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Bidens Balanceakt – die Ukraine stärken, Krieg mit Russland vermeiden

Ziele, Szenarien, Optionen

SWP-Aktuell 2022/A 41, 28.06.2022, 7 Pages

doi:10.18449/2022A41

Research Areas

In einem Beitrag für die »New York Times« vom 31. Mai 2022 benannte Präsident Joe Biden klarer denn je die Ziele der USA im Ukraine-Krieg: »eine demokratische, un­abhängige, souveräne und prosperierende Ukraine, die die Mittel zur Abschreckung und Verteidigung gegen eine weitere Aggression besitzt«. Washington unterstütze die Ukraine mit Waffen, damit sie in Verhandlungen die stärkstmögliche Position habe, so Biden. Der Sturz Putins sei nicht Ziel der amerikanischen Politik. Und solange die USA oder Verbündete nicht angegriffen würden, werde es zu keiner direkten Beteili­gung an dem Konflikt kommen, also zu keiner Entsendung eigener Truppen und zu keinen amerikanischen Angriffen auf russische Kräfte. Die USA, so Biden, würden die Ukraine weder zu Militärschlägen jenseits ihrer Grenzen »ermutigen« noch sie dazu »befähigen«. Es sei nicht Amerikas Absicht, den Krieg zu verlängern, um Russland »Schmerz« zuzufügen. Washington hat die Lieferung von Mehrfachraketenwerfern an die Bedingung geknüpft, dass die Ukraine damit keine Ziele auf russischem Terri­torium angreift. Dies zeigt den Balanceakt, vor dem Biden bei seinen Entscheidungen steht. Er möchte auf der einen Seite die Ukraine militärisch unterstützen, auf der anderen aber vermeiden, dass der Konflikt zu einem Krieg zwischen den USA und Russland eskaliert. Und das alles in einer Situation, in der keine Gewissheit darüber besteht, wo genau bei Putin die »roten Linien« liegen.

Mit dem Beitrag des Präsidenten reagierte das Weiße Haus auf ein vielbeachtetes Editorial der »New York Times«, in dem eine gewisse Verschwommenheit der amerikanischen Ziele im Ukraine-Konflikt moniert wurde. Ohne Klarheit in diesem Punkt riskiere die Biden-Administration, dass der innenpolitische Rückhalt für die Unterstützung der Ukraine mit Waffen und Geld erodiere, so das Blatt. Zudem müsse Washington der Regierung in Kyjiw deutlich machen, wie weit USA und Nato die Konfrontation mit Russland zu treiben bereit seien und wo die Grenzen für die Hilfsmaßnahmen zugunsten der Ukraine lägen. Die ukrainische Führung müsse in der Lage sein, ihre Entscheidungen auf Grundlage realistischer Einschätzungen zu treffen.

Kakophonie und Konfusion

Verschiedene Äußerungen aus den Reihen der Biden-Administration hatten sowohl in den USA als auch unter ihren Verbündeten für Ungewissheit gesorgt, mit welchem Ziel eigentlich Washington die Ukraine unter­stützt. So sagte der Präsident im März 2022, dass Putin nicht an der Macht bleiben könne – was ein Sprecher des Weißen Hauses je­doch umgehend relativierte und als bloßen Ausdruck »moralischer Empörung« dar­stellte. Keinesfalls sei ein Regimewechsel in Moskau zum Ziel amerikanischer Politik geworden. Nachdem Verteidigungsminister Lloyd Austin von der »Schwächung« Russ­lands gesprochen hatte, wurde dies in Krei­sen der Administration als Ziel mit Blick auf den Krieg interpretiert. Laut der ame­rikanischen Nato-Botschafterin Julianne Smith wiederum will Washington eine »strategische Niederlage« (strategic defeat) Russlands sehen. Wie es in einem Papier des Nationalen Sicherheitsrates hieß, das talking points für den internen Gebrauch auflistete, wünschten die USA eine demo­kratische, souveräne und unabhängige Ukraine sowie den »strategischen Fehlschlag« der russischen Versuche, die Vor­herrschaft über das Land zu erlangen. Die ukrainische Kampffähigkeit soll demnach gestärkt werden, damit Kyjiw am Verhandlungstisch eine so starke Hand wie möglich hat. Vor dem Kongress wurde seitens der Administration diese Zielformulierung ge­braucht: die Ukraine als souveräner Staat, der eine funktionierende Regierung hat und in der Lage ist, sein Territorium zu schützen.

