Bei neuen Technologien werden Beschlüsse oft ohne echtes Wissen über Risiken, sondern im Unwissen darüber getroffen, sagt Bettina Rudloff - und erklärt, was die Risikoforschung dennoch vermag.
Kurz gesagt, 28.04.2011 Research AreasBettina Rudloff
Zur Frage, was die Risikoforschung leisten kann, stellt Bettina Rudloff fest: sie sollte immer wieder auf die Grenzen ihrer Aussagefähigkeit hinweisen und so einen offeneren Umgang mit den Unwägbarkeiten von Technologien in Politik und Gesellschaft befördern.
Das Reaktorunglück in Japan, die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko vor einem Jahr – beiden Ereignissen ist eines gemein: Ihr Eintreten galt als so gut wie unmöglich. Gerade beim Einsatz neuer Technologien, bei denen vergleichsweise wenige Daten vorliegen, gibt es Grenzen für die vermeintlich objektivierbare Bewertung eines Risikos. Können sich Gesellschaften also überhaupt an theoretischen Worst Case-Szenarien orientieren, wenn sie über den Einsatz bestimmter Techniken entscheiden sollen?
Die Risikoforschung im rein naturwissenschaftlichen Sinn befasst sich mit der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses. Weitergefasst kann sie aber auch die Dimensionen jenseits technologischer Ansätze einbeziehen. So geht es bei der Risikowahrnehmung darum, wie Risiken trotz allgemein gültiger naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in verschiedenen Staaten unterschiedlich bewertet werden können; das Risikomanagement erfasst Entscheidungsprozesse mit Blick auf unterschiedliche Risiken.
Bei der Entscheidung darüber, ob oder bis zu welchem Grad die Risiken einer Technologie eingegangen werden sollen, steht zuerst die Risikoschätzung. Nach technisch-naturwissenschaftlichem Verständnis setzt sich ein Risiko aus der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses sowie dessen möglichem Schaden zusammen – wie beispielsweise ein Unfall auf einer Ölplattform. Diese Bewertung basiert auf Erfahrungen, indem aus der Häufigkeit vergangener Ereignisse Wahrscheinlichkeiten abgeleitet werden. Mittels solcher probabilistischer Methoden können Szenarien entworfen werden, die sich mit dem Verhalten einer Technologie in einer bestimmten Situation befassen, die ermitteln, welche Konsequenzen sich aus Fehlern ergeben können und welche Sicherheitsmargen für deren Begrenzung relevant sind. Mit Blick auf eine Atomanlage ließe sich über ein solches Verfahren theoretisch ermitteln, welche Konsequenzen menschliches Versagen, ein Erdbeben oder sogar eine Kombination aus beiden haben können – und dann errechnen, welche Anzahl an Ersatzgeneratoren nötig wäre, um negative Folgen zu verhindern.
Bei jungen Technologien jedoch ist der Erfahrungshorizont zu kurz, um aus wenigen Fällen Wahrscheinlichkeiten ableiten zu können. Besonders schwierig wird dies, wenn sich wie in Japan drei seltene Risiken verketten: ein Erdbeben der Stärke 9,0, ein Tsunami und der Ausfall des Kühlsystems in Kernreaktoren. Zudem fehlt bei jungen Technologien oft das vollständige Wissen um mögliche Schäden. Diese umfassen Bereiche wie unmittelbare Gesundheits- und Infrastrukturschäden, wirtschaftliche Gefahren und Folgen für die Umwelt. Für deren Summierung fehlen Methoden und Statistiken. Etwa bei Ölkatastrophen auf See sind die langfristigen Verluste der Artenvielfalt, die über die Nahrungskette an ganz anderen Orten als dem des Unglücks auftreten können, viel schwerer zu ermitteln und in einer vergleichenden geldwerten Größe zu erfassen als die konkreten Kosten der Rettungsaktion. So gesehen wird eine Entscheidung für oder wider eine junge Technologie dann weder unter Berücksichtigung ihres Risikos noch bei fehlenden Wahrscheinlichkeiten unter bewusster Unsicherheit, sondern im Unwissen darüber, wie risikobehaftet sie ist, getroffen.
Manchmal werden aber trotz eines bekannten Schadensausmaßes für den Worst Case – wie für die Kernenergie seit Tschernobyl – Risiken unterschiedlich eingeschätzt. Zum einen gibt es keine objektive Bewertung auch erfasster und bekannter Schäden, sie findet immer in einem kulturellen Kontext beziehungsweise einem politischen System statt. Was eine Gesellschaft oder deren politische Entscheider als erträglich ansehen, kann stark differieren - und sich ändern, wie die aktuelle deutsche Debatte über den Ausstieg aus der Kernenergie demonstriert. Ähnlich eindrucksvoll zeigt dies die Einschätzung möglicher Gefahren durch genetisch veränderte Lebensmittel, die in Europa tendenziell höher gewertet werden als in den USA – auch wenn naturwissenschaftliche Erkenntnisse Gefahren bisher ausschließen.
Zum anderen basieren politische Entscheidungen zum Risikomanagement auf einer komplexen Abwägung: Mögliche Nutzen einer Technologie sind nicht nur zu ihren eigenen Schäden ins Verhältnis zu setzen, sondern auch zu denen alternativer Technologien. Was sind also die Kosten der Vermeidung möglicher Schäden durch den Einsatz von Kernenergie, wenn zum Beispiel mehr fossile Energieträger genutzt werden? Und wer bezahlt dafür?
Tragen diejenigen, die eine Technologie anwenden oder über Sicherheitsstandards entscheiden, nicht die Kosten möglicher Schäden, bewerten sie deren Nutzen höher. Erst eine Internalisierung der Schäden in die Kostenüberlegung dieser Akteure macht eine echte Abwägung von Nutzen und Kosten möglich. Eine fehlende Internalisierung dagegen entspricht einer Subventionierung. So würde eine echte Einpreisung der Risiken der Kernenergie zu einem Anstieg der Kosten führen und alternative Technologien könnten dadurch attraktiver werden.
Bei internationalen Risiken neuer Technologien verschärfen sich die Probleme der Risikoschätzung, der Risikowahrnehmung sowie des Risikomanagements: Nicht nur die Risikowahrnehmung unterscheidet sich kulturell, auch die objektive Risikoschätzung unterliegt einer wissenschaftlichen Kultur, so dass Staaten unterschiedliche Methoden vorschreiben oder einzelne Wissenschaftler zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Die Abwägung von Kosten und Nutzen fällt durch den Export von Schäden eher zugunsten des eigenen Nutzens aus, was wiederum einer internationalen Abstimmung über den Einsatz einer Technologie oder über gemeinsame Sicherheitsstandards entgegensteht.
Die Risikoforschung kann weiter diese generellen Schwierigkeiten im Umgang mit Risiken aufzeigen, wie sie es seit Langem leistet. Sie kann weiter in einzelnen Bereichen verbesserte Erfassungsmethoden entwickeln und Erkenntnisse über unterschiedliche Risikowahrnehmungen erlangen. Ein viel entscheidender Beitrag aber für die Politik ist, dass sie die Grenzen der oft als objektiv vermittelten Risikoabwägungsmethoden aufzeigt. Diese fußen immer nur auf dem aktuellen Wissens- und Technikstand. Sie verkünden niemals die eine, endgültige und von allen Akteuren weltweit gleich bewertete Wahrheit. Damit müssen Politik, Gesellschaft und wir alle für den unbequemen Weg bereit sein, immer wieder aufs Neue Grundsatzdiskurse über das Für und Wider der einen oder der anderen Technologie zu führen.
Berlin, 28.04.2011