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Der Europarat und Russland

Glaubwürdigkeit verlangt konsequente Entscheidungen

SWP-Aktuell 2019/A 29, 09.05.2019, 4 Pages

doi:10.18449/2019A29

Research Areas

Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat Russland im Jahr 2014 das Stimmrecht entzogen. Seither weigert sich die russische Delegation, in der Versammlung mitzuarbeiten. Im Juni werden zwei Jahre vergangen sein, in denen das Land seine finanziellen Beiträge nicht mehr gezahlt hat. Spätestens von diesem Zeitpunkt an muss sich das Ministerkomitee mit dem Fall beschäftigen. Russland hat Bedin­gungen gestellt, die es erfüllt sehen möchte, um seinen Mitgliedsverpflichtungen wieder nachzukommen. Andernfalls droht das Land damit, die Organisation zu verlassen. Statt Russland wie bisher entgegenzukommen, sollte der Europarat kon­sequent seinen Prinzipien folgen und bereit sein, die politischen und finanziellen Kosten zu tragen.

Russland wurde 1996 in den Europarat auf­genommen. Auch damals war die Situation alles andere als einfach. Da das Handeln der russischen Führung im ersten Tschetschenien-Krieg Sorgen bereitete, verzögerte sich der Beitritt. Obwohl Russland im Mai 1998 die Europäische Menschenrechtskonvention ratifizierte, sind fundmentale Menschenrechtsverletzungen ein ernsthaftes Problem geblieben. Nach 23 Jahren Mitgliedschaft unterliegt Russland noch immer dem voll­ständigen Monitoring-Verfahren, das regel­mäßige Besuche und Berichte von Personen vorsieht, die die Parlamentarische Versammlung (PV) ernennt. Die Anzahl der Klageschriften, die in diesen Jahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, wird nicht geringer. Auch die Klagegründe blei­ben sich gleich, weil der Kreml die zugrun­deliegenden strukturellen Probleme im russischen Rechtssystem nicht beseitigt.

In den letzten Jahren hat sich die Proble­matik zugespitzt. Die Menschenrechtslage auf der Krim hat sich stark verschlechtert, seitdem Russland die Halbinsel im März 2014 völkerrechtswidrig annektierte. Ein im Dezember 2015 erlassenes Gesetz erlaubt es dem russischen Verfassungsgericht zudem, Urteile des EGMR zu missachten, wenn es feststellt, dass sie mit der russischen Ver­fassung nicht konform sind. Das ist bereits mehrfach geschehen, bemerkenswerterweise auch im Falle des sogenannten Jukos-Urteils, nach dem der russische Staat um­gerechnet 1,9 Milliarden Euro an die ehe­maligen Aktionäre der erloschenen Öl-Firma Jukos hätte zahlen müssen.

Als Reaktion auf die Annexion der Krim und die russische Intervention im Donbas hat die PV des Europarats im April 2014 die Stimmrechte der russischen Delegation suspendiert. Obwohl sie das Recht gehabt hätte, sich weiterhin an den Debatten und an den meisten Ausschüssen zu beteiligen, hat sich die Delegation seither aus allen PV-Gremien zurückgezogen. Als Folge ist ein Dialog mit der russischen Seite im Rahmen der PV unmöglich geworden.

Im Juni 2017 hat Russland außerdem die Zahlung seiner Beiträge für die Arbeit des Europarats eingestellt. Da somit gut sieben Prozent des Haushalts der Institution feh­len, sind erhebliche Streichungen die Folge, die langfristige Auswirkungen haben. So droht etwa der Jugendarbeit des Europarats das Aus. Wenn ein Mitglied zwei Jahre lang keine Beiträge zahlt, ist eine Überprüfung durch das Ministerkomitee vorgesehen, in dem alle 47 Mitgliedstaaten vertreten sind. Konkret gilt es zu überlegen, ob und unter welchen Bedingungen Russlands Mitgliedschaft aufrechterhalten werden kann.