Was dieses Territorium umfasst – dar­über schweigt man sich aus. Ob dazu auch die 2014 verlorenen Gebiete zählen, über­lässt Washington der ukrainischen Seite. Die amerikanische Position lautet, nur der gewählte Präsident der Ukraine könne ent­scheiden, was unter einem Sieg zu verste­hen sei. Die USA würden, so betonte Biden im genannten »New York Times«-Beitrag, weder öffentlich noch im Geheimen Druck auf Kyjiw zugunsten territorialer Zugeständnisse ausüben. Under Secretary of Defense Colin H. Kahl sagte Mitte Juni, dass Washington der Ukraine nicht vorschreiben werde, wie, was und wann sie verhandeln solle. So vermeidet die Administration die politisch heikle Diskussion darüber, wie eine Verhandlungslösung aussehen könnte und welche territorialen Einbußen damit für die Ukraine verbunden wären.

Kyjiw, so heißt es, entscheide selbst, was die Kriegsziele seien. Doch wie lange und zu welchen Zwecken die Ukraine den Kampf führen kann, hängt im Wesent­lichen von der militärischen und finanziellen Unterstützung durch die USA ab. Und die Interessen Kyjiws und Washingtons können durchaus auseinandergehen – so etwa, wenn die Ukraine Ziele verfolgt, die aus amerikanischer Sicht ein zu hohes Risiko der Konflikteskalation mit sich brin­gen. Die Beschränkungen, die sich die USA bei der militärischen Unterstützung auf­erlegen, um eine direkte Beteiligung am Krieg zu vermeiden, sind Ausdruck einer unausgesprochenen Interessendivergenz. Früh hat Präsident Biden deutlich gemacht, dass ein unmittelbarer militärischer Kon­flikt seines Landes mit Russland unter allen Umständen vermieden werden müsse, denn dies wäre »World War III«.

Der Schatten russischer Nuklear­drohungen

Mit seinen nuklearen Drohgebärden hat Putin ein Element »strategischer Unberechenbarkeit« eingeführt. Moskaus entsprechende Signale machen den Ukraine-Krieg potentiell zu einer nuklearen Krise – mit dem Risiko einer entweder vorbedachten oder auch unbeabsichtigten Eskalation. Eine vorbedachte Eskalation wäre insofern denkbar, als Moskau taktische Kernwaffen einsetzen könnte, wenn sich die Kriegs­situation für Russland verschlechtert. Dies geschähe in der Hoffnung, dass die Ukraine den Kampf einstellt oder die USA und andere Staaten ihre Nachschublieferungen beenden. Eine unbeabsichtigte Eskalation wäre möglich, sollte sich die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen weiter zuspitzen. Zweideutige Signale können in einer solchen Konstellation vom jeweiligen Gegenüber gemäß den schlimmsten Ver­mutungen interpretiert werden und so das Risiko wechselseitiger Fehlwahrnehmungen erhöhen. Aus Sorge um mögliche Missverständnisse hat das US-Verteidigungsminis­terium bereits darauf verzichtet, den routi­nemäßigen Test einer Interkontinental­rakete durchzuführen.

Angesichts der Ungewissheit, was Russland alles als Einmischung verstehen könn­te, lautete die sich früh abzeichnende Linie der Biden-Administration: ja zu Rüstungslieferungen an die Ukraine, zu einer gewis­sen nachrichtendienstlichen Unterstützung des Landes und zu umfassenden Sanktionen gegen Moskau, aber strikte Zurück­weisung der ukrainischen Bitte, eine Flug­verbotszone durchzusetzen, und Vermeidung all dessen, was als direkte Kriegs­beteiligung verstanden werden könnte. Denn andernfalls, so die große Sorge, drohe eine unmit­telbare Konfrontation mit russi­schen Streit­kräften. Um die Gefahr eines unbeabsichtigten militärischen Zwischenfalls mit Flug­zeugen oder Schiffen zu redu­zieren, wurde auf US-Initiative hin eine »Hotline« zwischen amerikanischem und russischem Militär eingerichtet.

