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Der Aufstieg Chinas und das neue strategische Konzept der Nato

Prioritäten setzen – Platz definieren – Partnerschaften vertiefen

SWP-Aktuell 2022/A 05, 20.01.2022, 8 Pages

doi:10.18449/2022A05

Research Areas

Chinas weltpolitischer Aufstieg erschüttert regional wie global etablierte Macht­verhältnisse und stellt westliche Ordnungsvorstellungen zunehmend in Frage. Auch die Nato sieht sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich mit den von China aus­gehenden Herausforderungen zu beschäftigen. Wie die Allianz diese Bedrohungen angehen sollte, wird unter ihren Mitgliedern jedoch unterschiedlich bewertet. China wird ein neuer Schwerpunkt des nächsten strategischen Konzepts der Nato sein, das beim Gipfel im Juni 2022 in Madrid verabschiedet werden wird. Dabei sollte die Nato für sich einen Platz innerhalb des Gefüges euro-atlantischer Institutionen defi­nieren, sodass mögliche Aktivitäten des Bündnisses gegenüber China Wirkung ent­falten, Maßnahmen anderer Organisationen aber nicht dupliziert werden.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte vor dem Nato-Gipfel am 14. Juni 2021 in einem Interview, die Nato-Mitgliedstaaten müssten eine gemeinsame Politik gegenüber einem zunehmend aggressiven China entwickeln. »China teilt nicht unsere Wer­te«, so Stoltenberg, und Sorgen bereite auch der »Einsatz von moderner Technologie, sozia­len Netzwerken und Gesichtserkennung zur Überwachung der Bevölkerung in einem bislang nicht gekannten Maß«. Stoltenberg resümierte: »All dies bedeutet, dass es wichtig für die Nato ist, unsere Politik hinsichtlich China zu stärken.«

Damit vollzog die Allianz endgültig eine Kehrtwende. Schließlich haben die Staats- und Regierungschefs der Nato ihr Augenmerk erst vergleichsweise spät auf die sicherheitspolitische Bedeutung der Volks­repu­blik gerichtet. Lange Zeit dominierte eine Sicht, der zufolge die Allianz und Pe­king eine Reihe gemeinsamer Interessen in der internationalen Politik verfolgten, so etwa in den Bereichen Krisenmanagement, Pirateriebekämpfung und Einhegung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Letztlich aber blieben der Umfang der Zusammenarbeit und die Zahl hochrangiger diplomatischer Kontakte deswegen be­grenzt, weil sich die Nato als euro-atlanti­sche Sicherheitsorganisation begreift, die von Entwicklungen im indopazifischen Raum nur am Rande betroffen sei. Erst der weltpolitische Aufstieg Chinas sowie die daraus resultierende Rivalität mit den USA in den letzten Jahren hat die Sicht der Nato auf China verändert und bewirkt, dass Pekings Außenpolitik in­zwischen auf der Agenda des Bündnisses steht.

Peking auf der Nato-Agenda

Die Nato hat sich in ihrer Londoner Erklä­rung von 2019 erstmals der Volksrepublik als sicherheitspolitische Herausforderung gewidmet: »Wir erkennen an, dass Chinas wachsender Einfluss und die internationale Politik sowohl Chancen als auch Herausforderungen bieten, die wir als Allianz gemeinsam angehen müssen.« In seinem jüngsten Jahresbericht vom März 2021 bekräftigte der Nato-General­sekretär diese etwas ambivalente Position der Nato zu China: »Der Aufstieg Chinas stellt für die Nato sowohl Herausforderungen als auch Chancen dar. Die Nato ist bestrebt, eine konstruktive Beziehung zu China aufrechtzuerhalten, die auf gegenseitigem Respekt und gemeinsamen Interessen beruht. Auf dieser Grundlage hat die Nato auch im Jahr 2020 den Dialog mit China fortgesetzt, um das gegenseitige Verständnis zu verbessern, Missverständnisse auszuräu­men und einen Raum zu schaffen, in dem Meinungsverschiedenheiten angesprochen werden kön­nen.« Gleichzeitig konstatierte Stoltenberg, nicht die Nato sei näher an China heran­gerückt, sondern China an die Nato – nämlich durch sein Handeln in der Ark­tis und in Afrika, durch seine Investitionen in kritische Infrastruktur in Europa sowie in seinen Aktivitäten im Cyber- und Informa­tionsraum.

