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Die neuartige Rolle der Bundeswehr im Corona-Krisenmanagement

Erste Schlussfolgerungen für die Bundeswehr und die deutsche Verteidigungspolitik

SWP-Aktuell 2020/A 51, 18.06.2020, 8 Pages

doi:10.18449/2020A51

Research Areas

Die Corona-Pandemie fordert die deutschen Streitkräfte in mehrfacher Hinsicht: Die Bundeswehr muss unter den erschwer­ten Bedingungen internationale Einsätze fort­führen, zum Beispiel in Mali. Zudem muss sie die seit 2016 begonnene Refokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung voranbringen. Gleichzeitig unterstützt sie in der akuten Krise die zivi­len Behörden in einem bislang unbekannten Ausmaß mit Perso­nal, Material und logis­tischen Dienstleistungen. Dabei hat sich schnell gezeigt, dass ihre Möglichkeiten bei sol­chen Katastrophenfällen begrenzt sind. Die Pandemie offenbart vorhandene Pro­bleme, etwa bei Führungsstrukturen, wirft aber auch neue Fragen auf, etwa über den Umgang mit biologischen Bedrohungen. Es ist bereits jetzt absehbar, dass sich die Rahmenbedingungen für die Bundeswehr lang­fristig ver­ändern werden, von den internationalen sicherheitspolitischen Heraus­forderungen bis hin zu den politischen und wirtschaftlichen Folgen. Daher sollte die Krise genutzt werden, um notwendige interne Reformen anzustoßen.

Im März 2020 gaben die USA und mehrere europäische Staaten bekannt, dass sie ihre gemeinsame Militärübung »DEFENDER-Europe 20«, die größte seit Ende des Kalten Krieges, aufgrund der Corona-Pandemie abbrechen. Eigentlich wollten sie gemeinsam üben, Truppen quer durch Europa zu bewegen. Doch das Risiko war zu groß, damit der Verbreitung des Virus Vorschub zu leisten. Mitte März 2020 wurden erste Infektionen in den US- und in den euro­päi­schen Streitkräften bekannt. Dies hat einer­seits die Frage aufgeworfen, wie sich die Pandemie kurz­fristig auf die Streitkräfte auswirkt. Ande­rerseits gilt es zu analysieren, welche Folgen die Pandemie mittel- bis langfristig für die Handlungs­fähigkeit und den Hand­lungsrahmen der Bundeswehr haben wird.

Die Rolle der Bundeswehr im akuten Krisenmanagement

Kurzfristig sah sich die Bundeswehr bereits im frühen Stadium der Pandemie mit Unter­stützungsgesuchen von Ländern und Kommunen konfrontiert. Grundlage für den Einsatz der Bundeswehr im Inneren ist Artikel 35 Grundgesetz (GG); er gestattet neben der grundsätzlichen Amtshilfe von Behörden untereinander (Art. 35 Abs. 1 GG) Amtshilfe­ersuchen der Bundesländer an die Streit­kräfte im Falle von Naturkatastrophen oder bei besonders schweren Unglücks­fällen (Abs. 2 und 3). Solchen Unterstützungsleistungen sind jedoch beim Einsatz militä­rischer Mittel klare Grenzen gesetzt, anders als in europäischen Nachbarländern. Der Einsatz von Soldaten im Inne­ren, wie etwa in Frankreich im Rahmen des Anti-Terror-Planes »Vigipirate«, sind in Deutschland nicht denkbar.

Seit Anfang April haben alle Bundes­länder Amtshilfe bei der Bundeswehr be­antragt und erhalten. Die meisten Gesuche konzentrierten sich auf logistische Hilfe. Die Bundeswehr hat auf diese Anfragen mit zahlreichen Unterstützungseinsätzen, dem Aufbau neuer Strukturen sowie der Akti­vie­rung der Reserve reagiert.

Praktische Unterstützung: Erstmals am 19. März 2020 gab der Inspekteur der Streit­kräftebasis (SKB) und Nationale Terri­toriale Befehlshaber bekannt, dass die Bundeswehr vermehrt Unterstützungs­leistungen in Deutschland anbieten wird. Am 4. Juni lagen über 632 Amtshilfe­anträge vor, davon wurden 344 gebilligt. Schwerpunkte sind die Unterstützung in Alten- und Pflege­heimen sowie die Hilfe für Gesundheits­ämter bei der Nachverfolgung von Infek­tionsketten. Praktisch heißt das, dass die Bundeswehr Personal, Mate­rial, Transport anbietet und Infrastruktur bereitstellt.