Gesichtswahrende Angebote

Die von russischer Seite unternommenen Schritte haben eher den Charakter einer Drohung als den eines Dialogangebots. Den­noch hat die PV sich bemüht, einen Weg zu finden, wie Russland gesichtswahrend an seinen Platz in der PV zurückkehren kann. Am bedeutsamsten war ein Reformvorschlag, der die Folgen eines künftigen Stimmentzugs abgemildert und es wesentlich erschwert hätte, die jährlich fällige Akkreditierung einer PV-Delegation abzulehnen. Nachdem im Oktober 2018 eine hitzige Debatte in der PV geführt worden war, wurde das Reform­dokument in den entsprechenden Ausschuss zurückverwiesen. Dieser verfügte anschließend, dass der Stimmentzug fortan nicht für die Wahl von Richterinnen und Richtern bzw. des Generalsekretärs oder der General­sekretärin gelten soll. Letzterer Punkt ist insofern von Belang, als im Juni 2019 ein neuer Generalsekretär gewählt wird.

Die vom Ausschuss getroffenen Entscheidungen lehnte die russische Führung als unzureichend ab. Sie verlangt die volle Wiederinkraftsetzung ihrer Stimmrechte sowie eine Garantie, dass diese Rechte auch künftig nicht mehr entzogen werden kön­nen. Der Kreml insistiert mit anderen Wor­ten auf eine grundlegende Änderung der Verfahrensregeln der PV. Dies haben beson­ders engagierte Delegationen bislang ver­hindert, die sich dagegen sperren, dass man der russischen Delegation entgegenkommt: allen voran jene der Ukraine, aber auch die­jenigen Litauens und Polens.

Ein zweiter Versuch im April 2019 be­stand in dem Vorschlag, die Prozedur für die Verhängung von Sanktionen gegen einen Mitgliedstaat so zu gestalten, dass mehr Akteure (PV, Ministerkomitee, Gene­ralsekretär) eingebunden werden müssen. Dadurch würde es erheblich aufwendiger und langwieriger, Russlands PV-Delegation bei einem neuen Akkreditierungsversuch zu sanktionieren. Die schließlich verabschiedete Resolution sah vor, dass der neue Mechanismus lediglich eine zusätzliche Verfahrensmöglichkeit bieten soll, nicht aber einen Ersatz für die geltende Prozedur. Die genauen Implikationen der Resolution sind noch unklar und dürften ein Thema beim Außenministertreffen am 16. und 17. Mai in Helsinki sein. Inzwischen hat der Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Internationale Angelegenheiten, Leonid Sluzkij, erklärt, dass die genannte Resolu­tion den Weg für eine Rückkehr der rus­sischen Delegation in die PV ebnen könnte. Dies käme allerdings nur dann in Frage, wenn durch eine Änderung der PV-Verfah­rensregeln sichergestellt werde, dass natio­nale Delegationen künftig nicht mehr sanktioniert werden dürfen.

Argumente für und gegen einen russischen Ausschluss

Keiner der Versuche, einen Ausweg zu fin­den, hatte bislang Erfolg. Mitte Mai wird sich das Ministerkomitee mit der Frage der russi­schen Mitgliedschaft beschäftigen. Es kann die Suche nach einer Möglichkeit fortsetzen, Russland zu bewegen, seinen Verpflichtun­gen wieder nachzukommen; es kann aber auch seine Bereitschaft signalisieren, einen russischen Ausschluss nach Artikel 8 des Europarats-Statuts einzuleiten.

Es gibt im Wesentlichen zwei konkur­rierende Ansichten dazu, ob Russland im Europarat verbleiben sollte oder nicht und welche Auswirkungen dies hätte: eine, die sich auf die Konsequenzen für Russland fo­kus­siert, und eine zweite, die die Folgen für die Organisation in den Vordergrund stellt.

Aktive Teile der russischen Zivilgesellschaft plädieren vehement für den Verbleib ihres Landes im Europarat. Sie hegen die Sorge, dass sich die Menschenrechtslage im Fall eines Ausstiegs erheblich verschlech­tern würde, weil Russland nicht mehr an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden wäre. Ihrer Meinung nach würde der Europarat ohne Russland zudem an Gewicht und Einfluss verlieren. Schließlich befürchten sie die Wiedereinführung der Todesstrafe in Russland.