Vor diesem Hintergrund war der Brüsseler Gipfel der Nato am 14. Juni 2021 beson­ders bemerkenswert, denn im Gipfel-Kom­mu­niqué wurde China in ungewöhnlicher Offenheit als destabilisierende Kraft und systemische Herausforderung bezeichnet, deren Agie­ren die regelbasierte internationale Ord­nung bedrohe. Obwohl die Nato in ihrer Erklärung vermied, China als direkte Bedrohung für das Bündnis darzustellen, ließ sie erkennen, dass unter ihren Mitglie­dern grundsätzlich Konsens besteht, sich mit den von der Volksrepublik ausgehenden Herausforderungen beschäftigen zu müssen. Das neue strategische Konzept, das im Juni 2022 verabschiedet werden wird, ist das Leitdokument, anhand dessen die Allianz diesen Konsens in kohärente und angemessene Maßnahmen umsetzen muss.

Prioritäten der Nato-Mitglieder

Die Mitglieder der Allianz bewerten die geo­politische Herausforderung seitens Chinas gra­duell wie prinzipiell unterschiedlich. Vor allem die USA möchten sich die Nato bei der Austragung ihres Systemkon­flikts mit China zunutze machen. Andere geben der Bedrohung durch Russlands revisioni­stische Außenpolitik Vorrang. Wieder ande­re wollen die Gefähr­dung durch terroristische Gruppierungen und Cyberangriffe in den Mittelpunkt der Nato-Planungen stellen.

Politisch nachvollziehbar ist, dass die Nato-Mitglieder versuchen, die genannten Sicherheitsbedenken mit ihren jeweiligen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu China in Einklang zu bringen. Besonders für die EU und Deutschland ist das eine schwierige Aufgabe. Entsprechend vieltönig klangen die Staats- und Regierungschefs in Brüssel: Während des Gipfels vertrat die Bundesregierung eine relativ weiche Linie gegen­über China und erklärte, dass »vor allen Dingen auch Russland eine große Her­ausforderung« für die Nato und »China in vielen Fragen ein Rivale und gleichzeitig für viele Fragen ein Partner« sei. Der fran­zö­sische Präsident Emmanuel Macron stellte derweil die Frage, ob die Nato überhaupt das rich­tige Format sei, um die Art von Heraus­forderungen zu bewältigen, die von China ausgehen. Er unterstrich, dass »die Nato eine nordatlantische Organisation ist, China nichts mit dem Nordatlantik zu tun hat« und »wir unsere Beziehung zu China nicht einseitig betrach­ten sollten – sie ist viel größer als nur das Militär«.

Angesichts dieser unterschiedlichen Posi­t­ionen war die Nato bislang weder in der Lage, ihre politischen Zuständigkeiten in Bezug auf die Volksrepublik China festzu­legen, noch eine klare Politik zu definieren, mit der sie die durch China hervorgerufenen sicher­heitspolitischen Herausforderungen bewältigen will. Dass das Land im Nato-Kommu­ni­qué er­wähnt wird, signalisiert einen vor­sichtigen, bisher aber ledig­lich rheto­ri­schen Konsens über die Natur der Aufgaben, die dem Bünd­nis aus Chinas Aufstieg erwachsen. Schwe­rer wird es der Allianz fallen, aus diesem Konsens heraus gemeinsam konkrete Ziele und Schritte zu bestimmen, um diese Auf­gaben zu meistern.

Dimensionen der chinesischen Herausforderung

Es ist nichts Neues, dass Chinas Aufstieg andere Staaten und internationale Organi­sationen vor neue Herausforderungen stellt, da er regional wie global etablierte Macht­verhältnisse erschüt­tert und weltanschau­liche Alternativen zu westlichen Ordnungsvorstellungen stärkt. Interessant ist, wie jeder einzelne Akteur in der internationalen Politik sich je nach Aufgabengebiet, innerer Verfasstheit und unterschiedlicher Betroffenheit darauf einstellt. Der Nato und ihren Mitgliedern könnten mehrere Aus­prägungen von Chinas Verhalten zusetzen.