In einem ersten größeren Einsatz unterstützte sie zum Beispiel zivile Hilfsorgani­sationen, Menschen zu versorgen, die an der deutsch-polnischen Grenze im Stau stan­den, der durch die Grenzschließung und die Einreise­bestimmungen entstanden war. Zudem hilft das Bundesamt für Aus­rüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bun­deswehr (BAAINBw) dem Bundes­gesund­heitsministerium in Zusammen­arbeit mit der Beschaffungsorganisation des Bundes­finanzministeriums dabei, dringend benö­tigte Schutzausstattung zu beschaffen. Darüber hinaus flog die Bundeswehr im März und April 2020 über 20 Intensiv­patienten aus stark von Covid‑19 betroffenen Regio­nen in Italien und Frankreich zur Behandlung nach Deutsch­land. Als weiteres Zeichen euro­päischer Solidarität stellte sie medizinisches Material bereit, wie Be­atmungs­geräte für Großbritannien, und nutzt ihren Luft­transport für Material­beschaffung aus China.

Neue temporäre Strukturen: Für dieses Krisenmanagement hat die Bundeswehr neue, temporäre Strukturen aufgebaut: das Ein­satz­kontingent Hilfeleistung Corona, zu­sam­men­gesetzt aus Soldaten bestehender Strukturen. Am 26. März 2020 kündigte der Generalinspekteur der Bundeswehr an, vier regionale Führungsstäbe für bis zu 15 000 Soldaten im Rahmen eines Nothilfestabes einzurichten. Diese Soldaten sollen fol­gen­de Aufgaben übernehmen:

  • 5 500 Soldaten für »Absicherung/Schutz«,

  • 6 000 für »Unterstützung der Bevölkerung«,

  • 600 Militärpolizisten der Feldjäger für »Ordnungs-/Verkehrsdienst«,

  • 18 Dekontaminationsgruppen mit insgesamt etwa 250 Soldaten der ABC-Abwehr für Des­infektionsaufgaben,

  • 2 500 Logistiksoldaten mit 500 Lkw für Lagerung, Transport, Umschlag.

Die Soldaten werden dafür in Zugstärke mit unterschiedlichen Bereitschaftszeiten und bei einer Ausfallrate von bis zu 15 Pro­zent vorgehalten. Das heißt, die Einheiten wären immer noch einsatzfähig, wenn 15 Prozent des Personals ausfielen.

Damit stellt die Bundeswehr erstmals in ihrer Geschichte vorbeugend ein Kon­tin­gent für Hilfeleistungen im Inland auf. Dies ist eine Abkehr von der bisherigen Praxis; bis­lang reagierte sie auf Amtshilfe­ersuchen mit vorhandenen Strukturen. Das Einsatzkontingent Hilfeleistung Corona folgt dabei der Logik der Auslandseinsätze: Erstens wurden Kräfte und Fähigkeiten aus den ge­samten Streitkräften mobilisiert und zu einem neuen Kontingent zusammengestellt. Zweitens sind diese Truppenteile aus ihrer bestehenden Befehlskette herausgelöst und unter dem Kommando des Inspekteurs der SKB zusammengefasst. Dieser ist zusätz­lich zu seiner Rolle als Inspekteur der SKB als sogenannter Nationaler Territorialer Be­fehls­haber zuständig für die Führung der Bundeswehr bei Einsätzen im Inneren.

Das Corona-Hilfskontingent folgt damit einem dezentralen Hierarchieverständnis. Die Führungskompetenz liegt bei einem Inspekteur als Primus inter Pares, nicht bei einem zentralen Element oberhalb der Streit­kräfte. Unterhalb des Nationalen Territorialen Befehlshabers steht mit dem Kommando Territoriale Aufgaben und den Landeskommandos einerseits die Ver­bindungs­organisation zur zivilen Verwaltung, die Amtshilfeanträge annimmt, über sie ent­scheidet und die Landesregierungen berät. Andererseits werden die tatsächlich einge­setzten Truppen über vier ad hoc eingerich­tete regionale Führungsstäbe geführt, die an bestehende Kommando­stellen an­docken.

Der Anteil des Zentralen Sanitätsdienstes, der zur Unterstützung in der Corona-Krise abgestellt ist, verbleibt indes unter dem Kommando seines Inspekteurs.

Daraus ergeben sich zwei große Einsatzsäulen, zum einen das Corona-Unter­stüt­zungs­kontingent, zum anderen die Kräfte des Sanitätsdienstes. Ihre gemeinsame Führungsebene ist erst das Bundesminis­terium der Verteidigung (BMVg). Dort wurde ein Corona-Lagezentrum ins Leben gerufen, weil keine dauerhafte Führungseinrichtung vorhanden ist.