Ihre größten Bedenken gelten aber dem Verlust an Einfluss, den der EGMR auf Russ­land hat. Der EGMR bietet russischen Bür­gerinnen und Bürgern eine wichtige Mög­lichkeit, sich an ein unabhängiges Gericht außerhalb des Landes zu wenden, das ihnen in der Regel auch Recht gibt. Sollte Russ­land den Europarat verlassen (müssen), wäre nicht nur der Klageweg nach Straßburg verstellt, es wäre auch wesentlich schwieri­ger für russische Anwälte und Richter, sich in der Rechtsprechung bzw. bei Verteidigungen auf EGMR-Urteile zu berufen. Auch in der juristischen Ausbildung würde sich der Verlust bemerkbar machen.

Diese Sorgen sind ernst zu nehmen, ent­stammen aber einer Argumentationslinie, die zu einseitig auf die Situation in Russ­land fokussiert ist. In einer breiteren Per­spektive lassen sich Gefahren erkennen, die noch weitreichender sind. Mit seinem Verhalten im und gegenüber dem Europarat zeigt Russland, dass es aktiv darauf hin­arbeitet, die Grundprinzipien der Organi­sation zu schwächen. Die russische Delega­tion hat die PV eher als Plattform genutzt, um Statements abzugeben, denn als Gele­genheit, einen konstruktiven Dialog zu füh­ren. Zudem war sie hauptsächlich darauf bedacht, Kritik an Russland abzumildern. Dabei hat sich die russische Delegation mit anderen verbündet, um Kritik auszuweichen. Ein solches Verhalten unterminiert die Fähigkeit der PV, in wichtigen demokratischen und rechtsstaatlichen Fragen Stan­dards und Normen zu setzen.

In den letzten Jahren hält Russland an seiner Weigerung fest, eingegangenen Ver­pflichtungen nachzukommen. Wie oben geschildert geht es nicht nur darum, dass Russland seit Jahren Menschenrechtsverlet­zungen nicht abstellt, sondern zunehmend auch darum, dass es institutionelle Regeln missachtet oder zu eigenen Gunsten ändert. Wenn der Europarat dieses Verhalten dul­det, stellt er seine Glaubwürdigkeit in Frage. Das ist umso gravierender, als in dieser Zeit demokratische und rechtsstaatliche Prin­zipien auch in anderen europäischen Län­dern immer stärker in Gefahr geraten. Als gesamteuropäische Einrichtung, die sich als Garant dieser Prinzipien versteht, sollte der Europarat klar und nachdrücklich für De­mokratie und Rechtsstaatlichkeit eintreten.

Sollten für Russland Ausnahmeregelungen geschaffen werden oder sollte es dem Land gar gelingen, das Regelwerk des Euro­parats so zu ändern, dass Verletzungen seiner Verpflichtungen ungestraft bleiben bzw. zur Normalität werden, wird das einen Domino-Effekt haben. Auf diese Weise wer­den andere Mitgliedstaaten dazu verleitet, sich ebenfalls über ihre Verpflichtungen hinwegzusetzen. Schließlich ist Russland bei weitem nicht der einzige problematische Mitgliedstaat. Zu erwähnen wären insbe­sondere Aserbaidschan, dessen Delegation in einem Korruptionsskandal verwickelt ist, in den auch andere Mitglieder der PV ver­strickt waren, sowie die Türkei, wo sich die Menschenrechtslage in den letzten Jahren eindeutig verschlechtert hat. Die Türkei hat zudem ihren freiwilligen Status als Groß­zahler (grand payeur) aufgekündigt und ist zu einem gewöhnlichen Beitragszahler geworden. Dies entspricht zwar ihren Ver­pflichtungen, setzt den Haushalt des Euro­parats allerdings zusätzlich unter Druck.

Die gravierendste Folge einer Tolerierung des russischen Verhaltens wäre für den Europarat wie gezeigt ein großer Verlust an Glaubwürdigkeit, der Konsequenzen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Organi­sation hätte. Diese Entwicklung würde mit einer bedrohlichen Erosion demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien einher­gehen, die über kurz oder lang die Existenz­berechtigung des Europarats in Frage stel­len könnte.

