al-Qaida-Führer aus dem Gewahrsam. Es han­delte sich um Saif al-Adl, Abu al-Khair al-Masri, Abu Muhammad al-Masri und die Jordanier Khalid al-Aruri (Abu al-Qassam al-Urdunni) und Sari Shihab (Abu Khallad al-Muhandis). Wäh­rend Abu al-Khair al-Masri – damals die offizielle Nummer zwei der al-Qaida nach Aiman al-Zawahiri – und die beiden Jor­danier nach Syrien ausreisten, blieben Saif al-Adl und Abu Muhammad al-Masri in Iran. Die fünf bildeten trotzdem ein ge­mein­sames Führungsgremium, das vor allem die Aktivitäten von al-Qaida in Syrien steuern sollte. Berichten zufolge hieß es Hittin-Komitee, nach der Schlacht von 1187, in der Sultan Salah al-Din die Kreuzfahrer entscheidend schlug.

Nordwestsyrien sollte der Standort des neuen Hauptquartiers sein. Die wichtigsten Gründe für die Entscheidung dürften die geografische Nähe zu Europa und die Ver­fügbarkeit von Rekruten aus dem Nahen Osten, Europa und der Türkei gewesen sein. Für diese war es wesentlich einfacher, nach Syrien als nach Pakistan und Afghanistan zu reisen. Tausende Rekru­ten befanden sich bereits vor Ort, wo die Nusra-Front (Jabhat al-Nusra), ein syrischer al-Qaida-Ableger, gemeinsam mit vielen anderen Rebellen­gruppen das Regime des Präsidenten Bashar al-Assad bekämpfte. Erst im Frühjahr 2015 hatte ein großes Rebellenbündnis, geführt von der Nusra-Front und Ahrar al-Sham, fast die ganze Provinz Idlib mitsamt ihrer gleich­namigen Hauptstadt eingenommen. Zum wiederholten Male schien es, als liefe das Assad-Regime Gefahr zusammenzubrechen. Dies war zwar nicht der Fall, doch schien im August und September 2015 die Hoff­nung gerechtfertigt, dass der Diktator stür­zen und Syrien als Basis für al-Qaida taugen könnte.

Al-Qaida hatte schon 2013 mit dem Auf­bau neuer Strukturen in Syrien begonnen, als sie Anführer, Ausbilder und Kämpfer von Pakistan und Afghanistan aus über Iran dorthin schickte. Die neu entstandene Grup­pe wurde »Khorasan« genannt, womit die Jihadisten Afghanistan und einige Nach­bar­gebiete, oft einschließlich Irans, bezeich­nen. Die Khorasan-Gruppe (Jama’at Khorasan) war zwar in die Nusra-Front ein­gebettet, doch ihr Hauptziel bestand darin, eine Struktur für »externe Operationen« aufzu­bauen, die Anschläge in der westlichen Welt und auf den transatlantischen Luft­­verkehr planen, vorbereiten und durch­führen sollte. Diese Bemühungen wurden aber von den USA vereitelt, die ab Sep­tem­ber 2014 Luftangriffe flogen, bei denen mehrere al-Qaida-Kommandeure getötet wurden.

Abu al-Khair al-Masri und seine jordanischen Mitstreiter schlossen sich der Nusra-Front an und übernahmen führende Rollen, doch brach innerhalb der Organisation rasch ein Konflikt aus. Ursache war das Erstarken des Assad-Regimes, das mit russi­scher und ira­nischer Hilfe im Laufe des Jahres 2016 den Druck auf die Rebellen erhöhte. Die Nusra reagierte, indem sie sich von ihren jihadi­stischen Wurzeln verabschiedete, um ein großes Rebellenbündnis schaffen zu kön­nen. Sie erklärte öffentlich, ihre Verbindun­gen zu al-Qaida abgebrochen zu haben, und gründete im Januar 2017 eine Allianz namens Hai’at Tahrir al-Sham (Befreiungskomitee Syriens, HTS). In der Folge stellte sie sich als national­islamistische Organisation auf, die eher den afghanischen Taliban als al-Qaida ähnelt, den Sturz des Assad-Regimes betreibt und keine Bedrohung für andere Nationen ist.

