Am 4. September stimmten die Bürgerinnen und Bürger Chiles in einem Referendum über einen neuen Verfassungstext ab. Zwar wurde er mit einer großen Mehrheit abgelehnt. Doch damit ist der Verfassungsprozess noch nicht am Ende, meint Claudia Zilla.
Das Votum war eindeutig: Bei der höchsten Wahlbeteiligung in der Geschichte Chiles (86 Prozent unter Wahlpflicht) sprachen sich rund 62 Prozent der Wählerinnen und Wähler gegen den Entwurf aus, den der Verfassungskonvent im Juli dieses Jahres vorgelegt hatte. Die Ablehnung setzte sich in sämtlichen Regionen des Landes durch, auch in Strafanstalten, wo Inhaftierte zum ersten Mal wählen durften. Nur im Ausland wurde die Zustimmung zur siegreichen Option – dank großer Unterstützung der Chileninnen und Chilenen in Europa und Ozeanien.
Die Erarbeitung einer neuen Verfassung war eine alte Forderung breiter Teile der Gesellschaft, die im Zuge der Massenproteste Ende 2019 lauter geworden war. Die geltende Verfassung stammt in großen Teilen noch aus der Pinochet-Diktatur (1973-1990). Trotz mehrfacher Reformen unter den folgenden demokratischen Regierungen sehen viele in ihr – unter anderem aufgrund ihrer neoliberalen Ausrichtung – ein Hindernis für eine Vertiefung der Demokratie und eine stärkere Rolle des Staates bei der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit. Um den »sozialen Ausbruch« institutionell zu kanalisieren und somit einen Weg aus der Krise zu finden, leitete die politische Elite einen Verfassungsprozess ein. Im Auftaktreferendum vom Oktober 2020 befürworteten 78 Prozent der Wählerinnen und Wähler die Erarbeitung eines neuen Verfassungstextes durch einen direkt gewählten Verfassungskonvent. Dass nun am Sonntag lediglich 38 Prozent dem vorgelegten Entwurf zustimmten, sorgte für Überraschung sowohl im siegreichen als auch im besiegten Lager. Dabei gibt es einige Faktoren, die zu diesem Ergebnis beigetragen haben.
Zum einen geht der Entwurf vielen, die sich eine neue Verfassung wünschen, bei einigen Themen zu weit, darunter die Anerkennung von individuellen oder Kollektivrechten – etwa für die indigenen Gemeinschaften in einem plurinationalen Staat mit Rechtspluralismus. Zudem sehe die Vorlage ein Institutionsgefüge vor, bei dem funktionale Probleme und politische Konflikte vorprogrammiert seien. So hielten selbst politische Kräfte, die für den Entwurf plädierten, eine Überarbeitung des Textes durch den Kongress – nach Annahme und im Einklang mit den Übergangsbestimmungen – für erforderlich. Andere Bürgerinnen und Bürger ohne genaue Kenntnis des neuen Textes hatten mittlerweile das Vertrauen in den Verfassungskonvent und ihre Arbeit verloren, da diese nicht frei von Skandalen und zum Teil durch abwegige Debatten in den Ausschüssen geprägt war. In seiner Zusammensetzung war der genderparitätische Verfassungskonvent stark fragmentiert, wobei Unabhängige und zivilgesellschaftliche Organisationen dominierten. Es fehlte an integrierenden und vermittelnden Führungsfiguren. Einige aktivistische Gruppierungen versuchten, ihre schmalen Agenden und maximale Forderungen durchzusetzen. Vorschläge wie die Ablösung der drei Staatsgewalten durch eine plurinationale Versammlung der Arbeiter und Völker hatten zwar keine Chancen, im Plenum die nötige Zweidrittelmehrheit zu erzielen und somit Eingang in neuen Verfassungstext zu finden, blieben jedoch nicht wirkungslos. Sie schreckten breite Teile der Öffentlichkeit ab.
Darüber hinaus zeigt sich hier insgesamt das systemische Dilemma, eine Repräsentationskrise dadurch überwinden oder abmildern zu wollen, indem die politischen Institutionen für soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Organisationen geöffnet werden. In Repräsentationskrisen ist das Wahlverhalten besonders volatil und richtet sich häufig gegen die Regierenden. Ein Zusammenhang zwischen der Bewertung der Regierungsleistung und der Ablehnung des Verfassungstextes erscheint plausibel – Boric‘ Zustimmungswerte sind heute ungefähr gleichhoch wie der Stimmenanteil für den Verfassungsentwurf. Während die polarisierte Verfassungsdebatte in Chile allgegenwärtig war und sich unter anderem mit ökologischen und identitären Fragen befasste, sahen sich Bürgerinnen und Bürger benachteiligter Gesellschaftssektoren mit den alltäglichen sozioökonomischen und Sicherheitsproblemen weiterhin konfrontiert, auf deren Lösung sie warten. Schließlich überwog die Furcht vor politischer Instabilität, gefördert durch einen Wahlkampf, bei dem die Ablehnung mehr als dreimal so viel finanzielle Unterstützung erhielt wie die Zustimmung.
Der Verfassungsprozess gilt trotz des Wahlergebnisses nicht als abgeschlossen. In der Politik sind selbst diejenigen, die dieses feiern, der Ansicht, dass die noch geltende Verfassung ausgedient hat. Teile der Konservativen sind davon nicht ausgenommen. Anders verhält es sich im rechten ideologischen Spektrum, das das Potential hat, Stimmen der Unzufriedenen anzuziehen. Insgesamt herrscht in der Politik ein relativ breiter Konsens darüber, dass es kein Zurück zu einem Status quo ante geben kann. Eine große gesellschaftliche Mehrheit strebt eine Demokratisierung der Demokratie an. So dürften viele Konzepte und Artikel des abgelehnten Verfassungsentwurfes in einer neuen Fassung wieder zu finden sein.
Als Befürworterin des Verfassungsprozesses und des neuen Verfassungstextes geht die Regierung aus diesem Urnenausgang geschwächt hervor. Eine partielle Kabinettsumbildung ist bereits erfolgt. Nach der Auszählung erklärte Präsident Boric, die kritische Stimme des Volkes verstanden zu haben. Die Politik müsse der Verunsicherung der Gesellschaft begegnen. Daher werde er sich für eine Wiederauflage des Verfassungsprozesses einsetzen, bei der Kongress und Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle spielen sollen. In diesem Kongress sind allerdings die Oppositionskräfte doppelt so stark vertreten wie im Verfassungskonvent, was die Vereinbarung restriktiverer Bedingungen für die Erarbeitung einer neuen Verfassung erwarten lässt. Während sich Chileninnen und Chilenen über die Notwendigkeit einig sind, die alte politische und Gesellschaftsordnung zu überwinden, setzen sie nun die Suche nach einem umfassenden positiven Konsens fort.
Der Anfang einer »Scharnierpräsidentschaft« inmitten eines Verfassungsprozesses
doi:10.18449/2022A18
Der für ein linkes Wahlbündnis angetretene Kandidat Gabriel Boric wird neuer Präsident Chiles. Die Wahl ist wegweisend für das Land, nicht aber für das Lagerdenken zwischen Links und Rechts in Lateinamerika, meint Günther Maihold.
Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Chile am Sonntag fallen in eine Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs. Ein Konsens über die zukünftige Gestaltung des Landes ist noch nicht in Sicht, meint Claudia Zilla.
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Das südamerikanische Land sucht nach einem neuen Gesellschaftsvertrag
doi:10.18449/2020A23