Eskalationsrisiken und Ungewissheiten

Auf Seiten der USA ebenso wie Russlands ist der Ukraine-Krieg in Deutungsrahmen eingebettet, die eine Konflikteskalation begünstigen. Für die USA unter Biden ist der Konflikt Teil der großen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autokra­tie. Der jetzige Kampf für Freiheit wird in die Traditionslinie des Konflikts mit der kommunistischen Sowjetunion gesetzt. Der Raum für Kompromisse mit einem Präsi­denten Putin, der des Genozids beschuldigt wird und als Kriegsverbrecher gilt, ist nicht groß. Die russische Führung wiederum hat den Konflikt zu einer existentiellen Aus­einandersetzung mit der Nato stilisiert. Be­währte »Leitplanken«, die eine Konflikt­eskalation begrenzen könnten, gibt es fak­tisch nicht. Die USA setzen zwar darauf, dass der Verzicht auf ein direktes militärisches Eingreifen das Eskalationsrisiko min­dert. Doch aus russischer Sicht stellt bereits die militärische Unterstützung der Ukraine mit Waffen und Geheimdienstinformationen eine Kriegsbeteiligung dar.

Moskau hat die US-Administration wie­derholt gewarnt, sie müsse mit »unvorher­sehbaren Konsequenzen« rechnen, sollte die Lieferung fortgeschrittener Waffensysteme an die Ukraine nicht beendet werden. Im Pentagon und bei den amerikanischen Nachrichtendiensten hat dies zu Diskussionen geführt, ob Russland damit gemeint haben könnte, den Waffennachschub mit­tels Sabotage oder Angriffen noch auf dem Territorium eines Nato-Staates stören zu wollen. Sollte Russland mit konventionellen Mitteln ein Bündnismitglied angreifen, um Nachschublieferungen an die Ukraine zu unterbrechen oder vor weiteren Hilfen abzuschrecken, stünden die USA vor heik­len Fragen. Sie müssten entscheiden, wie nachdrücklich darauf zu reagieren wäre, welche militärischen Optionen gegen russi­sche Streitkräfte in Betracht kämen und ob die Ukraine nun Waffen erhalten sollte, die bislang zurückgehalten wurden.

Grenzen der amerikanischen Unterstützung

Die USA lassen der Ukraine mittlerweile vieles an Rüstungsgütern zukommen – doch nicht alles, was Kyjiw wünscht. Als problematisch gelten nicht allein Kampfflugzeuge. Die Ukraine drängte seit gerau­mer Zeit auf die Lieferung sogenannter Multiple Launch Rocket Systems, Mehrfachraketenwerfer mit stärkerer Feuerkraft und größerer Reichweite als die bis dato gelieferten M777-Haubitzen, die 24 bis 29 Kilometer weit schießen können. Doch im Weißen Haus bestand die Sorge, dass solche Raketenwerfer für Angriffe auf Ziele in Russland genutzt werden könnten. Mit seiner Aussage, keine Systeme liefern zu wollen, deren Reichweite die russische Grenze überschreitet, zog sich Biden Kritik aus den Reihen republikanischer Senatoren zu. Von Verrat an der Ukraine aus Angst vor Russland sprach etwa Lindsey Graham. Ende Mai gab der Präsident bekannt, die USA würden das High Mobility Artillery Rocket System (HIMARS) liefern, dessen satellitengesteuerte Raketen eine Reich­weite von bis zu 77 Kilometer haben. Die Ukra­ine sicherte der US-Regierung zu, damit keine Ziele in Russland anzugreifen, was aus grenznahen Gebieten möglich wäre. Nicht geliefert werden indes Raketen mit einer Reichweite von rund 320 Kilo­metern, mit denen dieses System bestückt werden könnte.

