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Russische Außenpolitik: Warum wir über »graue Schwäne« nachdenken sollten

Die SWP-Studie »Denkbare Überraschungen. Elf Entwicklungen, die Russlands Außenpolitik nehmen könnte« hat zum Teil heftige Kritik hervorgerufen. Im Interview erläutern die Herausgeberinnen das Anliegen der Studie und ihre Methode.

Kurz gesagt, 10.08.2016 Research Areas

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Russische Außenpolitik: Warum wir über »graue Schwäne« nachdenken sollten

Die SWP-Studie »Denkbare Überraschungen. Elf Entwicklungen, die Russlands Außenpolitik nehmen könnte« hat zum Teil heftige Kritik hervorgerufen. Im Interview erläutern die Herausgeberinnen Sabine Fischer und Margarete Klein das Anliegen der Studie und ihre Methode.

Die von Ihnen herausgegebene Sammelstudie über denkbare Überraschungen in der russischen Außenpolitik hat vor allem in russischsprachigen Medien teilweise heftige Reaktionen hervorgerufen. Haben Sie damit gerechnet?

Wir haben tatsächlich mit einer stärkeren Reaktion gerechnet, als das normalerweise bei SWP-Studien der Fall ist. Zum einen ist der Gegenstand, also russische Außenpolitik, sehr politisiert und ruft sowohl in Russland als auch in Deutschland starke Emotionen hervor. Zum anderen ist die Methode, die wir für das Projekt angewandt haben, nicht sehr gängig, was die Gefahr von Missverständnissen erhöht.

Worin besteht diese Methode?

Das Projekt war eine Übung in wissenschaftlich angeleiteter Vorausschau. Wir beschäftigen uns in der Studie mit sogenannten »grauen Schwänen«, also möglichen krisenhaften Entwicklungen, die sich über einen längeren Zeitraum abzeichnen, ohne dass sie politisch mit angemessener Priorität bearbeitet werden. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass die Annexion der Krim oder auch das russische militärische Eingreifen in Syrien politische Akteure und Experten/innen vollkommen überrascht hat – das übrigens nicht nur im Westen, sondern auch in Russland. Dabei kamen diese Entwicklungen nicht aus dem Nichts. Vielmehr zeichneten sie sich in den Jahren vor ihrer krisenhaften Verdichtung bereits ab, wurden jedoch aus den unterschiedlichsten Gründen nicht ausreichend wahrgenommen.

Und deshalb haben Sie sich in diesem Projekt bewusst vorgenommen, über Entwicklungen nachzudenken, die zu weiteren Überraschungen führen könnten?

Richtig. Dabei denken wir uns keine von der Gegenwart losgelösten Situationen aus, sondern machen bestehende Trends sichtbar und extrapolieren sie in die Zukunft. Wir können nicht voraussagen, ob die beschriebenen Situationen in der geschilderten Form eintreten werden. Wichtig ist aber, dass es sich um Szenarien handelt, die, wenn sie eintreten sollten, erhebliche Konsequenzen für Deutschland und die EU hätten. Daher sollten sich Wissenschaft und Politik mit ihnen und weiteren Situationen auseinandersetzen, um besser auf mögliche künftige Entwicklungen vorbereitet zu sein. Wir sehen unsere Aufgabe darin, das analytische Denken über russische Außenpolitik in die Zukunft hinein zu erweitern und dabei im doppelten Sinne offen zu sein: sowohl für mögliche negative Entwicklungen als auch für solche, die Anhaltspunkte für Kooperation bieten könnten. Grundsätzlich kann und sollte diese Methode nicht nur auf Russland, sondern auch auf andere Akteure angewendet werden.

Was sind die Vorteile dieser Methode?

Die Methode ermöglicht es uns, auf der Basis solider wissenschaftlicher Expertise und Argumentation unser Denken in die Zukunft zu erweitern und auf diese Weise das »Universum denkbarer Möglichkeiten« besser auszuleuchten – ohne es natürlich jemals vollständig erfassen zu können. Solche Reflexionen sind auch für politisches Handeln äußerst wichtig; im Hinblick darauf, wie erwünschte Entwicklungen gefördert können und wie unerwünschten Entwicklungen begegnet werden kann.

Welche Nachteile sehen Sie?