Da sind erstens Pekings Versuche, chine­sische Technologieunternehmen in die digitale Infrastruktur westlicher Länder zu integrieren und so Einfluss auf diese zu nehmen. Dies ist besonders relevant für die anhaltende Debatte in Europa über die drahtlose Technologie der fünften Generation (5G).

Ein zweites Thema ist Chinas zunehmendes Interesse an Investitionen in Europas kritische Infrastrukturen. Neben Stromnetzen, 5G-Netz­werken, Smart-City-Pro­jekten, Untersee­kabeln und vielem mehr zeigen chinesische Staatsunternehmen und deren teils als Privatfirmen getarnte Tochter­gesellschaften ein hohes Interesse an Häfen, besonders in europäischen Nato-Staaten. Die chinesische Staats­reederei Cosco und ihr Schwester­unternehmen China Merchant besitzen schon in 14 europäischen Häfen eigene Terminals oder halten Anteile an Hafen­betreibern. Offen ist, ob die Nato-Län­der diese Häfen verlässlich nutzen können, sollte die Allianz Europa verteidigen müs­sen. Es ist zumindest nicht selbstverständlich, dass die chinesischen Eigentümer ihr erlauben werden, Schiffe in diesen Häfen aufzutanken, zu versorgen oder zu reparie­ren. Die europäischen Nato-Partner sind sich dieser potentiellen Beschränkung zu­nehmend bewusst.

Besondere Sorge bereiten den Nato-Mitgliedern drittens die Versuche Chinas, euro­päische Positionen zu politischen Fragen zu beeinflussen und Differenzen zwischen europäischen Ländern zu ver­tiefen, indem es beispielsweise die wirt­schaftlichen Abhängigkeiten ausnutzt, die es durch seine Seidenstraßeninitiative (Belt and Road Initiative, BRI) erzeugt hat. So dienen Pekings Bemühungen, europäische Regierungen mit chinesischen Inve­stitionen zu locken, nicht zuletzt dazu, die EU nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch zu spalten.

Viertens haben chinesische Cyberangriffe auf europäische und amerikanische Firmen sowie andere Formen militärtechnischer Spionage massiv zugenommen. Laut dem Bericht des deutschen Verfassungsschutzes 2020 demonstrierten in den vergangenen Jahren chine­sische Cyber­akteure eine be­achtliche tech­nologische Weiterentwicklung bei der Verschleierung ihrer Angriffe. In der Vergangenheit kon­zentrierten sich die Attacken chinesischer Cyberakteure vor allem auf wirtschaftliche Akteure. Seit 2019 traten Angriffe auf poli­tische Ziele durch mutmaßlich chi­ne­sische Stellen hinzu.

Für die größten Bedenken, und zwar im engsten sicherheitspolitischen Sinne, sorgt fünftens die zunehmende Nähe zwischen China und Russland – besonders die mili­tärische Zu­sammenarbeit der beiden Staa­ten. Noch ist der Umfang russisch-chinesi­scher Militär­kooperation sehr begrenzt und nicht Aus­druck einer stra­tegischen Fest­legung beider Seiten. Im Jahr 2015 schlossen sich drei Schiffe der chine­sischen Marine dem russischen Flotten­verband im öst­lichen Mittelmeer für eine fünftägige Marine­übung an – Chinas und Russlands erste Kooperation dieser Art in der Peripherie Europas. 2017 ent­sandte China im Rah­men einer achttägigen Übung einen Zer­störer, eine Fregatte und ein Ver­sorgungs­schiff in die russische Ex­klave Kali­ningrad. In der Ostsee war dies die erste solche Militär­übung und ist bis­lang die ein­zige geblie­ben. Überschaubar ist auch die bisherige Zu­sam­menarbeit bei den Land­streitkräften: Im Jahr 2018 erregte Chinas Teilnahme an Russlands groß angelegter Militärübung Wostok-18 zwar erhebliche mediale Auf­merksamkeit, doch stellte China nicht mehr als 3.000 der beteiligten 300.000 Soldaten. Außerdem beschränk­te sich Chinas mili­tä­rische Prä­senz während des Manövers auf die Regionen östlich des Baikalsees.

