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Boris Johnson auf Kurs No-Deal Brexit

Innenpolitische Dynamik in Großbritannien und Optionen für die EU-27

SWP-Aktuell 2019/A 47, 02.09.2019, 8 Pages

doi:10.18449/2019A47

Research Areas

Boris Johnson geht auf Konfrontationskurs: Seit seiner Ernennung zum Premier­minister des Vereinigten Königreichs ordnet er die Agenda seiner Regierung dem Ziel unter, die EU um jeden Preis zum 31. Oktober 2019 zu verlassen – mit zunehmender Wahrscheinlichkeit ohne Abkommen. An seinen ersten Amtshandlungen wird deut­lich, dass der Wechsel mehr ist als eine Stabsübergabe, wie sie bei einem Führungswechsel inner­halb einer Partei üblich ist. Die Konservative Partei wandelt sich unter seiner Führung endgültig zur Partei des harten No-Deal Brexits, während die Opposition zerstritten bleibt. Ein Machtkampf mit dem Parlament ist in vollem Gange. Ange­sichts einer nur noch theoretisch denkbaren Parlamentsmehrheit sind vorgezogene Neu­wahlen unausweichlich. Entscheidend ist dabei ihr Zeitpunkt: ob vor oder nach dem EU-Austritt. In Anbetracht dessen muss auch die EU ihre Brexit-Strategie überdenken.

Auch nach der Ernennung Boris Johnsons zum britischen Premierminister liegt der Schlüssel zum Verständnis des Brexit-Dramas nach wie vor in der britischen Innenpolitik. Der politische und rechtliche Rahmen bleibt eng: Nach Ablauf von zwei Fristverlängerungen soll das Vereinigte Königreich die Europäische Union (EU) zum 31. Oktober 2019 verlassen. Der mit der EU bereits im November 2018 vereinbarte Aus­trittsvertrag hat sich nach drei ablehnenden Voten im Parlament als nicht mehr­heitsfähig erwiesen. Die neue Regierung lehnt ihn grundsätzlich ab, solange der Nordirland-»Backstop« nicht aus ihm ge­strichen wird. Gleichzeitig hat sich Boris Johnson unmissverständlich (»do or die«) verpflichtet, den Austritt aus der EU Ende Oktober zu vollziehen. In dieser kritischen Lage hält die EU – mit der vollen Rückendeckung der Staats- und Regierungschefs der 27 übrigen EU-Staaten – an dem bis­herigen Austrittsabkommen fest. Ohne Einigung auf ein Austrittsabkommen und ohne weitere Fristverlängerung wird der ungeordnete No-Deal Brexit folglich zur wahrscheinlichsten Option (siehe SWP-Arbeitspapier EU/Europa 1/2019).

Dennoch gilt es auch auf europäischer Seite, einen grundlegenden Wandel in der Brexit-Strategie des Vereinigten Königreichs anzuerkennen. Um die Handlungsoptionen für die EU-27 zu evaluieren, sollten die neue Brexit-Strategie Boris Johnsons, der politische Machtkampf zwischen Regierung und Parlament in London sowie die Ver­hand­lungsinteressen der Europäer gemein­sam betrachtet werden.

Johnsons Brexit-Strategie

Im ersten Schritt hat Boris Johnson die bri­tische Regierung neu aufgestellt und auf den No-Deal Brexit – zumindest als glaub­würdige Verhandlungsstrategie – ausgerich­tet. Alle Minister seiner Regierung mussten sich unmissverständlich zum Austritt am 31. Oktober und einem potentiellen No-Deal Brexit bekennen. Theresa May hatte 2016 zwar ebenfalls die für den Brexit rele­vantesten Ämter – Brexit-Minister, Außen­minister, Handelsminister – jeweils mit bekennenden Brexit-Befürwortern besetzt und diese in die Verantwortung genommen. Um den Zusammenhalt in der Konservati­ven Partei aufrechtzuerhalten, hat sie aber gleichzeitig im Kabinett stets eine Balance zwischen Austrittsbefürwortern und (zumin­dest ehemaligen) Austrittsgegnern gewahrt.

