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Der Donbas-Konflikt: Ein Gipfeltreffen im Normandie-Format birgt Gefahren

Kurz gesagt, 09.10.2019 Research Areas

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat der »Steinmeier-Formel« zugestimmt. Die Einigung ist aber nur ein Scheinfortschritt im Donbas-Konflikt. Sie wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet, meint Susan Stewart.

Seit der Wahl Wolodymyr Selenskyjs zum ukrainischen Präsidenten gibt es Bewegung im Donbas-Konflikt. Nun strebt er ein Treffen auf höchster Ebene im »Normandie-Format« mit Deutschland, Frankreich und Russland an. Um das zu erreichen, hat Selenskyj die sogenannte Steinmeier-Formel akzeptiert – und damit heftige Proteste in der ukrainischen Bevölkerung ausgelöst.

Die nach Bundespräsident und Ex-Außenminister Frank-Walter Steinmeier benannte Formel soll die Umsetzung eines Teils der Minsker Vereinbarungen ermöglichen, die seit Februar 2015 die Grundlage für eine friedliche Lösung des Donbas-Konflikts bilden. Der 2016 unterbreitete Vorschlag sieht vor, dass am – noch zu bestimmenden – Tag der Kommunalwahlen in den besetzten Gebieten ein Sonderstatus in Kraft tritt, der durch ein ukrainisches Gesetz festgelegt wird. Sollten die Abstimmungen von der OSZE als frei und fair bezeichnet werden, erhielten die Gebiete dauerhaft diesen Sonderstatus.

Die Konfliktparteien haben unterschiedliche Erwartungen

Selenskyjs Kalkül scheint zu sein, dass ein Treffen im »Normandie-Format« als ein weiterer Erfolg in seinen Friedensbemühungen gewertet wird. In der Tat ist es den Konfliktparteien in den letzten Wochen gelungen, sich auf wichtige Schritte wie den Bau einer dringend benötigten Brücke in Stanyzja Luhanska zu einigen. Als Erfolg kann Selenskyj auch den Gefangenenaustausch verbuchen, bei dem er unter anderem den renommierten Regisseur Oleh Senzow und 24 ukrainische Marinesoldaten, die im November 2018 von Russland beschossen und gefangen genommen worden waren, nach Hause holte.

Die russische Seite verspricht sich von dem Sonderstatus Einfluss auf die ukrainische Innen- und Außenpolitik. Ihre Hoffnung scheint darin zu bestehen, eine moskautreue Führung der sogenannten Volksrepubliken durch Kommunalwahlen zu legitimieren. Kiew müsste dann deren Teilnahme an nationalen Entscheidungsprozessen akzeptieren. Ein solches Arrangement konterkariert allerdings das ukrainische Interesse, die volle Kontrolle über die besetzten Gebiete wiederzuerlangen und so den Einfluss Moskaus auf die Ukraine deutlich zu verringern.

Die wichtigsten Fragen sind noch offen

In diesem Kontext wirft die Akzeptanz der »Steinmeier-Formel« mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Sie soll den Weg zu Kommunalwahlen ebnen. Aber unter welchen Umständen können diese Wahlen abgehalten werden, und wer entscheidet, ob diese Umstände gegeben sind? Laut den Minsker Vereinbarungen sollen die Wahlen nach ukrainischem Recht und entlang den Kriterien der OSZE stattfinden, was Selenskyj in einer Presse-Konferenz am 1. Oktober bekräftigt hat. Doch wie lässt sich das sicherstellen? Weder die Ukraine noch die OSZE verfügen über den vollen Zugang zu den besetzten Gebieten. Der sicherheitspolitische Kontext der Wahlen bleibt ebenfalls ungeklärt: Können die Wahlen erst dann stattfinden, wenn alle illegalen und ausländischen militärischen Einheiten die besetzten Gebiete verlassen haben? Und wenn ja, wer bestätigt, dass dies eingetreten ist? Schließlich ist die Frage der ukrainisch-russischen Grenze weiterhin ungelöst. Laut Selenskyj muss die ukrainische Seite noch vor den Wahlen die volle Grenzkontrolle wiedererlangen. Das widerspricht nicht nur den Interessen der russischen Seite, sondern auch den Minsker Vereinbarungen.

Eine weitere Frage betrifft die Ausgestaltung des Sonderstatus. Das entsprechende Gesetz hatte das ukrainische Parlament bereits im Oktober 2014 verabschiedet. Es wurde allerdings im März 2015 bis zur Durchführung freier und fairer Wahlen in den betroffenen Gebieten außer Kraft gesetzt. Die Regelung läuft Ende 2019 aus; ein neues Gesetz hat Selenskyj bereits angekündigt – und wird es im Parlament auch durchbekommen. Seine Partei verfügt hier seit den Parlamentswahlen im Juli über eine Mehrheit. Es ist aber noch völlig offen, worin der Sonderstatus für die zurzeit besetzten Gebiete bestehen wird.

Die Einigung auf die sogenannte Steinmeier-Formel ist nur ein Scheinfortschritt. Sie gibt keine Antworten auf die wirklich brisanten Fragen. Zudem ist die Reihenfolge der Schritte strittig. Spätestens 2017 hatte sich die ukrainische Seite mit ihrer Forderung de facto durchgesetzt, dass ein Minimum an Sicherheit in den besetzten Gebieten gewährleistet werden muss, bevor politische Schritte wie die Einführung des Sonderstatus und die Abhaltung von Kommunalwahlen erfolgen konnten. Russlands Beharren auf der »Steinmeier-Formel« kann als Versuch gedeutet werden, diesen stillschweigenden Konsens – erst Sicherheit, dann Politik – wieder infrage zu stellen.

Das Gipfeltreffen weckt falsche Hoffnungen

Die derzeitigen Proteste gegen die »Steinmeier-Formel« in Kiew und anderen ukrainischen Städten sind Zeichen einer wachsenden politischen und gesellschaftlichen Instabilität. Viele befürchten, Selenskyj könnte – eventuell ermuntert durch westliche Akteure – Russland zu weit entgegenkommen und dadurch die bereits eingeschränkte ukrainische Souveränität gefährden. Andere sind kriegsmüde und verbinden mit Selenskyj die Hoffnung, dass er der Gewalt im Donbas ein Ende setzt.

Ein Gipfeltreffen im »Normandie-Format« würde zwar dem vorhandenen Momentum in den ukrainisch-russischen Verhandlungen Rechnung tragen. Ein wirklicher Durchbruch ist aber nicht zu erwarten. Dafür sind noch zu viele Fragen offen, die nur durch harte Arbeit auf anderen Verhandlungsebenen gelöst werden können. Wichtig wäre, dass sich Deutschland und Frankreich vor einem solchen Treffen auf ihre Erwartungen an die ukrainische und die russische Seite sowie auf ihre eigenen roten Linien einigen. Nur so können sie die Vorschläge der Konfliktparteien angemessen bewerten und ihrer Vermittlerrolle gemeinsam und effektiv gerecht werden.