Gleichwohl ist eine wachsende Interessen­konvergenz und strategische Koordination zwischen China und Russland nicht zu übersehen – immer öfter auch in Europa. Dies trifft nicht nur auf die militärische und militärtechnische Zusammenarbeit zu. Es gilt auch für die Rohstoffförderung in der Arktis, den Ausbau von Internetzensur, die 5G-Netz-Entwicklung (für die Russland Huawei als vertrauenswürdigen Anbieter akzeptiert hat) sowie für Dual-Use-Techno­logien wie Weltraumsysteme, Satelliten­navigation, Softwareentwicklung und un­bemannte Systeme. Russland und China öffnen ihre strategische Kooperation zudem vermehrt für Drittländer. So fand im No­vember 2019 die erste trilaterale russisch-chinesisch-südafrikanische Marine­übung statt, gefolgt von einer russisch-chinesisch-iranischen Marineübung im Indischen Ozean im Monat darauf.

Darüber hinaus betreffen Chinas militärische Ambitionen in Asien und besonders im Indopazifik die Nato-Mitglieder, allen voran die USA. China nutzt seine ver­stärkte Beteiligung an Friedens­missionen der Vereinten Nationen, um seinen Soldaten Operationserfahrung zu verschaffen, leistet damit zugleich aber auch einen Beitrag zu Stabilität und Sicherheit in Krisenregionen, vor allem in Afrika. In ihrer unmittelbaren Peripherie dagegen befeuert die Volksrepu­blik Konflikte mit ihren Nachbarn, zum Beispiel mit Indien in chinesisch-indischen Grenzgebieten, mit den Anrainern im Ost- und im Süd­chinesischen Meer und mit Taiwan, das von China aktiv bedroht wird.

Der Blick aus Peking auf die Nato

Aus Peking folgten postwendend Reaktionen auf den Nato-Gipfel vom Juni 2021. Laut Chen Weihua, Chef des Brüsseler Büros der China Daily, könne die Tatsache, dass China auf dem Nato-Gipfel erstmals ausdrücklich erwähnt worden sei, »ein Wettrüsten auslösen und den Welt­frieden untergraben«. Die Global Times hatte schon vor dem Nato-Gipfel gewarnt, die Nato-Mitglieder könnten, »um den USA zu gefal­len«, den Weltfrieden bedrohen, in­dem sie »imaginäre Feinde« (nämlich China) schüfen. Seit Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts habe die Nato nämlich ihre Existenzberechtigung verloren. Das entspricht dem herr­schenden chinesischen Narrativ, dem zufolge die amerikanische Hegemonie im Niedergang begriffen sei. Diesen »Befund« macht die Führung in Peking zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Außen­politik. Im Kontext des globalen Systemwettbewerbs wird so das Mantra »Der Westen steigt ab und der Osten steigt auf« immer häufiger wiederholt. Wenig über­raschend werteten die chinesischen Medien den Abzug von USA und Nato aus Afghanistan im August 2021 als weiteren Beleg für Schwäche, Un­entschlossenheit und man­gelnde Attrak­tivität der westlichen Allianz.

In der chinesischen Lesart benutzen die USA die Nato nicht zuletzt als Instrument, um die EU und Europa zu dominieren. Washington wolle die Sys­tem­konfrontation mit der Volksrepublik verschärfen und dabei auch die EU und andere Verbündete gegen China aufbringen. Chen Weihua ging aber davon aus, dass viele Nato-Mitglieder die Haltung der USA nicht teilen würden, wonach das Bündnis sich im »Kalten Krieg« mit China befinde. Er rief sie auf, sich nicht von den USA manipulieren zu lassen.