Anders Johnson: In Kombination mit der von ihm geforderten Akzeptanz eines No-Deal Brexits wechselte er mehr als die Hälfte des Kabinetts aus. Befürworter einer engen Anbindung an die EU wie Finanzminister Philip Hammond mussten das Kabinett ver­lassen oder traten zurück. Maßgebliche Gegner des Austrittsabkommens und Befür­worter eines klaren Bruchs mit der EU wur­den befördert, wie etwa Dominic Raab (jetzt Außenminister), Priti Patel (Innenministe­rin) oder Jacob Rees-Mogg (Vorsitzender des Unterhauses). Anders als unter May wird sich das Kabinett unter Johnson geschlossen hinter einen No-Deal Brexit stellen.

Der No-Deal als Basis-Option

Mit dieser neuen Regierungsausrichtung geht eine grundsätzliche Änderung der bri­tischen Brexit-Strategie einher:

Das betrifft zunächst die strategische Kommunikation über einen No-Deal Brexit. Zwar hat auch Johnson öffentlich erklärt, einen geordneten Brexit aushandeln zu wollen. Anders als May richten er und seine Berater aber die gesamte Regierungsarbeit auf den ungeordneten No-Deal Brexit aus. Gleichzeitig knüpft Johnson seine persön­liche Glaubwürdigkeit daran, dass es ihm gelingt, den No-Deal Brexit notfalls auch gegen parlamentarische Widerstände zum 31. Oktober 2019 durchzusetzen.

Dabei konfrontiert Boris Johnson die EU mit Maximalforderungen, die eine Einigung nahezu kategorisch ausschließen. Fokus auch Johnsons ist das Nordirland-Protokoll des Austrittsvertrags (»Backstop«, siehe SWP-Aktuell 55/2018). Bereits getroffene Vereinbarungen, wie diejenige von Dezem­ber 2017 zwischen Großbritannien und der EU, die Grenze in Nordirland auf jeden Fall offenzuhalten, stellt er wieder in Frage. Während die EU‑27 bislang weitere Nach­verhandlungen des Austrittsabkommens ablehnen, hat Johnson nicht eine Änderung des Backstops – etwa in Form eines Zeit­limits – gefordert, sondern dessen Strei­chung. Mit dieser Forderung signalisiert der Premier, dass er nicht an einem Kompromiss interessiert ist, sondern (zunächst) an einer offenen Konfrontation mit der EU.

Langfristige Trennung

Ebenso entscheidend ist, dass Boris Johnson auch für das längerfristige Verhältnis Großbritanniens zur EU und zum Rest der Welt eine gänzlich andere Vision verfolgt als Theresa May. Diese wollte mit ihrem »Chequers«-Ansatz einen Spagat vollfüh­ren – Verlassen von Binnenmarkt und Zollunion, aber eine enge wirtschaftliche Partnerschaft mit reibungslosem Waren- und Dienstleistungsverkehr mit der EU. Dies wurde von den EU‑27 als »Rosinenpicken« aus dem Binnenmarkt zurückgewiesen, hätte aber auch eine enge Anbindung an EU-Regulierung erfordert.

Johnson betont, dass der Brexit nur er­folgreich verwirklicht werden kann, wenn Großbritannien die Möglichkeit bekommt, von EU-Standards abzuweichen. Demnach strebt er nur ein einfaches Freihandels­abkommen mit der EU an, das es ihm er­laubt, eigene Standards zu setzen und flexibel Handelsverträge mit dem Rest der Welt abzuschließen. Aus EU-Perspektive wäre damit die Rosinenpicken-Gefahr ge­bannt, umso notwendiger erscheint ihr dann aber ein Backstop, um die Grenze in Nordirland offenzuhalten.

Machtkampf zwischen Regierung und Parlament

Für seine Neuausrichtung hat Boris Johnson jedoch keine parlamentarische Mehrheit. Erforderlich wären 320 Sitze. Nach den verkorksten Neuwahlen von 2017 führen die Konservativen eine Minderheitsregierung mit Unterstützung der 10 Abgeordne­ten der nordirischen DUP. Johnsons Frak­tion ist durch Austritte und im Zuge von Nachwahlen seit 2017 von ursprünglich 317 auf aktuell nur noch 311 Abgeordnete geschrumpft. Rechnerisch hat Johnson also selbst mit der DUP nur eine Mehrheit von 321 der 639 aktiven Abgeordneten.