Die Weitergabe nachrichtendienstlicher Informationen – darunter Echtzeitdaten zur Lokalisierung russischer Verbände – unterliegt ebenfalls gewissen Beschränkungen, politischen wie rechtlichen. Dies soll demonstrieren, dass Washington die Ukrai­ne zwar unterstützen, aber nicht selbst zur Konfliktpartei werden möchte. Zum einen werden offenbar keine Informationen über­mittelt, die zur Ausschaltung russischer Führungspersonen dienen könnten, etwa des Verteidigungsministers oder des Gene­ralstabschefs. Zum anderen werden Daten zurückgehalten, die die Ukraine zu Angrif­fen gegen russische Ziele außerhalb des eigenen Landes nutzen könnte. Außerdem wird keine sogenannte Zielinformation (»target information«) weitergegeben, etwa dass ein bestimmter General sich an einem bestimmten Ort aufhält. Was geteilt wird, sind jedoch Informationen über den Ort von Kommando- und Kontrollzentralen. Wenn ukrainische Kräfte sich entscheiden, solche Einrichtungen anzugreifen, und da­bei einen russischen General töten, ist das nicht den USA zuzurechnen – so die feine rechtliche Unterscheidung aus ameri­kani­scher Sicht. Im Falle der »Moskwa«, des von der Ukraine versenkten Flaggschiffs der russischen Schwarzmeer-Flotte, haben die USA nach eigenen Angaben denn auch keine Zieldaten übermittelt, sondern nur die Identität des von ukrainischen Kräften lokalisierten Schiffes.

Risikomanagement im Abnutzungskrieg

Nach Einschätzung der US-Geheimdienste, wie sie Avril Haines, Director of National Intelligence, am 10. Mai dem Kongress darlegte, entwickelt sich der Krieg in der Ukraine zu einem Abnutzungskrieg. In den nächsten Monaten müsse damit gerechnet werden, dass sich die Situation zunehmend unvorhersehbar und potentiell eskalatorisch entwickle – gerade auch mit Blick auf russische Versuche, die westlichen Nachschublieferungen zu unterbinden. Zu­dem erwarte man von Moskau eine Fort­setzung der nuklearen Rhetorik; sie solle den Westen vor einer Verstärkung der mili­tärischen Hilfe für die Ukraine abschre­cken und »auf öffentliche Kommentare der USA und Nato-Verbündeter antworten, die eine Ausweitung der westlichen Ziele in dem Konflikt nahelegen«. Explizit sprach Haines von möglichen nuklearen Signalen Russ­lands in Form größerer Übungen der strate­gischen Atomstreitkräfte. Nach wie vor sei zu erwarten, dass Putin nur im Falle einer existentiellen Bedrohung für den russischen Staat oder das Regime den Einsatz von Nuk­learwaffen autorisieren werde. Doch in einer so angespannten Lage bestehe immer ein erhöhtes Potential für Fehlkalkulationen und eine unbeabsichtigte Zuspitzung der Lage.

Das Risiko einer nuklearen Eskalation nimmt die Biden-Administration ernst – anders als manche Experten in der amerika­nischen Debatte, die für eine noch stärkere Unterstützung der Ukraine plädieren, auf deren militärischen Sieg setzen und dazu tendieren, die russischen Drohgebärden kleinzureden oder völlig auszublenden. So hieß es etwa in einem Kommentar der Zeit­schrift »The Atlantic«, man dürfe Russland nicht signalisieren, dass es eine atomare Trumpfkarte besitze, die sich jederzeit gegen den Westen ausspielen lasse. Nukle­are Abschreckung wirke in beide Richtungen. Die USA sollten Russland nicht direkt angreifen, sich durch Moskaus Atomwaffen aber auch nicht davon abhalten lassen, russische Kräfte in einem von diesen über­fallenen Land anzugreifen.

Putin hat »nuclear brinkmanship«, also das Spiel mit dem Feuer, gleichsam norma­lisiert, so dass von seinen wiederholten Drohungen ein gewisser Gewöhnungseffekt ausgeht. Doch niemand kann sagen, wie hoch das Eskalationsrisiko tatsächlich ist. Wenn grundlegende Entscheidungen von einer einzigen Person und ihren Eigenheiten abhängen, sind belastbare Prognosen nicht möglich.

