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SWP-Foresight: »Von welcher Krise werden wir als Nächstes überrascht?«

Der Herausgeber der SWP-Foresight-Studie »Unerwartet, überraschend, ungeplant«, Lars Brozus, spricht im Interview über die Methode der wissenschaftlich angeleiteten Vorausschau und die Fähigkeit der Politik, vorausschauend zu handeln.

Kurz gesagt, 20.11.2015 Research Areas

Der Herausgeber der SWP-Foresight-Studie »Unerwartet, überraschend, ungeplant«, Lars Brozus, spricht im Interview über die Methode der wissenschaftlich angeleiteten Vorausschau und die Fähigkeit der Politik, vorausschauend zu handeln.

In Ihrer Einleitung zur Foresight-Studie schreiben Sie, dass es oftmals nicht an Warnungen oder Hinweisen auf bevorstehende Ereignisse in der internationalen Politik mangelt, dass Entscheidungsträger diesen aber häufig keine oder zu wenig Aufmerksamkeit widmen und daher von Krisen überrascht werden. Wie erklären Sie sich das?

Lars Brozus: Das hängt vor allem mit Kapazitätsproblemen in hierarchisch gegliederten Organisationen wie den Bundesministerien zusammen. Wichtige Entscheidungen können dort nur von einer Handvoll Leute getroffen werden, etwa den Ministern, den Staatssekretären und vielleicht noch den Abteilungsleitern. So wenige Personen können aber nicht mehr als zwei, maximal drei große Krisen gleichzeitig verfolgen und intensiv bearbeiten. Zwar arbeiten ihnen viele Menschen zu, aber Entscheidungsverantwortung tragen nur wenige. Weil sich drängende Probleme in den letzten Jahren massiv häufen – zum Beispiel die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten, der internationale Terrorismus, Ebola, die Situation in Griechenland, der Ukraine-Konflikt oder jüngst die Flüchtlingsproblematik – bleibt kaum Raum für die Antizipation künftiger Herausforderungen.

Kann Ihre Foresight-Studie hier Abhilfe schaffen und falls ja, inwiefern?

Wir gehen in der Regel davon aus, dass frühzeitiges Handeln besser ist als nachträgliches. Daher wollen wir Aufmerksamkeit für denkbare künftige Situationen oder Entwicklungen schaffen, die, wenn man sie heute vernachlässigt, später ein massives Eingreifen notwendig machen könnten. Natürlich steht in der Politik außer Frage, dass frühzeitiges Handeln sinnvoll ist. Und dennoch erleben wir immer wieder, dass es eine große Lücke zwischen Frühwarnung und entsprechendem Handeln gibt. Es wäre unrealistisch, darauf zu setzen, dass eine SWP-Studie hier Abhilfe schaffen kann. Sie kann aber dazu anregen, sich gedanklich mit vielleicht abseitig erscheinenden Themen wie den Auswirkungen eines großflächigen Bienensterbens auf die Entwicklung südlich des Mittelmeers oder dem Absturz eines russischen Kampfjets mit Nuklearwaffen an Bord über der Ukraine zu befassen.

Wie haben Sie die Szenarien ausgewählt?

Wir haben unsere Wissenschaftler dazu eingeladen, sich an einem Wettbewerb zu beteiligen: Sie sollten kurze, zugespitzte Skizzen verfassen zu Situationen, die in der internationalen Politik künftig wichtig werden könnten. In einem ganztägigen Workshop wurden die fünfzehn eingereichten Skizzen vorgestellt und intensiv diskutiert. Dann haben die etwa vierzig Workshop-Teilnehmer anhand von drei Kriterien abgestimmt: Wie plausibel ist es, dass das geschilderte Szenario eintritt, wie relevant ist es, wenn es eintritt, und wie schlüssig ist die Darstellung des Falls. Am Schluss wurden sieben Szenarien ausgewählt, deren Ausarbeitung dann jeweils den in der SWP für Studien üblichen mehrstufigen Begutachtungsprozess durchlaufen hat.