Aktivierung von Reservisten: Schließlich rief der Sanitätsdienst der Bundeswehr Mitte März 2020 medizinisch ausgebildete Reser­visten auf, sich freiwillig zum Dienst zu melden. Erstens sollten so Personal­ausfälle in den eigenen Reihen ausgeglichen werden, die durch Schließung von Schulen und Kindertagesstätten ent­stehen, zweitens sollten die medizinischen Kapazi­täten erhöht werden. Da das Reser­visten­wesen in Deutschland erst vor kur­zem wieder in den Fokus gerückt ist, konnten medizinische Fach­kräfte nicht direkt an­gefordert werden. Dem Aufruf folgten über 15 000 Reservisten, von denen 5 500 medi­zinischen Berufen zugeordnet werden konnten. Herangezogen wur­den 550, zum Beispiel in Bundeswehrkrankenhäusern.

Auswirkungen auf internationale Einsätze

Die Corona-Pandemie fordert die Bundeswehr nicht nur im Inneren, sondern er­schwert auch die Rah­menbedingungen für ihre derzeit 12 inter­nationalen Einsätze und einsatzgleichen Verpflichtungen. Diese dauern parallel zur Unterstützung in der Corona-Krise fort. Sollte sich die Pandemie weiter ausbreiten, könnte sie die Stabilisierung und die Abschreckungspolitik Deutsch­lands und seiner Partner beeinträchtigen. So sind in der multinationalen Nato-Battle­group in Litauen, die Deutschland führt und die Teil des Nato-Abschre­ckungs­dispositivs ist, Covid‑19-Infektionen aufge­treten. Sie war deshalb vorübergehend nur begrenzt handlungsfähig. Hemmend wirkt sich auch aus, dass die politische und mili­tä­rische Abstimmung in einer multi­natio­nalen Organisation wie der Nato durch die aktuellen Beschränkungen schwierig(er) ist.

Auch andere Einsätze sind beeinträchtigt. In Mali, wo Bundeswehrsoldaten im Rahmen der europäischen Ausbildungs­mission EUTM malische Sicherheitskräfte ausbilden, wurde der Lehrbetrieb ausgesetzt. Die angedachte Ausweitung des Ein­satzes ist momentan praktisch nicht mach­bar. Weiterhin hat die Bundesregierung Ende März beschlossen, die deutschen Trup­pen in der Ausbildungsmission im Irak zu redu­zieren. Nach der Entscheidung des Irak, Trainings für die eigenen Sicherheitskräfte wegen der Pandemie auszusetzen, haben Frankreich, Großbritannien, Spanien, Por­tugal und die Niederlande ihre Kon­tingente teilweise oder ganz abgezogen. Gleichzeitig fiel der Entschluss, den Abzug der deutschen Trup­penteile aus Afghanistan zu beschleunigen und Quarantäne­zeiten im In- und Ausland während des Kontingentwechsels einzuführen. Das ist sinnvoll, wie im Fall des Afghanistan-Einsatzes die bestätigte Infektion eines Soldaten in Masar‑e Scharif zeigt.

Bislang hat die Pandemie die Einsätze zwar erschwert, aber die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr nicht eingeschränkt. Dies liegt an den geringen Infektionszahlen (Stand 4. Juni 2020: 375 bestätigte Infek­tionen) und an den militärischen Planungen, die stets Puffer beim Personal ein­kalkulieren. Die erwähnten 15 Prozent Aus­fallrate für das Einsatzkontingent Hilfe­leis­tung Corona sind ein Beispiel dafür. Würden allerdings die in der Corona-Struk­tur ver­planten 15 000 Soldaten durch­gängig und über einen längeren Zeitraum abgeru­fen oder würden die Infektions­zahlen signifikant steigen, würde die Bundeswehr Gefahr laufen, ihre Auslandseinsätze personell nicht mehr besetzen zu können. Zurzeit ist das aber nicht zu befürchten.

Schwieriger abzuschätzen sind die in­direkten Folgen der pandemiebedingt ein­geschränkten Einsätze. Dazu gehört etwa, inwieweit die Stabilisierungserfolge in Mali oder im Irak zurückgeworfen werden, wenn die Ausbildung der lokalen Sicherheits­kräfte unterbleibt. Im Irak verzeichnet die Bundeswehr beispielsweise vermehrt Über­griffe auf lokale Sicherheitskräfte.