Diese Abkehr vom Jihadismus ging den al-Qaida-Loyalisten in Nusra und HTS viel zu weit. Doch mussten sie fast zeitgleich mit der HTS-Gründung einen schweren Ver­lust hinnehmen, als Abu al-Khair al-Masri im Februar 2017 einem amerikanischen Drohnenangriff zum Opfer fiel. Saif al-Adl und Abu Muhammad al-Masri gelang es danach aus dem fernen Teheran nicht mehr, entscheidenden Einfluss auf die Nusra zu nehmen. Das Ergebnis war eine Spaltung, denn al-Qaida-loyale Kampf­gruppen bilde­ten im Februar 2018 die Organisation Hurras al-Din (Wächter der Religion), die die Nusra-Front als Ableger al-Qaidas in Syrien ersetzte. Ihre An­führer waren der syrische al-Qaida-Veteran Samir Hijazi (alias Abu Hammam al-Shami) und der 2015 aus Iran angereiste Jordanier Khalid al-Aruri. Die neue Organisation stand für eine kompromisslos jihadistische Strate­gie und lehnte die Zu­sammenarbeit der HTS mit dem türkischen Militär ab, das ab 2017 zur Schutzmacht der Rebellen in Idlib wurde.

Hurras al-Din geriet bald in Konflikt mit HTS, weil sich die neue Organisation mit kleineren Gruppierungen in Ad-hoc-Bünd­nissen zusammenschloss, die sich nicht an das Waffenstillstandsabkommen zwischen der Türkei und dem Assad-Regime hielten und begannen, syrische Truppen und türki­sches Militär in Idlib anzugreifen. HTS startete daraufhin im Sommer 2020 breit angelegte Razzien gegen Hurras al-Din und setzte hunderte Führer und Mitglieder fest. Parallel führte das US-Militär seine Luft­angriffe auf al-Qaida-Füh­rer fort und tötete unter anderem Khalid al-Aruri im Juni 2020. So wurde al-Qaida in Syrien erheblich geschwächt und musste in den folgenden Jahren ums Überleben kämpfen. Einige Führer und Kämpfer gingen in den Unter­grund, ohne noch Einfluss auf die militärische und politische Situation in Idlib zu haben. Ein Hoffnungsschimmer für die Organisation war indes, dass ihr Personal meist nur inhaftiert und nicht getötet wurde. Im Laufe der nächsten Jahre sollen einige Anführer und Kämpfer sogar frei­gelassen worden sein. Dem Monitoring Team der UN zufolge verfügt die Gruppe weiter über 1500 bis 2000 Kämp­fer, auch wenn diese nicht einsatz­bereit sind.

Iran und al-Qaida 2023

Bis heute ist es eine offene Frage, wieso die iranische Führung 2015 der Freilassung der al-Qaida-Führer zustimmte (jenseits des Wunsches, den gefangenen Diplomaten zu befreien). An einer Stärkung der syrischen Jihadisten im Kampf gegen das mit Iran verbündete Regime von Bashar al-Assad kann Teheran nicht gelegen gewesen sein. Die vielleicht überzeugendste These lautet, dass die ausreisenden al-Qaida-Granden zusagten, von Syrien aus Anschläge auf westliche Ziele im Ausland zu verüben. Es gibt zwar keine hinreichenden Belege für diese Behauptung. Plausibel aber ist sie, betrachtet man die wiederholte und andau­ernde Unterstützung für al-Qaida im Irak und Afghanistan nach 2001. Außer­dem ist in älteren internen al-Qaida-Dokumenten – in denen der aus­geprägte Pragmatismus der Iraner betont wird – die Rede von wiederkehrenden Angeboten Irans, Jiha­di­sten bei Attentaten auf amerikanische Zie­le in ihren Heimatländern zu unterstützen.