Hier ist allerdings zu unterscheiden zwischen der offiziellen Rhetorik und den tatsächlichen Sorgen der chinesischen Füh­rung hinsichtlich der Nato. Denn die chine­sischen Überlegungen folgen einer simplen, aber zutreffenden Analyse: Je mehr militä­rische Fähigkeiten vor allem die USA aus dem euro-atlantischen Raum abziehen, um sie in den Indopazifik zu verlegen, desto weniger Raum bleibt für Chinas Aufstieg. Pekings größte Befürchtung ist, dass die Nato eines Tages zum militärisch global agie­renden Akteur avancieren und Chinas Präsenz im Indopazifik als Teil der militä­rischen Bedrohung für den euro-atlanti­schen Raum definieren könnte.

Europa spielt in der chinesischen Wahrnehmung bislang eine untergeordnete Rolle, weckt aber verstärkt Pekings Wach­samkeit. Es ist der Führung um Präsident Xi Jinping keineswegs entgangen, dass Frank­reich, Großbritannien und die Niederlande inzwischen eigene Flottenverbände in der indopazifischen Region stationiert haben oder dorthin entsenden. Zudem hat die Bundesmarine im August 2021 die Fregatte Bayern in den Pazifik geschickt. Damit woll­te Deutschland ein Signal gegen die chine­sischen Machtansprüche dort setzen, auf die Regel­basiertheit der internationalen wie regio­nalen Ordnung pochen und sich als sicherheitspolitischer Partner asiatischer Staaten anbieten. Als freundliche Geste in Richtung Peking war ein Besuch der deut­schen Fregatte in China geplant. Diesen lehnte die chinesische Führung jedoch ab und machte damit klar, dass sie ein ver­stärktes sicherheitspolitisches Engagement Deutsch­lands im Indopazifik grundsätzlich zurückweist.

Die Grenzen der Nato

Die Vorstöße der europäischen Nato-Staa­ten in den indopazifischen Raum werden vor allem von Beobachtern und Autoren befürwortet, die nach einer (mili­tärischen) China-Strategie der Nato rufen. Europa sind aber militärisch enge Gren­zen gesetzt. So werden die europäischen Nato-Mitglieder mit Ausnahme Groß­britanniens und Frank­reichs keine gewichtige militärische Rolle im indopazifischen Raum spielen können – nicht weil sie dessen politische Bedeu­tung nicht anerkennen wollen, sondern vor allem weil sie nicht in der Lage sind, den amerikanischen Ver­bündeten wirksame militärische Unterstützung zu bieten. Eine militärische Rolle in Asien würde eine gewaltige Anstrengung bedeuten. Mit den derzeitigen maritimen Fähigkeiten und Verteidigungsbudgets der europäischen Staaten ist sie in den kommenden Jahren nicht zu bewältigen. Ebenso unwahrscheinlich ist, dass sich die Europäer politisch auf ein militärisches Engagement in Asien einigen.

Chinas militärischer Aufstieg im Indo­pazifik ist zunächst auch keine direkte mili­tärische Bedrohung für die Nato. Ohnehin gehört Asien nicht zum geographischen Einflussgebiet der Allianz. Beides läuft dem Bestreben der USA zuwider, die Nato-Mit­glieder sicherheitspolitisch stärker in Asien einzubinden. Nicht einmal Chinas Vor­rücken in die europäische Peripherie, be­sonders im militärischen Schulterschluss mit Russland, stellt eine unmittelbare Bedrohung dar.

Neben der sich abzeichnenden mili­tärischen Zusammenarbeit Russlands und Chinas beunruhigen vielmehr die wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, die sich aus Pekings Vorgehen im euro-atlan­tischen Raum ergeben. Chinas Investitionen in Häfen und andere Infra­strukturen sind Ausdruck seines Strebens, westliche Wirt­schaftsprozesse zu beeinflussen, indem es, wenn auch schrittweise und subtil, Ab­hängigkeiten schafft und dann von diesen zu profitieren sucht. Peking be­weist dabei große Geduld und plant seinen Wettbewerb mit dem Westen auf lange Sicht. Chinesische Investitionen sollen ein Einflusspoten­tial aufbauen, auf das sich zu einem späte­ren Zeitpunkt zurückgreifen lässt und das in der Zwischenzeit die demo­kratischen politischen Systeme anfälliger Nationen untergraben kann.