Für die Biden-Administration gilt offenbar: »Escalation is now a true danger.« So wird ein »senior official« zitiert. Laut Vic­to­ria Nuland, Under Secretary of State for Political Affairs im US-Außenministerium, hat Washington der russischen Führung deutlich gemacht, dass der Einsatz von Nuklearwaffen nicht nur für die Ukraine und die Welt »katastrophal« wäre, sondern auch für Putin und sein eigenes Land. Die Kosten für die russische Seite wären »astro­nomisch«. Präsident Biden sprach davon, jeglicher Einsatz russischer Nuklearwaffen im Ukraine-Krieg würde »schwere Konsequenzen« (severe consequences) nach sich ziehen.

Innerhalb der US-Administration wird seit Beginn des Krieges über Szenarien eines russischen Atomwaffeneinsatzes und mög­licher amerikanischer Reaktionen darauf nachgedacht. Öffentlich schweigt man sich dazu aus; nur wenig sickert durch. Die Optionen, die regierungsintern durchgespielt werden, scheinen sich jedoch nicht allzu sehr von dem zu unterscheiden, was amerikanische Sicherheitsexperten öffent­lich diskutieren. Demnach stünde die Administration vor erheblichen Problemen, sollte Putin den Einsatz taktischer Atomwaffen oder die explizite Drohung damit als »Trumpfkarte« nutzen, um einer sich für ihn verschlechternden militärischen Lage zu begegnen. Der Blick auf eine mögliche Eskalation lässt erahnen, warum Biden seine Besorgnis darüber ausdrückte, dass Putin keinen Ausweg aus dem Ukraine-Krieg habe (»doesn’t have a way out right now, and I’m trying to figure out what we do about that«).

Nukleare Szenarien und mögliche Reaktionen

Die US-Administration spekuliert öffentlich nicht darüber, was für die russische Füh­rung eine existentielle Bedrohung von Staat oder Regime wäre, die zum Einsatz von Nuklearwaffen führen könnte. Doch rech­net Washington offensichtlich mit der Mög­lichkeit, Putin könnte – vor einer demüti­genden Niederlage stehend – versucht sein, mit dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen die Konfliktdynamik zu verändern.

Niemand kann vorhersagen, wie sich Putin entscheiden wird, wenn er zwischen der Zurückdrängung Russlands aus den besetzten Gebieten in der Ostukraine und einer nuklearen Eskalation wählen müsste. Ein entsprechendes Szenario könnte sein: Russland annektiert den Oblast Cherson oder den Donbas, die Ukraine gewinnt mili­tärisch Teile davon zurück, und Putin setzt taktische Nuklearwaffen ein, um den Ver­lust dieser »russischen Gebiete« zu verhin­dern.

Vom Risiko einer nuklearen Eskalation wäre auch auszugehen, wenn die Ukraine versuchen sollte, die von Russland annek­tierte Krim militärisch zurückzugewinnen. Aus Sicht Russlands könnte damit seine territoriale Integrität gefährdet sein. Sollte Putin einen ukrainischen Angriff auf die Krim als rote Linie benennen, stünde der Westen vor der Frage, ob er das Risiko ein­geht, Kyjiw dabei zu unterstützen, oder ob er diese rote Linie akzeptiert.

Für die russische Führung ist das Heranrücken der Ukraine an USA und Nato poli­tisch und geopolitisch eine solche Bedrohung, dass sie zum Krieg bereit war. Inso­fern steht für sie ein vitales Interesse auf dem Spiel; anders als für die USA und die Nato, die erklärtermaßen nicht bereit sind, mit eigenen Kräften in den Krieg einzugreifen. Es handelt sich also um eine Asymme­trie der Interessen, die in Rechnung gestellt werden muss, wenn es darum geht, russi­sche Eskalationsdrohungen einzuschätzen. Russland, so ist zu befürchten, wird im »Wettbewerb um die Risikobereitschaft« zu größeren Risiken bereit sein. Daher kann eine vorbedachte Eskalation nicht ausgeschlossen werden, mit der die russische Führung ihre Entschlossenheit zum Aus­druck bringt.