Da sich Saif al-Adl nach wie vor in Iran aufhält, ist damit zu rechnen, dass die Füh­rung in Teheran im Falle einer (weiteren) Eskalation des Kon­fliktes mit den USA, Israel oder beiden ver­suchen könnte, al-Qaida für Anschläge in der westlichen Welt zu mobilisieren. Zwar verfügt Iran mit der Hisbollah, der palästi­nen­sischen Hamas, irakischen, afghanischen und pakistanischen Schiitenmilizen und den jemenitischen Huthis über Ver­bündete, von denen zumindest die His­bollah in der Lage ist, Attentate auf west­liche Ziele zu verüben. Allerdings blieben in den letzten Jahren mehrere Pläne Irans bzw. der Hisbollah für solche Anschläge erfolglos. Daher kann es aus Sicht Teherans durchaus Sinn ergeben, al-Qaida als in diesem Feld erfahrene Orga­nisation zu unterstützen.

Fraglich ist jedoch, ob die al-Qaida-Zen­trale um Saif al-Adl überhaupt noch in der Lage ist, Anschläge zu planen. Ein Problem ist dabei ihr Aufenthaltsort. Die weitaus meisten Jihadisten weltweit stehen Iran feind­selig gegenüber. Das dürfte es Saif al-Adl erschweren, das al-Qaida-Netzwerk tat­sächlich anzuführen. Hinzu kommt, dass al-Qaida überall dort schwach ist, wo Adl Einfluss aus­üben kann. Dies gilt etwa für Afghanistan, wo die Reste der al-Qaida-Zentrale zwar gemeinsam mit den Taliban einen epochalen Sieg über die USA gefeiert haben, doch die Kämpferzahlen sehr nied­rig sind. Im Jemen führt die ehemals mäch­tige al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel nur noch ein Schattendasein. Hurras al-Din in Syrien verfügt zwar über viele Anhänger, scheint aber nach den Rückschlägen von 2020 nicht mehr hand­lungsfähig. Solange sich ihre Kämpfer in den Gefängnissen der HTS befinden, ist an einen Neuaufbau nicht zu denken. Sollte sich die Situation in Idlib aber ändern – etwa im Fall eines Groß­angriffs von Regimetruppen –, könnte auch al-Qaida-Syrien wiedererstarken.

Stark ist al-Qaida zurzeit vor allem in Westafrika, wo es ihr Ableger Gruppe für die Unterstützung des Islams und der Muslime (Jama’at Nusrat al-Islam wa-l-Musli­min, JNIM) geschafft hat, den jihadistischen Kampf in Mali und seinen Nachbarstaaten zu dominieren. Es ist aber zweifelhaft, ob Saif al-Adl entscheidenden Einfluss auf die Ereignisse in Westafrika nehmen kann. Gelingt es Adl nicht, einen der al-Qaida-Ableger in Afghanistan, Syrien oder Jemen zu neuem Leben zu erwecken oder aber maßgeblichen Einfluss auf JNIM zu gewin­nen, könnten die Tage der al-Qaida-Zentrale gezählt sein. Dies würde einen Prozess ab­schließen, der schon 2003 einsetzte, als die terroristische Initiative erstmals von der Zentrale auf die Ableger überging. Ob al-Qaida ein Ende ihrer zentralen Führung überleben würde, ist fraglich. Denn mit der Ausnahme JNIM verliert das Netzwerk schon seit gut einem Jahrzehnt die Masse der jüngsten Jihadisten an den IS.

Diese Fragmentierung der jihadistischen Szene hat zwar bewirkt, dass sich die Sicher­heitslage in Europa seit 2017 beruhigte. Sie macht Organisationen wie al-Qaida und IS aber auch viel unberechenbarer als früher. Unheil droht nicht mehr nur aus dem Irak und Syrien, sondern auch aus Afghanistan und Westafrika und viel­leicht sogar durch das Zusammenwirken von al-Qaida und Iran. Hinzu kommt angesichts der gegen­wärtigen Eska­lation im Nahen Osten das Szenario von Anschlägen durch Iran oder ihm ergebene Gruppen wie die libanesische His­bollah. Islamistischer Terrorismus bleibt eine große Gefahr für die innere Sicherheit in Europa und für europäische Inter­essen weltweit.

Dr. Guido Steinberg ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

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