Die Pandemie offenbart alte Strukturprobleme

Zwar konnte die Bundeswehr schnell Unter­stützung anbieten und betreibt erfolg­reiches Krisenmanagement. Jedoch treten dabei bekannte Probleme deutlich zu Tage, die darüber hinaus einen langfristigen Kriseneinsatz erschweren würden. Sie betreffen vor allem Führungsstrukturen, Personal und Reservistenwesen.

Führungsstrukturen: Die aktuellen Unterstützungsleistungen unterstreichen die bestehenden Unklarheiten und struk­tu­rellen Defizite in der Grundgliederung der Streitkräfte. Dass mit dem Unterstützungskontingent und der sanitätsdienst­lichen Hilfeleistung zwei getrennte opera­tive Säulen parallel existieren, bedeutet zusätz­lichen, aber vermeidbaren Koordinationsaufwand und Effizienzverlust. Außer­dem weicht es vom militärischen Grundsatz der Führung aus einer Hand ab. Das Kon­strukt der regionalen Führungsstäbe hin­gegen ist unter den gegebenen Voraussetzungen zweckmäßig, da es schnelle Füh­rungs­fähigkeit ermöglicht, die regionalen Beson­der­heiten Rechnung trägt. Zudem werden so die Landeskommandos als Ver­bindungs­organisation entlastet. Es ist trotz­dem ein Symptom des übergeordneten Problems, dass den derzeitigen Führungsstrukturen ein zentrales Führungsorgan fehlt, bei dem die verschiedenen Stränge zusammen­laufen, zum Beispiel im BMVg.

Insgesamt zeigt eine Herausforderung wie die aktuelle Pandemie, dass die Bun­des­wehr von einer Reform ihrer Führungsstrukturen profitieren würde. Hierfür können die nun gewonnenen Erkenntnisse hilfreich sein. Die neuen Strukturen, wie die kurzfristig geschaffenen Lagezentren auf den verschiedenen Führungsebenen, sollten evaluiert werden. Das ad hoc ein­ge­richtete Corona-Lagezentrum etwa könnte als Nukleus für ein Führungs­element dienen, das ohnehin aufzubauen wäre, um die Herausforderungen der Landes- und Bündnis­verteidigung zu meis­tern. Auf diese Weise könnten Erfahrungswerte genutzt werden, eingespielte Struk­turen eine Grund­lage bilden.

Personal: Der Einsatz der Bundeswehr in der Pandemie verdeutlicht, wie dünn ihre Personaldecke tatsächlich ist.

Insgesamt hält die Bundeswehr bis zu 32 000 Soldaten für die Unter­stützung in der Corona-Krise bereit. Diese Zahl setzt sich zu­sammen aus den genannten 15 000 Soldaten des Kontingents Hilfeleistung Corona sowie 17 000 Soldaten des Zentralen Sanitäts­dienstes. Dabei handelt es sich um Pla­nungs­größen: Das Personal steht bereit, ist jedoch nicht komplett im Einsatz.

Bei einer Gesamtstärke von circa 183 000 Soldaten sind 32 000 auf den ersten Blick eine gut zu verkraftende Anzahl. Doch selbst zu Hochzeiten der Auslandseinsätze 2009 hatte die Bundeswehr weniger Solda­ten über das Jahr verteilt im Einsatz, näm­lich circa 25 600. Deutlich mehr – 32 000 – Sol­da­ten abzustellen, und das zusätzlich zu lau­fen­den Verpflichtungen (wie den Ein­sät­zen in Mali), ist ein enormer Personalaufwand, den die Bundeswehr lang­fristig kaum stem­men kann. Der Sanitätsdienst stieß schon Anfang April personell an seine Grenzen.

Gleichzeitig waren 2019 in der Bundeswehr circa 23 000 Dienstposten nicht be­setzt. Gerade in Spezialverwendungen und bei Fachkräften können zusätzliche Ver­pflich­tungen zur Überlastung von Schlüssel­personal führen. So stehen etwa sani­täts­dienstliche Fähigkeiten, die im Inland ge­bunden sind, für internationale Einsätze nicht mehr zur Verfügung. Ins­gesamt schrumpft das personelle Polster der Bundes­wehr unter Berücksichtigung der bestehenden Ver­pflich­tungen empfindlich; dies kann lang­fristig die Durchhaltefähigkeit aktu­eller wie künftiger Einsätze infrage stellen.