Mit Blick auf den möglichen Einsatz taktischer Nuklearwaffen durch Russland werden in den USA verschiedene Szenarien diskutiert: der Test einer Atomwaffe in der Atmosphäre zu Demonstrationszwecken (nach amerikanischen Geheimdienst­einschätzungen angeblich eine Option, die Putin aus seinem engeren Kreis nahegelegt wurde, als die russischen Streitkräfte in der Ukraine unter Druck waren); die Detona­tion einer Kernwaffe über dem Schwarzen Meer oder auch über der Ukraine, um durch den elektromagnetischen Impuls etwa die Stromversorgung Kyjiws lahmzulegen; ein nukleares Vorgehen gegen militärische Ziele in der Ukraine; ein »Enthauptungsschlag« mit dem Ziel, die ukrainische Füh­rung in ihren unterirdischen Bunkern zu töten.

Welche Optionen hätten die USA, um auf einen russischen Nuklearwaffeneinsatz in der Ukraine zu reagieren? Eine erste Mög­lichkeit wäre, eigene Kernwaffen einzusetzen. Doch auf dem Boden der Ukraine russi­sche Streitkräfte nuklear anzugreifen, um sie militärisch zu schwächen, wäre politisch problematisch. Einsätze gegen Ziele in Russ­land jedoch würden den Konflikt auf eine neue Eskalationsstufe bringen und drama­tisch verändern. Eine zweite Option bestün­de darin, mit konventionellen Angriffen gegen das russische Militär in der Ukraine zu antworten. Auch dies würde den Kon­flikt höchstwahrscheinlich zu einem Krieg zwischen USA bzw. Nato und Russland eskalieren lassen. Eine dritte Möglichkeit wäre, an der bisherigen Politik der militäri­schen Unterstützung für die Ukraine fest­zuhalten, auf eine Eskalation und damit Konfliktausweitung zu verzichten und dar­auf zu setzen, dass Russland militärisch weiter geschwächt wird. Dies könnte zur Folge haben, dass Putin, in die Ecke ge­drängt, den Krieg zu einer direkten Kon­frontation zwischen Russland und der Nato werden lässt. Konsequenz könnte jedoch auch sein, dass sich die russische Führung zu weiteren Einsätzen taktischer Nuklearwaffen ermutigt sieht, mit denen das ukrai­nische Militärpotential entscheidend ge­schwächt würde. Eine vierte Option läge darin, auf eine Verhandlungslösung zu drängen, das heißt faktisch, Druck auf die Ukraine auszuüben, damit sie ein Ergebnis akzeptiert, das – wie auch immer es im Einzelnen aussähe – als Belohnung der russischen Aggression politisch äußerst problematisch wäre.

Ungeachtet dessen, wie die amerika­nische Reaktion ausfallen würde: Allein schon konkrete Vorbereitungen Moskaus für den Einsatz taktischer Kernwaffen könnten einen Prozess in Gang setzen, in dessen Verlauf die Alarmbereitschaft auf beiden Seiten erhöht würde, ein Prozess, der in eine nukleare Krise münden könnte. Sollten russische Streitkräfte den Einsatz taktischer Kernwaffen in der Ukraine be­absichtigen, würde dies der amerikanischen Aufklärung vermutlich nicht entgehen. Die russische Führung könnte sich nicht sicher sein, wie Washington auf solche Signale reagiert. Würde sie damit rechnen, dass die USA ihre strategischen Nuklearstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzen, und würde sie deshalb in diesem Ablauf sicherheitshalber vorangehen? Oder würde Moskau auf eine erhöhte Alarmbereit­schaft verzichten, die meisten strategischen U‑Boote in den Häfen belassen und mobile Abschussvorrichtungen für Interkontinentalraketen nicht in den Wäldern Sibiriens verbergen, um so zu signalisieren, dass es nur um einen begrenzten Einsatz geht? Verlassen hingegen Russlands strategische U-Boote die Häfen, werden amerikanische Jagd-U‑Boote ihre Fährte aufnehmen und sie beschatten. Selbst wenn Moskau auf eine erhöhte Einsatzbereitschaft der stra­tegischen Nuklearstreitkräfte verzichten würde und auch Washington bzw. Nato den Bereitschaftsgrad der eigenen Kernwaffen unverändert beließe, würde wohl die Alarmbereitschaft auf Seiten des Westens steigen und dessen Aufklärungsaktivität an der russischen Peripherie sich intensivieren – mit der Möglichkeit, dass sich hieraus Verwicklungen ergeben. Käme es tatsächlich zu einem Einsatz taktischer Nuklearwaffen durch Russland, wäre vermutlich damit zu rechnen, dass auf amerikanischer Seite Vorbereitungen mit Blick auf eine Eskalation eingeleitet würden, auf die wiederum mit russischen Reaktionen zu rechnen wäre.