Notfalls auf Russland verzichten

Russlands Reaktion auf bisherige Angebote, auf gesichtswahrende Weise seine Verpflich­tungen wieder zu erfüllen, weist dar­auf hin, dass seine Vertreter hoch pokern. Wissen sie doch, dass viele der einschlägigen Akteure einen russischen Ausstieg ver­meiden wollen, darunter auch der General­sekretär des Europarats, Thorbjørn Jagland. Als Preis für ein Verbleiben im Europarat wird Russland folglich erhebliche Zugeständnisse erwarten, insbesondere was seine Stimmrechte in der PV betrifft. Es gibt keine Anzeichen für die Bereitschaft des Kremls, das damals sanktionierte Verhalten zu ändern. Vielmehr möchte die russische Seite eine Situation schaffen, in der die selbstverständliche Erfüllung ihrer Ver­pflichtungen (vor allem die regelmäßige Beitragszahlung) wie ein Entgegenkommen aussieht. In der Regel steigt die russische Führung ungern aus internationalen For­maten aus, die ein gewisses Prestige ver­mitteln und den Status eines »Mitglieds im Klub« verleihen. Doch lässt sich in diesem Fall nicht ausschließen, dass Russland den Europarat von sich aus verlässt, da die Mit­gliedschaft mit zunehmender Kritik am Verhalten der Führung in Moskau einhergeht. Noch hat die russische Seite allerdings ihre Bemühungen nicht aufgegeben, den Europarat dazu zu bringen, ihre Bedingungen zu erfüllen.

Falls Russland den Europarat nicht ver­lässt, steht eine Grundsatzentscheidung an. Kommt man Russland noch stärker ent­gegen oder bewegt man sich in Richtung Ausschluss? Ein Ende der Mitgliedschaft ihres Landes wäre ein herber Verlust für wichtige Teile der russischen Gesellschaft. Für sie sind Verbindungen zu ausländischen Akteuren, die sie in ihrem Kampf für Menschenrechte und Demokratie unter­stützen, äußerst wichtig. Insbesondere wenn der Zugang zum EGMR wegfallen würde, wäre das für russische Bürgerinnen und Bürger überaus schmerzlich.

Allerdings sind die Gefahren noch größer, die mit einem russischen Verbleib zu den von Russland diktierten Bedingungen verbunden wären. Würde man der russi­schen Seite nachgeben, könnte sie die Stan­dards und Prinzipien der Organisation fort­an noch effektiver aushöhlen. Eine konti­nuierliche Schwächung des Europarats (nicht nur durch Russland) würde mit der Zeit auch die von der russischen Zivilgesellschaft angesprochenen Vorteile zunichtemachen, die eine Fortsetzung der russischen Mitgliedschaft mit sich bringt. Es dürfte darum eher im deutschen sowie im gesamt­europäischen Interesse sein, den Europarat mitsamt seinen Prinzipien zu stärken, auch wenn dies bedeuten sollte, auf Russlands Mitgliedschaft zu verzichten.

Der Europarat sollte deswegen keine wei­teren Angebote mehr ausarbeiten, sondern den Druck auf Russland erhöhen, seine Ver­pflichtungen als Mitglied der Organisation ernst zu nehmen und ihre Regeln zu re­spektieren. Deutschland sollte zusammen mit anderen EU-Mitgliedstaaten – bei­spiels­weise mit Frankreich, das Mitte Mai für sechs Monate den Vorsitz im Ministerkomitee übernimmt – seine Bereitschaft erklären, höhere Beiträge zu zahlen, damit der Europarat im Falle eines russischen Ausstiegs nicht auf wichtige Programme verzichten muss. Die Glaubwürdigkeit des Europarats muss Priorität haben vor der Mitgliedschaft eines einzelnen Staates. Insofern sollte das Ministerkomitee bereit sein, notfalls den Ausschluss Russlands in die Wege zu leiten, um die Organisation insgesamt zu schützen und zu stärken.

Dr. Susan Stewart ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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