Selbst bei striktester Fraktionsdisziplin wäre es mit einer solchen Mehrheit schwie­rig zu regieren. In den Brexit-Abstimmun­gen ist die Fraktionsdisziplin gerade – aber nicht nur – bei den Konservativen fast voll­ständig eingebrochen. Nur in einer von 41 Parlamentsabstimmungen, die seit Januar 2019 zum Brexit stattgefunden haben, sind die Konservativen geeint aufgetreten – dem Misstrauensvotum gegen Theresa May. In Abstimmungen gegen den No-Deal Brexit gab es jeweils mindestens 15 Tories, die be­reit waren, gegen die Regierung zu stimmen. Auf der anderen Seite bleiben jene mindes­tens 46 Brexit-Hardliner, die auch ein mo­difiziertes Austrittsabkommen ablehnen.

Dabei gab es im Parlament in den vielen Brexit-Abstimmungen des ersten Halbjahres 2019, die zum Teil sehr knapp ausgingen, eigentlich nur zwei Konstanten: Auf der einen Seite ist es der Regierung nicht gelun­gen, eine Mehrheit für ihr Austrittsabkommen zu organisieren. Auf der anderen Seite fand sich aber auch für keine einzige alter­native Vorgehensweise eine Mehrheit – ob nun ein zweites Referendum, ein weicherer Brexit mit Zollunion, eine Rücknahme des Austritts oder ein ungeordneter Brexit. Ex­pli­zit und mehrfach abgelehnt hat die Parlamentsmehrheit den No-Deal Brexit. Ein Machtkampf zwischen der Johnson-Regierung und dem Parlament über den No-Deal ist insofern programmiert. Für den weiteren Verlauf des Brexit-Prozesses gibt es vier entscheidende Fragen.

Begrenzte Optionen zur Verhinderung eines No-Deals

Die erste Frage ist, ob sich die aktuelle Parlamentsmehrheit gegen die Regierung Johnson durchsetzen kann, wenn es gilt, einen No-Deal Brexit zu verhindern. Bei genauerer Betrachtung sind die parlamen­tarischen Möglichkeiten für diese Option erstaunlich gering:

Wichtig sind zunächst die grundsätz­lichen rechtlichen Bedingungen. Als einzige Brexit-Variante ist der No-Deal Brexit nicht an Voraussetzungen geknüpft, er bedarf auch keiner gesonderten parlamentarischen Zustimmung. Denn der No-Deal Brexit tritt automatisch ein, wenn zum 31. Oktober 2019 weder ein Abkommen noch eine Frist­ver­längerung mit der EU vereinbart wurde. Während für die Realisierung des No-Deal Brexits ein Verstreichen der Artikel‑50-Frist genügt, müsste das Parlament aktiv eine Veränderung erzwingen, wenn es dieses Szenario verhindern will. Dies könnte das Parlament auf fünf verschiedenen Wegen durchsetzen.

Variante 1 und 2 wären entweder die Zu­stimmung zum vorliegenden Austrittsvertrag oder, im äußersten Fall, das Votum, die Ar­tikel-50-Notiz zurückzunehmen und damit in der EU zu verbleiben. Letzteres ist gemäß Urteil des Europäischen Gerichtshofs bis zum 31. Oktober 2019 jederzeit möglich. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im House of Commons sind aber beide Varian­ten politisch weitgehend aus­zuschließen.

Variante 3 wäre ein erfolgreiches Miss­trauensvotum gegen Premier Johnson mit dem Ziel, Neuwahlen zu erzwingen. Dies würde der britischen Bevölkerung die Mög­lichkeit geben, durch die Wahl einer neuen Regierung über den weiteren Brexit-Kurs zu entscheiden. Die Zeit bis zum 31. Oktober 2019 ist aber derart knapp, dass ein Miss­trauensvotum alleine nicht ausreicht, um Neuwahlen noch vor dem No-Deal Brexit zu erzwingen (siehe unten).

Die vierte Variante wäre denn auch ein Misstrauensvotum in Kombination mit einer Mehrheit für eine technische Übergangs­regierung, deren Hauptaufgabe es wäre, bei der EU eine Fristverlängerung zu beantragen, bevor Neuwahlen durchgeführt werden. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat eine solche Übergangsregierung bereits den anderen Oppositionsfraktionen sowie einigen kon­ser­vativen Rebellen vorgeschlagen, er selbst würde als Übergangspremier fungieren.