Pekings Politik, in wichtige europäische Häfen und technologische Infrastrukturen zu investieren und diese teilweise zu besit­zen, erfordert vor allem eine wirtschaftliche oder politische Reaktion. Dafür ist die Nato nicht gut gerüstet. Daher sollte sie ver­­meiden, etwas anderes zu suggerieren und China so ungewollt zu einer mili­tärischen Gefahr für den euro-atlantischen Raum zu überhöhen. Einzelne Nato-Mit­glied­staaten und vor allem die EU mit ihren jeweiligen politischen Kompetenzen ver­fügen über mehr Instrumente als der Akteur Nato, um mit einem außenpolitisch ambitionierten China umzugehen. Bis China tatsächlich eine militärische Bedrohung im Nordatlantikraum darstellen könnte, ver­mag die Nato als Institution, die zur regionalen kollekti­ven Verteidigung geschaffen wurde, nur eine begrenzte, wenngleich nicht unwichtige Rolle bei der Bewältigung der Pekinger Herausforderung zu spielen.

Vorschläge für eine China-Agenda

Die Nato sollte erstens ihre eigenen Mög­lich­keiten beim Umgang mit den nichtmili­tärischen Bedrohungen seitens Chinas reali­stisch einschätzen. Angesichts der skizzierten Differenzen innerhalb des Bünd­nisses über die Interessen an sowie die Perzeptionen von China kann es nicht darum gehen, ein alle Aktivitäten der Allianz überwölbendes neues Handlungsparadigma für die kom­menden Jahre zu formulieren – eine Art China-Doktrin der Nato. Vielmehr sollte die Allianz für sich einen Platz im komplexen Gefüge euro-atlantischer Insti­tutionen defi­nieren, sodass mögliche Akti­vitäten des Bündnisses funktional Sinn ergeben, ent­sprechende Planun­gen anderer Organisa­tio­nen aber nicht dupliziert werden. Allerdings müssten sich die politischen Entschei­dungs­träger der Mitgliedstaaten weiterhin auf eine robuste konventionelle und nukle­are Abschreckung durch die Allianz ver­lassen können.

Die Allianz sollte sich zweitens weder ver­zetteln noch ablenken lassen, sondern die bestehenden sicherheitspolitischen Heraus­forderungen klar priorisieren. Für die Nato bleibt bis auf weiteres, schon aufgrund der geographischen Nähe, Russlands aggressive und revisionistische Außenpolitik die un­mittelbarste Bedrohung. Die militärische Herausforderung durch Moskau entspricht genau einer jener Aufgaben, für die das Bündnis vor über siebzig Jahren geschaffen wurde und die entsprechenden Instrumente entwickelt hat. Die Nato sollte die rus­sisch-chinesische militärische Zusammenarbeit aufmerksam verfolgen, aber kein Missverständnis darüber auf­kommen lassen, dass Russland die größere Wachsamkeit verlangt. Alles andere wäre für zahlreiche Mitglieder nicht akzeptabel, würde einen Keil in die Allianz treiben und so die not­wendige innere Geschlossenheit gefährden.

Gleiches gilt für die chinesische Herausforderung: Bislang besteht in der Allianz nur wenig Einigkeit darin, welchen Part sie im Umgang mit Peking spielen sollte. Vieles bleibt vage, Diffe­renzen werden mit diplo­matischen Floskeln überspielt, haupt­säch­lich weil niemand die »Wiederentdeckung« der Nato durch die Regierung von Präsident Biden gefährden möchte. So wie die Einheit des Bündnisses angesichts der russischen Aggression von entscheidender Bedeutung ist, so sollte die Nato auch in der China-Frage eine Spaltung vermeiden.