Die angespannte Personalsituation könnte sich noch verschärfen, sollte sich die Pande­mie negativ auf die Personal­entwicklung der Bundeswehr auswirken, insbesondere auf die Rekrutierung. Im lau­fenden Ein­stellungsjahr könnte der Personal­bestand nicht wie geplant wachsen. Dies liegt zum Beispiel daran, dass pandemie­bedingt unklar ist, ob und wann Ausbildun­gen begonnen werden können. Möglicherweise können die Einstellungsroutinen für die einzelnen Laufbahnen nicht planmäßig stattfinden und mittelfristig Dienstposten nicht besetzt werden, weil dafür vorge­sehenes Personal nicht zum geplanten Zeitpunkt eingestellt werden konnte oder laufende Ausbildungspläne nicht zeitgerecht erfüllt wurden. Aufgrund des spe­zifischen Personalprofils der Bundeswehr ließe sich dies auch nicht durch Quereinstellungen kompensieren. Die Folge in Form von fehlendem oder nicht ausreichend qualifiziertem Personal wäre über mehrere Jahre hinweg spürbar. Obwohl sich erfah­rungsgemäß in wirtschaftlichen Krisen die Rekrutierungslage für die Streitkräfte verbessert, wird das diese Lücken kaum füllen können.

Materialreserve: Im Rahmen der Pandemie wurde offensichtlich, dass die Reser­ven von kritischen Gütern wie Schutz­kleidung unzureichend waren, und zwar sowohl die Reserven der Bundesregierung als auch diejenigen der Bundeswehr. Der Sanitätsdienst geriet mit seinen zwei Materiallagern schnell an seine Grenze.

Tatsächlich hat die Bundeswehr in den letzten Jahren ihre Lagerhaltung grund­legend verändert. Im Rahmen der Sparmaßnahmen wurden viele Standorte geschlossen, darunter auch die sogenannten orts­festen logistischen Einrichtungen (Depots) für die Materialbevorratung und ‑ver­sor­gung. Seit 2002 ist die Zahl der Depots und spezialisierten Zentren von über 100 auf 34 gesunken. Dies wurde begründet mit den niedrigeren Personalzahlen, damit einher­gehendem geringerem Materialbedarf sowie Spardruck. Die Bundes­wehr verringerte so ihre kosten­intensiven Materialbestände, die sie im Krisen­fall hätte bereitstel­len oder selbst ver­wenden können. Stattdessen wollte sie sich bei Bedarf direkt bei der zivilen Wirtschaft ausrüsten, was sich als unrealistisch erwies. Ähnlich erging es der Reserve­lazarett­organisation, über die die Bundeswehr im Kalten Krieg mit bis zu 170 000 Betten verfügte. 2007 wurde sie aufgelöst. Zwar waren Reserve­lazarette nicht für Pandemien wie Covid‑19 ausgelegt, hielten aber medizinisches Material vorrätig, das auch bei Pandemien hätte genutzt werden können.

Potentielle Folgen der Pandemie für Finanzierung und Ausrüstung

Die Materiallage der Bundeswehr ist bereits jetzt kritisch, da die Ausrüstung aufgrund jahrelanger Sparmaßnahmen und interner Misswirtschaft oft mangelhaft und veraltet ist. Darauf weist der Wehrbeauftragte des Bundestages regelmäßig in seinen Jahres­berichten hin. Schon heute kann die Bundes­wehr die Kontingente für internationale Einsätze oder einsatzgleiche Ver­pflich­tungen, zum Beispiel für die schnelle Ein­greif­truppe der Nato, die Very High Readi­ness Joint Task Force (VJTF), oft nur aus­rüsten, wenn sie Material aus mehreren Verbänden zusammenführt. Die Einsatz­bereitschaft von Großgerät wie Panzern oder Flugzeugen ist wegen fehlender Ersatz­teile reduziert. Dieses Problem wird spätes­tens 2023 wieder akut, wenn die Bundeswehr turnus­mäßig die Führung der VJTF übernehmen und einen Großteil des Personals und der Aus­rüstung stellen wird. Im Zuge der Vollausstattung der Bundeswehr ist geplant, ihre Materiallage bis 2031 grund­legend zu verbessern. Doch ist dies bisher finan­ziell nicht hinterlegt.

Infolge der Corona-Pandemie könnte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Europäischen Union (EU) 2020 nach Schät­zungen der britischen Zeitschrift The Economist um 7,4 Prozent fallen, deut­lich stärker als der Einbruch um 4,5 Pro­zent, den die EU 2009 verzeichnet hatte, dem schlimmsten Jahr der Finanzkrise. Es ist davon auszu­gehen, dass potentielle Sparmaßnahmen auch die Verteidigungshaushalte der EU-Staaten treffen werden.