Doch während ein erfolgreiches Misstrauensvotum gegen Premier Johnson als letztes Mittel denkbar ist, sind die Hürden für eine alternative Regierung politisch ungleich höher. Erforderlich wäre dafür eine Mehrheit von 320 Abgeordneten, die nur zustande käme, wenn Labour (247), die SNP (35), die Liberaldemokraten (14), die walisische Regionalpartei Plaid Cymru (4) sowie die Grünen (1) und die neue Inde­pendent Group (5) zusammenarbeiten wür­den. Selbst dann fehlten immer noch 14 Stim­men, die unter den Konservativen und den 15 Unabhängigen gewonnen werden müssten. Die Liberaldemokraten haben Corbyns Vorschlag umgehend zurück­gewiesen, doch die angesprochenen Grup­pen haben Gespräche über eine potentielle Übergangsregierung aufgenommen. Am Ende könnte sich für die Liberaldemokraten, besonders aber auch für die konservativen No-Deal-Gegner die Frage stellen, was für sie das kleinere Übel ist: ein No-Deal Brexit unter Boris Johnson oder ein (tem­porärer) Premierminister Jeremy Corbyn.

Vorher steuern die No-Deal-Gegner im Parlament auf die letzte Variante zu: die Regierung per Gesetzgebung zu verpflichten, bei der EU eine Fristverlängerung zu beantragen. Diesen Weg hat das Parlament auch im März/April 2019 gegenüber The­resa May beschritten.

Bei dieser Vorgehensweise wären zwei Hürden zu überwinden. Auf der einen Seite wollte Theresa May im Frühjahr 2019 das Austrittabkommen verabschieden und hat dabei ihren Kritikern im Parlament jede Menge Angriffsfläche geboten, um Ände­rungsanträge einzubringen. Wenn die Regierung Johnson aber keinen Austrittsvertrag will, muss sie dem Parlament bis zum 31. Oktober keine weiteren Gesetzentwürfe zur Verabschiedung vorlegen. Dabei sind noch einige Gesetzgebungsinitia­tiven anhängig, mit denen die Regierung May Großbritannien auf den No-Deal vor­bereiten wollte (z.B. zur Handelspolitik, Finanzmarktregulierung, Notfallgesetz­gebung für Nordirland etc.). Diese Initiativen können – die notwendige Risikobereit­schaft vorausgesetzt – im Zweifelsfall auch erst nach dem No-Deal Brexit ins Parlament eingebracht werden. Mit Hilfe des Unterhausvorsitzenden John Bercow kann das Parlament zwar versuchen, die Kontrolle über dessen Agenda zu übernehmen und entsprechende Gesetze zu verabschieden. Das ist aber schwerer durchzusetzen gegen eine Regierung, die bereit ist, alle parlamentarischen Mittel zu nutzen, um den Handlungsspielraum des Parlaments ein­zuschränken – einschließlich der von Johnson auf den Weg gebrachten erzwungen Parlamentspause.

Auf der anderen Seite kann auch das britische Parlament allein keine Verlängerung von Artikel 50 durchsetzen, sondern lediglich die Regierung verpflichten, einen Antrag bei der EU zu stellen. Die EU‑27 sollten sich in einem solchen Fall aber sehr genau überlegen, um wie viel Zeit die Frist erneut verlängert werden sollte, welches Ziel damit zu verbinden wäre und ob dies für die EU überhaupt tragbar ist. Politisch sollten die EU-27 dabei eigentlich nur dann eine erneute Fristverlängerung akzeptieren, wenn diese mindestens mit Neuwahlen im Vereinigten Königreich verbunden ist.

Keine Mehrheit für das Abkommen in Aussicht

Die zweite entscheidende Frage ist, ob eine parlamentarische Mehrheit für ein Austritts­abkommen möglich wäre, selbst wenn EU‑27 und britische Regierung eine neue Einigung finden würden. Zum jetzigen Zeitpunkt sind daran erhebliche Zweifel angebracht.

So haben auch beim dritten Anlauf in der Konservativen Fraktion noch 34 Abge­ordnete gegen das bestehende Austritts­abkommen gestimmt. Zwar kann deren Zahl bei einem neuen, von Boris Johnson befürworteten Abkommen weiter sinken – 4 der 34 etwa sind mittlerweile Teil der Regierung. Doch haben auch nach Johnsons Amtsantritt bereits 46 konservative Abge­ordnete öffentlich versprochen, gegen das Austrittsabkommen zu votieren. Ihre Kritik an diesem Abkommen geht dabei deutlich weiter und richtet sich nicht nur gegen den Backstop. Den No-Deal vor Augen und die Brexit Party im Nacken, ist zu erwarten, dass die harten EU-Gegner unter den Kon­servativen auch nicht für ein modifiziertes Abkommen stimmen. Hinzu kommt eine Handvoll pro-europäischer Tories, die den No-Deal Brexit ablehnen und zugleich in allen drei Abstimmungen gegen das Aus­trittsabkommen votiert haben.