Zudem wird Chinas Rüstungsentwicklung sicherstellen, dass die Allianz weiterhin ein nukleares Bündnis bleiben wird. Pekings Rüstungspolitik könnte drittens mittelfristig eine Anpassung der Nato-Nuklearstrategie erfordern, denn China ist eine Atommacht mit strategischer Reichweite. Erst im Som­mer 2021 wurden Berichte bekannt, denen zufolge China mit dem Bau von 250–300 neuen Silos für Interkonti­nentalraketen begonnen hat. Das könnte auf eine bedeu­tende Erweiterung der nukle­aren Fähig­keiten Pekings hinweisen. So­lan­ge die Län­der des euro-atlantischen Raums von irgend­einem Punkt der Welt einer atoma­ren Be­drohung ausgesetzt sind, wird die Nato ein nukleares Bündnis bleiben.

Zugleich sollten die Nato-Mitglieder ihre Bestrebungen intensivieren, China in Rüstungskontroll- und Abrüstungsverein­barungen einzubeziehen. So hat Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in seinem Gespräch mit dem chinesischen Außen­minister Wang Yi am 27. September 2021 nicht nur grundsätzlich die Beziehungen zwischen der Nato und China erörtert und den sich ausweitenden Dialog zwischen den beiden Akteuren begrüßt. Stoltenberg forderte Peking zudem auf, sich in puncto nukleare Fähigkeiten und Nukleardoktrin Chinas sinnvoll am Dialog, an vertrauensbildenden Maß­nahmen und an Transparenzmaßnahmen zu beteiligen. Er betonte, dass sowohl die Nato als auch China von einem Dialog über Rüstungskontrolle profi­tieren würden. Schon geraume Zeit ver­lan­gen die USA, dass China an den Verhandlungen über das New-Start-Abkommen teil­nimmt. Die Volksrepublik weigert sich aber bis heute, über ihr wach­sendes Atom­waffenarsenal zu verhandeln. Umso ener­gischer sollten auch die EU-Mitglieder in ihrem Dialog mit der Volksrepublik ver­suchen, China an den Verhandlungstisch zu holen, wenn es um nukleare Rüstungskontrolle geht.

Angesichts der skizzierten internen Dif­ferenzen erscheint es fraglich, ob die Nato eine Militärstrategie eigens für China for­mulieren sollte. Denn lediglich für einige ihrer Mitglieder ist China ein wichtiger Treiber der Außen- und Sicherheitspolitik. Dies gilt besonders für die USA und in ge­ringerem Maß für Kanada, Frankreich und Großbritannien. Und selbst die struk­turelle Dominanz der USA in der Allianz entfaltet nur begrenzte Wirkung, da die Nato für sie nur eines unter meh­reren relevanten Bünd­nissen ist. Die Nato könnte aber viertens die Mitgliedstaaten ermuntern, ihre jeweili­gen Strategiedokumente zum Thema China zumindest zu koordinieren. Militärische Übungen im Indopazifik und Operationen für freie Schifffahrt im Südchinesischen Meer sollten die Mitgliedstaaten auf multi­lateraler oder bilateraler Ebene abstimmen. Dabei sollten sie auch Nato-Partnerländer wie Australien, Finnland, Japan, Neuseeland, Schweden und Südkorea einbeziehen.

Die Nato sollte außerdem fünftens die Beziehungen zu ihren Part­nern im pazifi­schen Raum ver­tiefen, das heißt zu Austra­lien, Neuseeland, Südkorea und Japan. Sie sollte die politisch-konsultative Dimension dieser Verbindungen erweitern, und zwar durch regelmäßige militärische Übungen (vor allem Luft-, See- und Spezialkräfteübungen), darunter auch solche, die der Freiheit der Schifffahrt dienen. Derartige Unternehmungen unter der Flagge der Nato wären eine sinnvolle Ergänzung zu den amerikanischen See- und Luftübungen im Pazifik, an denen seit Langem auch euro­päische Verbündete teilnehmen. An frü­he­ren RIMPAC (Rim of the Pacific)-Übungen der USA beteiligten sich beispielsweise Mili­tärflugzeuge, Schiffe und Stäbe aus Däne­mark, Deutschland, Frankreich, Großbritan­nien, Kanada, den Niederlanden und Nor­wegen.