Wie weiter?

Das Kalkül der Biden-Administration scheint zu sein, Putin vor die Wahl zu stellen: ent­weder ernsthafte Friedensverhandlungen oder ein sich möglicherweise über Jahre hinziehender Krieg, der eine nationale Mobilmachung in Russland erfordern wür­de. Noch geht dieses Kalkül nicht auf. Nach Einschätzung der US-Geheimdienste berei­tet sich Putin auf einen längeren Krieg vor. Seine Erwartung ist offenbar, dass er die größere Bereitschaft und Fähigkeit hat, den Herausforderungen zu trotzen, und die Ent­schlossenheit von USA und EU aufgrund wirtschaftlicher Probleme schwinden wird.

Noch weist wenig darauf hin, dass sich die Haltung der USA abschwächt. Bislang steht der Kongress mit großer Mehrheit hin­ter der Unterstützung für die Ukraine. Der Ukraine Democracy Defense Lend-Lease Act of 2022, den beide Häuser im April verabschiedet haben, verschlankt den bürokratischen Prozess für die Überlassung von Waf­fen an die Ukraine und Staaten in deren Nachbarschaft. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges wurden schnell und ohne große Diskussionen rund 53 Milliarden US‑Dollar an militärischer, wirtschaftlicher und humanitärer Hilfe bewilligt. Über 40 Milliarden davon wurden im Mai freige­geben, mit 368 zu 57 Stimmen im Repräsentantenhaus und mit 86 zu 11 Stimmen im Senat. Es waren nur Republikaner, die da­gegen votierten.

Einige der republikanischen Kandidaten für die kommenden Kongresswahlen halten mit ihrer Kritik denn auch nicht hinter dem Berg. Der nationalistische »America first«-Flügel der Partei will das Geld lieber für Programme in den USA ausgegeben sehen, etwa zur Sicherung der Grenze. Unterstützung kommt dabei von Ex-Präsident Donald Trump, der ebenfalls kritische Töne zur Höhe des Hilfsprogramms angeschlagen hat. Sollten die Republikaner, wie vielfach erwartet, die Wahlen zum Repräsentantenhaus im November 2022 gewinnen, könn­ten sich die Stimmen mehren, denen die massive Unterstützung für die Ukraine missfällt. Zwar verteidigt die republikanische Führung im Kongress ihre Ausgabenbereitschaft. Dies gilt auch für die Senatoren Ted Cruz, Marco Rubio, Rick Scott und Tom Cotton, allesamt potentielle Präsidentschaftskandidaten. Sie verweisen auf die Botschaft, die damit nicht zuletzt China übermittelt werde, einem Land, in dem sie eine noch größere Bedrohung als in Russ­land sehen. Doch wie Rubio deutlich machte, könne der Präsident nicht alle drei Monate weitere 40 Milliarden US-Dollar beantragen. Es bedürfe eines klaren Plans und festgesetzter Ziele, was die Rolle der Vereinigten Staaten angehe, so der Senator.

Früher oder später werden die USA vor der Alternative stehen: Sind sie bereit, die Ukraine beständig in einem militärischen Konflikt zu unterstützen, der sich womöglich über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinziehen wird und in dem sie Kyjiw die Bestimmung der Ziele überlassen? Oder werden die USA, für die der Konflikt mit China der entscheidende ist, die Ukraine irgendwann darauf drängen, sich mit dem »strategisch Erreichbaren« zu begnügen?

Literaturhinweis

Peter Rudolf

Welt im Alarmzustand. Die Wiederkehr nuklearer Abschreckung

Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf., 2022

Dr. Peter Rudolf ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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DOI: 10.18449/2022A41