Zudem haben die 10 Abgeordneten der DUP bisher geschlossen gegen das Austrittsabkommen gestimmt, weil sie den Back­stop, aber auch jedwede Sonderregeln für Nord­irland ablehnen. Ein Abkommen mit der EU, das weder den Backstop noch irgendwelche Sonderregeln für Nordirland ent­hält, ist aber kaum vorstellbar. Die Ableh­nung der DUP wäre insbesondere sicher, wenn der Backstop durch Mechanismen ersetzt würde, mit denen Nordirland, nicht aber das gesamte Vereinigte Königreich teilweise an eine EU‑Regu­lierung gebunden bliebe, um das Offen­halten der Grenze zu garantieren.

So würde auch Boris Johnson – käme ein neues Austrittspaket zustande – vor demselben Dilemma stehen wie seinerzeit Theresa May und wäre auf rund 30+ Stim­men aus der Opposition angewiesen. Weder von den Liberaldemokraten noch von der SNP kann Johnson Unterstützung für ein Austrittsabkommen erwarten. Aus den Rei­hen der Labour Party haben zuletzt 5 Ab­geordnete für das Austrittsabkommen gestimmt, plus 6 der aktuell 15 unabhän­gigen Abgeordneten. Labour als Ganzes hat politisch kein Interesse daran, vor Neuwahlen zum Wegbereiter eines konservativen Brexits zu werden. Dennoch gibt es eine Gruppe von etwa 30 Labour-Abgeordneten, die das Motto »Respect the Referendum« verfechten. Sie haben im August 2019 öffentlich ihre Bereitschaft signalisiert, not­falls für das Austrittsabkommen zu stim­men, um den No-Deal, aber auch ein zwei­tes Referendum zu verhindern. Doch eben jener Gruppe stößt Johnson vor den Kopf, weil er die Parlamentspause erzwungen und angekündigt hat, von EU-Standards abzuweichen, einschließlich dem Schutz von Arbeitnehmerrechten.

Kurzum: Johnson müsste ein politisches Meisterstück gelingen – eine Einigung mit der EU, die ausreicht, um die Gegenstimmen bei den Tories zu minimieren, die DUP an Bord zu holen und das Maximum an Zustim­mung aus der Labour-Fraktion ein­zuwerben.

Vorgezogene Neuwahlen sind unausweichlich

Angesichts dieser Mehrheitsverhältnisse ist die dritte entscheidende Frage, nicht ob, sondern wann es vorgezogene Neuwahlen in Großbritannien geben wird. Seit Ende 2018 ist die gesetzgeberische Arbeit im Unterhaus nahezu vollständig zum Erliegen gekommen. Ob es zum No-Deal Brexit kommt oder nicht: Johnson wird bis Mai 2022 – dem Termin für die nächsten regu­lären Wahlen in Großbritannien – auf dieser Basis nicht regieren können.

Mit Blick auf den engen Brexit-Zeitplan ist es jedoch von höchster Bedeutung, ob die Neuwahlen vor oder nach dem 31. Ok­tober 2019 stattfinden. Sollten sie in die Zeit ab dem 1. November fallen und die Aus­trittsverhandlungen mit der EU bis da­hin nicht erneut verlängert worden sein, wird das Vereinigte Königreich die EU ohne Aus­trittsabkommen irreversibel verlassen. Eine nachträgliche Verlängerung und/oder eine nachträgliche Einigung auf das Austritts­abkommen sind dann nicht mehr möglich.

Diese Zeitabfolge ist deshalb so bedeutsam, weil Boris Johnson als britischer Pre­mierminister nach aktueller Rechtslage die Kontrolle darüber hat, den Zeitpunkt von Neuwahlen festzulegen. Vorgezogene Neu­wahlen können auf zwei Wegen herbei­geführt werden – zum einen mit einem Beschluss des Parlaments auf Vorschlag der Regierung. Dies erfordert jedoch eine Zwei-Drittel-Mehrheit, und diese wird nur dann zustande kommen, wenn Johnson selbst die Initiative ergreift und die Konservativen ebenfalls für Neuwahlen stimmen. Dies dürfte er tun, wenn das Parlament ihn ver­pflichtet, einen Verlängerungsantrag zu stellen. Zum anderen werden Neuwahlen angesetzt, wenn ein Misstrauensvotum gegen den Premierminister Erfolg hatte und innerhalb von vierzehn Tagen kein Alter­nativkandidat bzw. keine Alternativkandi­datin eine Mehrheit findet. Der Wahltermin wird dann jedoch von der Königin auf Vor­schlag des scheidenden Premierministers festgelegt – potentiell auch nach einem No-Deal Brexit Anfang November.