Die Studie enthält neben sieben Zukunftsszenarien auch eine Rückschau. Was hat es damit auf sich?

Das ist ein Element, das es in den beiden Vorläuferstudien noch nicht gab: Der Autor blickt zurück auf seinen Foresight-Beitrag von 2011, in dem es um den »Wettlauf« zwischen nationalistischen und europäischen Integrationsvorstellungen in den albanisch besiedelten Gebieten des westlichen Balkans ging. Heute wird gefragt: Hat sich die Situation wie erwartet entwickelt? Was ist anders, was hat sich bestätigt? Wie sich herausstellt, ist die grundsätzliche Entwicklungsrichtung unverändert, wenngleich sich die Dynamiken verschärft haben.

Sie schreiben, dass alle Beiträge sich mit Krisen von Staatlichkeit befassen. War das gewollt?

Ich war selbst überrascht, dass sich dieser rote Faden durchzieht. Eine Krise der Staatlichkeit zeigt sich dabei in unterschiedlichen Dimensionen: Da ist zum einen die territoriale Dimension, die am deutlichsten in dem Westbalkan-Szenario zu erkennen ist, in dem Albaner die Grenzen zwischen den von ihnen besiedelten Gebieten abschaffen. Sie spielt aber auch eine Rolle beim Szenario zum russischen Fernen Osten, in dem es um Autonomiebestrebungen geht.

Welche weitere Dimension gibt es?

Die Dimension der Problemlösungsfähigkeit von Staaten. Diese kann aus strukturellen Gründen oder situativ eingeschränkt sein. Strukturell eingeschränkt ist sie zum Beispiel in dem Szenario zur Polizeigewalt in den USA: Das Problem des Rassismus in Polizei und Justiz ist dort seit langem bekannt. Dennoch scheitern die meisten Reformversuche an strukturell verfestigten politischen Widerständen. Eine situative Überforderung wird zum Beispiel in dem Szenario zur Asien-Pazifik-Region geschildet, wo ein Erdbeben das geopolitische Gleichgewicht erschüttert. Bei solchen massiven Naturkatastrophen ist eine situative Überforderung von Staaten wohl eher der Normalfall.

Was kann man den Krisen von Staatlichkeit entgegensetzen?

Auch hiermit beschäftigen sich einige der Szenarien: Eine Variante ist die Verlagerung staatlicher Kompetenzen auf die supranationale Ebene wie in dem Szenario, das die Ablösung des Auswärtigen Amtes durch ein Europäisches Außenministerium beschreibt. Eine andere Variante ist die Stärkung von Governance auf subnationaler Ebene wie in Ländern oder Kommunen, die in dem Szenario zur Flüchtlingskrise beschrieben wird. Die aufgezeigten Entwicklungen decken sich übrigens mit der politikwissenschaftlichen Forschung zum Wandel des Staates vom Herrschaftsmonopolisten zum Herrschaftsmanager.

Wie kann man die Fähigkeit von Politik, vorausschauend zu handeln, weiter stärken?

Denkbar wäre, dass Politikberatungseinrichtungen sich neben ihrer inhaltlichen Expertise auch damit auseinandersetzen, wie Organisationen gestaltet sein müssen, damit sie frühzeitige Warnungen in konkretes Handeln übersetzen können. Bisher geht man in der Politikberatung davon aus, dass Entscheidungen besser werden, je mehr Aufklärung wir betreiben. Das ist offenbar nicht ausreichend. Hier könnten Erkenntnisse der Verwaltungswissenschaften oder der Organisationssoziologie hilfreich sein, die untersuchen, wie die Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft von Organisationen verbessert werden kann. Da geht es etwa um den Abbau von Hierarchien, die Dezentralisierung von Entscheidungen oder die Stärkung von Austausch und Kooperation

Das Interview führte Candida Splett von der Online-Redaktion.