Sollten die bislang geplanten moderaten Steigerungen des deutschen Verteidigungsetats ausgesetzt werden oder signifi­kant ge­ringer ausfallen, könnten sich die be­stehen­den Material- und Personalprobleme der Bun­deswehr weiter verschärfen. Der seit 2014 initiierten Sanierung drohte dann ein Stillstand. Die eingeleiteten Trend­wen­den in den Bereichen Personal, Finan­zen und Material könnten kaum fortgesetzt werden. Anste­hende teure Rüstungs­groß­projekte kämen unter Druck, etwa das deutsch-fran­zösisch-spanische Future Combat Air System (FCAS) zur Entwicklung der nächs­ten Gene­ration eines Kampfflugzeugsystems. Laut Eck­wertebeschluss zur mittel­fristigen Finanz­planung sollen wesent­liche Großvorhaben finanziert werden, um ge­mäß dem Fähig­keitsprofil der Bundeswehr Fähig­keitslücken zu schließen. Ziel ist, die mit den EU- und Nato-Partnern verab­rede­ten Fähigkeitsziele zu erreichen. Expli­zit genannt sind unter anderem Projekte wie das FCAS.

Diese Priorisierung ist sinnvoll, da sie den Fortschritt in einigen Vorhaben sichert. Trotzdem gilt, dass zur Erfüllung des Fähig­keitsprofils eine gesicherte Finanzlinie not­wendig ist. Das sogenannte Fähigkeits­profil der Bundeswehr bildet (zusammen mit der Konzeption der Bundeswehr – KdB) die mili­tärische Ableitung des Weißbuches von 2016: Es übersetzt die politischen Ziele der Bundesregierung in militärische Fähig­keiten und beschreibt, wie diese bis 2031 erreicht wer­den sollen. Jeder Einschnitt bedeutet daher kon­krete Einbußen für die Bundeswehr und damit Lücken bei den Zusagen für EU und Nato.

Zudem würde eine Stagnation oder Kür­zung der Verteidigungsausgaben erneut die Frage aufwerfen, wann Deutschland seiner Zusage an die Nato nachkommen wird, bis 2024 die geforderten 2 Prozent seines BIP für Verteidigung auszugeben. Bereits heute sorgt die Nichterfüllung für Irritationen bei Nato-Partnern (2019 waren es 1,38 Prozent). Denn schon vor der Pande­mie erlaubte die im mittelfristigen Finanz­plan veranschlagte Finanzierungslinie nicht, diese Zusage ein­zu­halten. Bis 2024 sinkt die BIP-Quote (nach heutigen Planun­gen) real sogar. Erste Schätzungen legen nahe, dass der BIP-An­teil des Verteidigungs­haushaltes durch die Pandemie zunächst kurzfristig auf circa 1,5 Prozent ansteigt und danach stetig auf 1,35 Prozent absinkt.

Unabhängig von der Kritik der Partner in EU und Nato zeichnen sich weitere Prob­leme ab, wenn der Verteidigungsetat redu­ziert wird: erstens eine eingeschränkte Hand­lungs­fähig­keit der Bundeswehr, zum Beispiel wegen fehlender Ausrüstung. Die Bundeswehr kann viele Aufgaben nur unter größten Anstrengungen ausführen, wie die Führung der VJTF. Es geht darum, not­wendige Fähig­keiten zu erhalten, eingegangene Ver­pflich­tungen in EU und Nato zu erfül­len und euro­päische Kooperationsverein­barungen wie das FCAS vor­an­zu­treiben. Hinzu kommt: Für die erfolg­reiche Durch­führung von Großprojekten wie dem FCAS ist langfristige Planungssicherheit nötig. Erst wenn die erforderlichen Mit­tel offiziell verplant sind, können Beschaffungs­behörden Projekte ausschreiben.

Zweitens steht Deutschlands Glaub­würdig­keit als Partner auf dem Spiel. Denn Pla­nungssicherheit ist auch auf internationaler Ebene wichtig. Die Bundesregierung hat sich als militärischer Anlehnungspartner für 20 Staaten in Europa positioniert, etwa mit dem Rahmennationen­konzept in der Nato. Darauf richten Partner bereits ihr Handeln aus und begeben sich in Ab­hängigkeit von Deutschland, wie die Inte­gra­tion deutscher und niederländischer Heereskräfte zeigt. Wei­te­re Staaten, zum Bei­spiel Ungarn, orien­tieren sich immer stär­ker an Deutschland, etwa indem sie deut­sche Ausrüstung beschaffen. Kann Deutschland Zusagen nicht einhalten, wirkt sich das nega­tiv auf Kooperationen aus, auf seine Partner und letztlich auf die euro­päische Handlungs­fähigkeit.