Der Brexit zerpflügt die politische Landschaft im UK

Die vierte entscheidende Frage ist daher, wie die längerfristigen Verschiebungen in der britischen Politik, die der Brexit verursacht, den kurzfristigen Machtkampf zwischen Par­lament und Regierung beeinflussen.

So ist zunächst bemerkenswert, wie stark der Brexit mittlerweile die politischen Iden­titäten im Vereinigten Königreich prägt. Nach einer Studie von »UK in a Changing Europe« ist die Polarisierung in EU-Fragen seit dem Referendum 2016 noch einmal massiv fortgeschritten. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung identifizieren sich ent­weder mit »Leave« oder mit »Remain«. Dem stehen nur 78,5 Prozent der Bevölkerung gegenüber, die sich mit einer politischen Partei identifizieren. Im Durchschnitt iden­tifiziert sich die Bevölkerung politisch also stärker mit Leave/Remain als mit den poli­tischen Parteien. Dies geht so weit, dass einer Befragung von YouGov zufolge die Mehrheit der Mitglieder (!) der Konserva­tiven Partei bereit wäre, für die Durch­setzung des Brexits die Abspaltung Nord­irlands (59%) und sogar die Zerstörung der eigenen Partei (54%) in Kauf zu nehmen. Auch bei den Remain-Befürwortern hat sich die Position jener verhärtet, die gegen einen weichen Brexit sind und für eine komplette Zurücknahme des Austrittsantrags.

Schrittweise orientiert sich das britische Parteisystem entlang dieser stark ausgepräg­ten Konfliktlinie neu. Die Konservative Par­tei hat sich dabei in den letzten drei Jahren sukzessive zur Partei der Verfechter nicht nur des harten, sondern gar des No-Deal Brexits entwickelt. Boris Johnson ist auch und gerade deshalb zum neuen Vorsitzenden dieser Partei und damit zum Premierminister gewählt worden, weil er den Mit­gliedern seiner Partei den unbedingten Austritt zum 31. Oktober versprochen hat. Zumindest mittelfristig ist die Regierungs­partei Großbritanniens daher klar auf einen harten Bruch mit der EU ausgerichtet.

Die Wucht des Konflikts äußert sich nicht zuletzt in der neuen Brexit Party, die bei den Europawahlen 2019 stärkste Kraft geworden ist, obwohl Nigel Farage sie erst sechs Wochen vor dem Wahltermin formell gegründet hat. Ziel und raison d’être der Par­tei ist es, einen No-Deal Brexit zu erzwingen. Trotz der harten Brexit-Position von Premier Johnson erhält die Brexit Party in Umfragen zwischen 12 und 15 Prozent Zustimmung. Dies entspricht ungefähr dem Stimmenanteil von UKIP bei den Parlamentswahlen von 2015. Mit ihrer national-konservativen Ausrichtung spricht die Brexit Party auch unabhängig von ihrer kompromisslosen Haltung zur EU eine Wählergruppe an, die sich eine Rückbesinnung auf die nationale Identität wünscht.

Links der Mitte des politischen Spek­trums wird die Labour Party von den Span­nungen um den Brexit zerrissen. Der Groß­teil ihrer Wähler tritt zwar klar für Remain ein, allerdings liegen zahlreiche umkämpfte Labour-Wahlkreise in Nordengland und Wales, wo Leave 2016 obsiegt hat. Deren Labour-Abgeordnete sträuben sich daher stark gegen ein zweites Referendum. Die Labour-Führung unter Jeremy Corbyn befürwortet mittlerweile ein zweites Refe­rendum, aber nur als Alternative zu einem »schädlichen Tory-No-Deal«. Bevorzugtes Ziel sind hingegen Neuwahlen und im Anschluss daran von Labour geführte Ver­handlungen mit der EU über den Brexit. Ihre ambivalente Haltung zum EU-Austritt, verbunden mit Antisemitismus-Vorwürfen gegen die Führung, ist ein Grund dafür, dass die Partei gegenüber 2017 in Umfragen stark an Zustimmung eingebüßt hat.