Für eine optimierte Lagebildgewinnung und einen entsprechenden Informationsaustausch wäre es sechstens von Vor­teil, im indopazifischen Raum und dort vielleicht in einem der Partnerstaaten ein Center of Excellence einzurichten. Eine solche Initia­tive trüge dazu bei, das Verständnis der Allianz für den indopazifischen Raum zu verbessern, ihre Präsenz in der Region zu institutionalisieren und die Partner besser mit den Aufgaben, Strukturen und Abläu­fen der Nato vertraut zu machen.

Schließlich gilt es siebentens Form und The­men des direkten Austausches mit China zu definieren. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Volksrepublik anzustreben scheint, auf Dauer eine »europäische Macht« zu werden. Einige Vorschläge zu einem Nato-China-Dialog oder gar einem ständigen Nato-China-Rat wurden vor diesem Hintergrund bereits unterbreitet. Auch Bundeskanzlerin Merkel hat im Kontext des Brüsseler Gipfels dafür plädiert, China ein Angebot zu einem institutiona­lisierten Dialog zu machen. Dieser würde analog zum Nato-Russland-Rat gebildet werden, dessen Wurzeln bis ins Jahr 2002 zurückreichen. Damit würden die Realität von Chinas wachsendem Einfluss und zu­nehmender Reichweite anerkannt. Die Bündnismitglieder würden angespornt, sich mit den von China ausgehenden Herausforderungen koordiniert und umfassend zu beschäftigen. Ein solches Forum würde unter­streichen, dass diese Dimension des Groß­machtwettbewerbs nicht zwischen China und den Vereinigten Staaten besteht, sondern zwischen China und der transatlan­tischen Gemeinschaft an sich, die durch gemeinsame Werte und Interessen sowie eine gemeinsame Geschichte verbunden ist. Auch könnte ein Nato-China-Dialog oder Nato-China-Rat dazu dienen, Möglichkeiten einer konstruktiven Zusam­menarbeit mit China zu ermit­teln und zu fördern, etwa bei der Pirateriebekämpfung. Noch er­scheint dies verfrüht und angesichts der Spannungen unter den Nato-Partnern wenig realistisch. Einstweilen wäre es ver­dienstvoll, die Koordinierung der china­politischen Strategiedebatten in der Nato und der EU in Gang zu bringen.

Als Fehlschlag einer solchen Koordina­tion muss das im September 2021 verkündete trilaterale Militärbündnis zwischen Australien, Großbritannien und den USA (AUKUS) im Indopazifik gewertet werden. Diese Gründung ging mit Australiens Entscheidung ein­her, nuklear betriebene (aber nicht nuklear bewaffnete) U-Boote aus amerikanischer statt, wie ursprünglich geplant, französischer Fertigung zu erwer­ben. Die mangelhafte oder gänzlich feh­len­de Kommuni­kation von AUKUS mit Frank­reich und der EU hat der transatlantischen Allianz diplo­matischen (und Frankreich auch wirt­schaft­lichen) Schaden zugefügt, den der Sicherheitsgewinn am Pazifik nur schwer aus­gleichen dürfte.

Das AUKUS-Bündnis wurde gleichzeitig mit der am 16. Sep­tem­ber 2021 vorgelegten Indopazifik-Strategie der EU-Kommission und des Hohen Ver­treters der EU ins Leben gerufen. Eine neue Nato-Strategie wäre nicht nur ein erster Schritt auf dem Weg, die Präsenz der EU in der indopazifischen Region zu verbessern. Die Strategie der Allianz wäre auch Türöffner für ein kom­biniertes Vor­gehen der EU-Mitglieder, wenn es darum geht, die entstandenen Heraus­forderungen zu bewältigen. Sie böte einen Ansatz, die Indopazifik-Strategie der EU mit jener der USA zu koordinieren. Ein ent­sprechender künftiger Austausch könnte dazu beitragen, den durch die AUKUS-Ent­schei­dung verursachten Schaden abzumildern. In einer Zeit, in der Nato und EU ein aufeinander abgestimmtes Engagement in der indopazifischen Region anstreben, soll­ten unkoordinierte und potentiell kon­kurrierende sicherheitspolitische Schritte vermieden werden.

Dr. habil. Markus Kaim ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Dr. Angela Stanzel ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Asien.

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