Erste Rückschlüsse aus der Krise

Die Corona-Pandemie hat bekannte Prob­leme in der Bundeswehr offenbart und droht, diese zu verschärfen. Generelle Lehren können erst nach der Pandemie ge­zogen werden; erste Schlussfolgerungen lassen sich jedoch schon jetzt formulieren.

Umfassende Sicherheitsvorsorge: Die größte Herausforderung besteht darin, an­stehende Reformen von einem umfassenden Sicherheitsansatz leiten zu lassen. Dieser behält internationales Krisen­manage­ment (IKM) und Landes-/Bündnis­verteidi­gung (LV/BV) im Blick und vermeidet, ledig­lich die von der Pandemie aufge­zeig­ten Probleme der Bundeswehr anzugehen.

Das Weißbuch von 2016 definiert neben LV/BV und IKM auch den Heimatschutz als wesentliche Aufgabe der Bundeswehr. Letzterer spielt aktuell eine bislang nicht gekannte Rolle, fallen doch die Unter­stüt­zungs­leis­tun­gen zur Eindämmung von Covid‑19 dar­unter. Dennoch besteht kein Anlass, die in der KdB 2018 definierte Gleich­rangigkeit aller Aufgaben der Bundes­wehr aufzuheben und den Schwerpunkt (allein) auf den Katastrophenschutz zu legen. Die Bedrohungslage in den Berei­chen Bündnis­verpflichtungen und Stabilisierung hat sich nicht geändert, die Bundeswehr muss diese Aufgaben auch in Zukunft wahr­nehmen können.

Seit der Wiedervereinigung haben sich die Streitkräfte stets auf eine der ihr vor­gegebenen Aufgaben kon­zentriert und auf­grund finanzieller Eng­pässe unter anderem das Beschaffungswesen daran orientiert. Seit den Einsätzen im Jugo­slawienkonflikt lag der Fokus auf dem internationalen Krisenmanagement sowie einsatzbedingtem Sofortbedarf. Dies spie­gelte sich in den Ver­teidigungspolitischen Richtlinien von 2011 wider, die die Bun­des­wehr auf Stabilisierungsoperationen aus­richteten. Nach der Annexion der Krim 2014 beschlossen die Nato-Staaten indes eine Refokussierung auf LV/BV, während Stabilisierung vergleichsweise an Bedeutung verlor. Das Weißbuch 2016 und die KdB 2018 verankern die neue Priorisierung, dementsprechend werden seitdem Aus­bildung und Ausrüstung den Anforderungen der LV/BV angepasst. Im Beschaffungs­wesen bedeutet das zum Bei­spiel zusätzliche Panzer und die Voll­ausstattung von drei Divisionen des Heeres. Mit der Corona-Pan­demie ist die Aufgabe des Schutzes der Bevölkerung in den Mittel­punkt gerückt. Nichtsdestotrotz sollte eine aus­schließliche Ausrichtung an diesen neuen, durch die Pandemie entstandenen Heraus­forderungen ver­mieden werden.

Grund­lage aller Überlegungen sollte eine 360°-Vorsorge sein, die verschiedene Sze­na­rien in den Blick nimmt sowie deren Aus­wir­kungen auf die einzelnen Aufgaben: von LV/BV über Heimatschutz bis zur huma­nitären Not- und Katastrophenhilfe. Eine solche Vorsorge erfordert flexible Systeme, umfassende Ausbildungsansätze und anpassungsfähige Strukturen.

Internationale Abstimmung für transnationale Lösungen: Eventuelle Entscheidungen sollten in Absprache mit den Part­nern in EU und Nato getroffen werden. Die Finanzierungsprobleme infolge wirtschaftlicher Einbrüche werden mit hoher Wahr­scheinlichkeit alle EU- und Nato-Staaten treffen. Daher ist es sinnvoll, sich gegen­seitig frühzeitig und ehrlich über etwaige Sparpläne zu informieren, Kooperationsmöglichkeiten auszuloten, reelle Fähigkeitsziele zu definieren und gemeinschaftlich zu priorisieren.

Personelle Aufwuchsfähigkeit: Die Bundeswehr sollte in der Lage sein, inner­halb kürzester Zeit gezielt Reservisten je nach spezifischer Qualifikation einzuberufen. Dafür sollte das Freiwilligkeitsprinzip der Reserve, an dem die Bundeswehr mit der im Oktober 2019 in Kraft getretenen Strategie der Reserve festhält, für einen Zeit­raum von zehn Jahren in eine verpflichtende Reserve umgewandelt wer­den. Diese Kräfte sollten bestehenden Strukturen zugeordnet sein, wie Bun­deswehrkranken­häusern oder Logistikbataillonen, und regelmäßig üben, so dass sie im Krisenfall schnell identifiziert und einsetz­bar wären. Der bereits geplante Aufbau einer Datenbank »Reserve hilft« wäre ein erster Schritt und sollte zur verpflichtenden Reserve weiterentwickelt werden. Dabei geht es nicht um eine versteckte Wiedereinführung der Wehrpflicht, sondern um eine bessere Nutzung vorhandener Personalreserven.