Von den großen politischen Parteien haben davon zuletzt die Liberaldemokraten profitiert. Sie setzen sich unmissverständlich für ein zweites Referendum und den Verbleib in der EU ein. Unter der neuen Führung von Jo Swinson sind sie in Um­fragen teils an Labour vorbeigezogen und haben über 20 Prozent Zustimmung er­langt. Zu­letzt konnten sie die erste Nach­wahl unter Boris Johnson als Premierminister für sich entscheiden.

Hinzu kommt die regionale Komponente. In Schottland vereint die Scottish National Party (SNP) den Großteil der Remain-Stim­men auf sich und fordert ein neues Unab­hängigkeitsreferendum ein. In Nordirland hingegen ist es unionistischer DUP und repu­blikanischer Sinn Fein seit bald drei Jahren nicht gelungen, eine gemeinsame Regierung zu vereinbaren. Der ohnehin gefähr­dete Friedensprozess ist durch den Brexit noch fragiler geworden. Ein No-Deal Brexit würde insbesondere die Grenzregionen in Nordirland von allen Landesteilen des Ver­einigten Königreichs wirtschaftlich wie poli­tisch am härtesten treffen. In Schottland ebenso wie in Nordirland würde ein No-Deal Brexit neue Zentrifugalkräfte freisetzen.

Die Neuordnung der politischen Kräfte ist kein kurzfristiges Phänomen. Unabhängig davon, ob ein Abkommen geschlossen wird oder es zu einer Fristverlängerung mit po­ten­tiellem zweiten Referendum oder einem No-Deal kommt – der Brexit und das Ver­hält­nis zur EU sowie die damit verbunde­nen politischen Identitäten werden die bri­tische Politik über Jahre beschäftigen. John­sons Strategie ist vor diesem Hintergrund darauf ausgerichtet, die Brexit Party zu neu­tralisieren, die Leave-Wähler bei den Tories zu versammeln und das Remain-Lager zwischen Liberaldemokraten und Labour gespalten zu halten. Aktuelle Umfragen bestätigen vorerst den Erfolg dieser Strate­gie: Die Zustimmung zu den Tories ist wie­der auf über 30 Prozent gestiegen, während Labour und Liberaldemokraten sich mit je rund 20 Prozent gegenseitig den Rang strei­tig machen. Im britischen Mehrheitswahl­recht würde diese Konstellation eine deut­liche Mehrheit für die Tories bedeuten.

Ein heißer Brexit-Herbst

So kommen vor dem 31. Oktober 2019 mehrere parallele Entwicklungen zusammen, die eine Brexit-Einigung deutlich erschweren.

Auf Seiten der EU ist das zentrale Datum der Europäische Rat am 17./18. Oktober. Dies wäre der späteste Zeitpunkt, um noch ein verändertes Brexit-Paket (Austritts­abkommen und Politische Erklärung) mit der britischen Regierung zu vereinbaren, das – unter sehr hohem politischen und Zeitdruck – noch vor Ende Oktober im bri­tischen Unterhaus und dem Europäischen Parlament ratifiziert werden könnte.

Nicht unerheblich für die europäische Planung ist auch, dass der Übergang zur Von der Leyen-Kommission für den 1. No­vember 2019 geplant ist. Bis zum 31. Okto­ber werden die Brexit-Verhandlungen also noch vom bestehenden EU-Personal ge­führt. Im Falle eines No-Deal Brexits wären die neue Kommission und der neue Präsi­dent des Europäischen Rates, Charles Michel, gleich an ihrem ersten Amtstag mit der Herausforderung konfrontiert, das EU-Handeln zu koordinieren.

Komplexer ist die innenpolitische Lage im Vereinigten Königreich. So tagt das Unterhaus zunächst vom 3. bis maximal 13. September. Dies wäre die letzte Gele­genheit, per Regierungsantrag oder Miss­trauensvotum Neuwahlen vor dem 31. Ok­tober anzustoßen. Angesichts der erzwungenen Parlamentspause wird in dieser Phase der Machtkampf zwischen Parlament und Regierung in vollem Umfang entbrennen. Dann folgen fünf Wochen Pause, in denen keine parlamentarische Aktivität stattfinden darf. In der Zwischenzeit finden die Parteikonferenzen der großen Parteien statt – in der Regel eine Zeit forcierter Polarisierung in Großbritannien, während der der Spielraum für politische Kompromisse begrenzt ist. Erst am 14. Oktober wird sich das Parlament wieder zur »Queen’s Speech« zusammensetzen, die noch einmal fünf Tage debattiert werden soll. In der Zeit vor dem Europäischen Rat am 17. Oktober hat das Parlament also nach der Zwangspause keine Handhabe mehr, in den Prozess einzugreifen. Erst in der Woche ab dem 22. Oktober kann das Parlament je nach Ver­handlungsstand entweder ein letztes Mal über den Austrittsvertrag abstimmen oder versuchen, den No-Deal Brexit zu verhindern.

Strategische Geduld gefordert

Aus dieser komplexen Gemengelage erge­ben sich für die weitere Brexit-Strategie der EU-27 und Deutschlands im Besonderen drei Schlussfolgerungen:

Erstens benötigen die EU-27 im kommen­den Brexit-Herbst viel strategische Geduld. Gespräche mit London werden dadurch erschwert, dass parallel Regierung und Par­lament um die Macht ringen und sich Boris Johnson de facto bereits im Wahlkampf befindet. Seine politische Kommunikation ist (bisher) primär darauf ausgerichtet, Wählerinnen und Wähler von der Brexit Party zurückzugewinnen. Vor Anfang Oktober sind kaum substantielle Verhandlungen möglich, das Zeitfenster für eine eventuelle Einigung bis zum Treffen des Europäischen Rats am 17. und 18. Oktober ist extrem klein. Bis dahin sollte sich die EU weder von No-Deal-Drohungen noch von den Machtrangeleien in London verunsichern lassen, in denen das Pendel zwischen No-Deal, Kompromisssuche und Neuwahlen rasch hin und her schwingen wird. Wichtig mit Blick auf die parlamentarischen Macht­kämpfe wäre aber ein Signal: Einer erneu­ten Fristverlängerung sollte die EU nur in Kombination mit Neuwahlen zustimmen.

Zweitens sollten die EU‑27 aber auch die veränderte politische Lage in Großbritan­nien anerkennen. Das Austrittsabkommen in der vorliegenden Form wird das britische Parlament nicht mehr passieren, auch nicht wenn an der rechtlich unverbindlichen Politischen Erklärung noch geändert wird. Hält die EU an jedem Buchstaben von Aus­trittsabkommen und Backstop fest – wofür es gute Gründe gibt –, ist der für den kurz­fristigen Ausgang des Brexit-Dramas ent­scheidende politische Konflikt der Machtkampf zwischen Regierung und Parlament. Anstatt das Austrittsabkommen für un­an­tastbar zu erklären, wäre es aber auch für die EU besser, flexibler an die Verhandlungen heranzugehen. Denn das eigentliche Ziel bleibt, in einem geregelten Brexit die Interessen der EU-27 zu wahren – Schutz des EU-Binnenmarkts, Übernahme der finan­ziellen Verpflichtungen durch die Briten, Schutz der Rechte der EU-Bürger und das dauerhafte Offenhalten der Grenze zu Nordirland. Solange sich diese Interessen mit begrenzten Änderungen durchsetzen lassen und alle 27 EU‑Staaten einschließlich Irland dem zustimmen, sollte auch die EU‑27 gesprächsbereit bleiben.

Drittens braucht die EU eine politische Strategie für den Umgang mit einem No-Deal Brexit. Anders als bei Theresa May ist der No-Deal Brexit für Premierminister Boris Johnson Drohkulisse und politische Strategie in einem. Seine bedingungslose Festlegung auf den Austritt zum 31. Okto­ber 2019, Maximalforderungen für Nach­verhandlungen, die Zusammenstellung seiner Regierung und die Zwangspause des Parla­ments haben zur Folge, dass der No-Deal von einer Rückfalloption zum Basis­szenario wird. Doch auch der No-Deal ist kein singuläres Ereignis, sondern nur der Auftakt für die nächste Verhandlungsphase im Brexit-Prozess. Nach eigenen Aussagen ist die EU wirtschaftlich für den No-Deal – soweit möglich – gewappnet. Politisch aber brau­chen die EU‑27 und Deutschland ein Kon­zept, wie nach dem No-Deal die Einig­keit der 27 EU‑Staaten aufrechterhalten werden kann, sich die Nordirland-Proble­matik eindämmen, aber auch das Verhält­nis zu Großbritannien wieder aufbauen lässt.

Dr. Nicolai von Ondarza ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019

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ISSN 1611-6364