Unabhängig davon erhält im Zuge der Pan­demie die Diskussion über einen all­gemeinen Gesellschaftsdienst neuen Auf­trieb. Dieser könnte für alle Personen eines Geburtsjahrganges für zwölf Monate ver­pflichtend sein und müsste in einem gesell­schaftlich rele­vanten Bereich geleistet werden, zum Beispiel in Form von Mitarbeit in einer deutschen Nichtregierungsorganisa­tion im Ausland, Dienst in einem Kranken­haus oder Militärdienst. Schätzungen zu­folge beträfe das circa 700 000 Menschen eines Geburtsjahrganges.

Pandemievorsorge verbessern: Der Ein­satz atomarer, biologischer und chemischer Kampfstoffe gehört zu den militärischen Bedrohungsszenarien, auf die sich die Bundeswehr vorbereiten muss. Die Streit­kräfte wären allerdings kaum mehr in der Lage, sich selbst gegen großflächige ABC-Ereig­nisse über die eigene Schutzausstattung hinaus zu schützen, geschweige denn die deutsche Bevölkerung. Auch im Bereich ABC-Schutz wurde stark gekürzt. Die ABC-Abwehrtruppe der Bundeswehr umfasst heute noch zwei Bataillone, insgesamt circa 2 250 Soldaten (1990: acht Bataillone). Die not­wendigen Schutzausstattungen sind nicht mehr flächendeckend vorhanden: Fabrikneue Filter für die ABC-Schutz­mas­ken werden in der Regel nur für Auslands­einsätze ausgegeben, persönliche Schutz­anzüge gehören nicht zur Standardausstattung. Die Kapazitäten der ABC-Abwehr­truppe würden selbst in Verbindung mit denen der Feuerwehr und des Technischen Hilfswerks bei einer deutschlandweiten Be­drohung, die über einen längeren Zeitraum anhält, an ihre Grenzen stoßen. Die Corona-Pandemie unterstreicht die Relevanz der ABC-Abwehr, die oft ein Nischendasein fris­tet. Die aus­reichende Bevorratung von Filtern und Schutzausstattung sollte daher für alle Soldaten der Bundeswehr sichergestellt sein. Zudem wären eine Aufstockung der ABC-Abwehrtruppe oder ein europäischer An­satz zur zivil-militärischen Bekämp­fung von ABC-Bedrohungen sinnvoll.

Logistische Bevorratung: Angesichts der Schwachstellen in der Materialbevor­ratung entschied sich die Bundeswehr be­reits An­fang 2019, acht für die Schließung vor­ge­sehene Depots wieder in Betrieb zu neh­men. Damit soll eine flexible Versor­gung gewährleistet werden. Schließlich hatte die Bundesregierung 2012 in ihrer Risiko­analyse im Bevölkerungsschutz fest­gestellt, dass bei einer Pandemie der Markt oder die Industrie nur begrenzt in der Lage wären, die Nachfrage an Gesundheits­artikeln zu decken. Die aktuelle Pandemie bestätigt diese Analyse. Im Zuge des 360°-Ansatzes sollte daher erwogen werden, zur teureren, aber gebotenen, fähigkeitsübergreifenden Materialbevorratung zurückzukehren.

Um nationale Engpässe mithilfe der euro­päischen Ebene zu überbrücken, könnte über die Anpassung eines Projekts der Ständigen Strukturierten Zusammen­arbeit (PESCO) nach­gedacht werden: des »Net­work of Logistic Hubs in Europe and Sup­port to Operations«. Denkbar wäre, dass die logistischen Knotenpunkte nicht mehr nur der militä­ri­schen Vorauslagerung dienen, sondern auch als Lager für krisen- und katastrophenrelevantes Material, das die EU für Erd­beben, Flutkatastrophen oder Pandemien vorhält. Die so geschaffenen Kapazitäten könnte die EU für innerstaat­liche Notlagen oder Unterstützung in ihrer unmittelbaren Peripherie (zum Beispiel in Afrika) einsetzen.

Dr. Claudia Major ist Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
Major i. G. René Schulz und Major i. G. Dominic Vogel sind Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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