Uns ist vollkommen bewusst, dass wir durch die Auswahl von elf aus einer unendlichen Anzahl möglicher Entwicklungen das Bild der Zukunft vorprägen. Wir begegnen dem durch eine rigorose Anwendung der Methode: Die Beiträge legen ihre Annahmen offen, sie haben einen Auswahlprozess durchlaufen und wurden mehrfach intern diskutiert, begutachtet und überarbeitet. Uns war durchaus klar, dass wir mit der Publikation ein gewisses Risiko eingehen, sowohl mit Blick auf Missverständnisse als auch mit Blick auf Instrumentalisierungsversuche. Wir sehen unser Vorgehen jedoch als Beitrag zu einer transparenten, wissenschaftlich fundierten Diskussion.

Wie haben Sie sich auf die thematischen Schwerpunkte verständigt?

Die Studie umfasst vier Themenbereiche: EU-Europa, andere Regionen, Internet/Energie/Sicherheit und Eurasien, mit jeweils zwei bis drei Beiträgen. Wir haben diese Bereiche nicht vorgegeben, vielmehr haben sie sich im Laufe von internen Brainstormings herauskristallisiert. Sie spiegeln aber die Schwerpunkte russischer Außenpolitik wieder. Es verwundert nicht, dass wir besonders viele Beiträge zu Eurasien und EU-Europa haben, weil diese Regionen mit Russland besonders eng verbunden sind. Auch das ehemalige Jugoslawien, der Nahe Osten und Asien sind vertreten, nicht jedoch Afrika, Lateinamerika oder Australien, wo die Vernetzung mit Russland wesentlich geringer ausgeprägt ist. In den vier Themenbereichen werden spezifische Einzelsituationen beschrieben, in denen die Wahrscheinlichkeit russischen Handelns besonders hoch ist – entweder weil Moskau sich unter Handlungszwang sieht oder eine sich ihm bietende Möglichkeit nutzt.

Welche Szenarien haben bislang die meisten Reaktionen hervorgerufen?

Am aktivsten wurden bisher die Szenarien zu Zentralasien und Russland diskutiert. Im von Sebastian Schiek entwickelten Szenario kommt es aufgrund der ungeklärten Nachfolgefrage in Kasachstan und Tadschikistan zu internen Machtkämpfen, in die Russland politisch und militärisch eingreift. In unserem Szenario sendet eine sowohl aus reformorientierten Technokraten/innen und Silowiki – Akteuren mit einem Hintergrund im Militär und den Sicherheitsdiensten – bestehende russische Regierung unter der Leitung von Alexej Kudrin widersprüchliche Signale an Brüssel und Berlin aus.

Wie erklären Sie sich die starken Reaktionen gerade auf diese Szenarien?

Beide Szenarien greifen Diskussionen auf, die schon länger in politischen und Experten/innenkreisen in und außerhalb der Region geführt werden. Insofern sind sie nicht neu. Gleichzeitig sind sie politisch natürlich heikel und treffen gewisse Empfindlichkeiten. In Zentralasien spiegeln die Reaktionen auf unsere Publikation sowohl die generelle Verunsicherung über ungelöste Nachfolgefragen in hochpersonalisierten autoritären Herrschaftssystemen als auch Befürchtungen hinsichtlich russischen Hegemonialstrebens. In Russland bildet die Intransparenz des politischen Systems einen fruchtbaren Nährboden für periodisch wiederkehrende Spekulationen über Regierungsumbildungen und andere Personalrochaden. Gleichzeitig steigt angesichts der sich verschärfenden Wirtschaftskrise der Handlungsdruck auf die politische Führung. Dies gilt umso mehr angesichts der anstehenden Wahlen zur Staatsduma im September 2016 und besonders der Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2018. In dieser sich aufheizenden politischen Situation scheint unser Szenario besondere Aufmerksamkeit hervorzurufen.

Was erwidern Sie den Kritikern?

Wir betonen noch einmal, dass wir nicht davon ausgehen, dass diese Szenarien sich in der geschilderten Form realisieren. Worum es uns geht, ist auf einige Situationen aufmerksam zu machen, die eintreten könnten und dann mit gravierenden Konsequenzen verbunden wären. Im Unterschied zu bloßem Rätselraten legen wir jedoch unsere Ausgangs- und Wirkungsannahmen offen und machen diese damit der Kritik zugänglich. Dass diese »Einladung zur Kritik« aufgegriffen wird, bestätigt unseren Ansatz. Natürlich muss sich die Kritik ebenfalls an wissenschaftlichen Standards messen lassen.

Welches Russlandbild spiegelt die Studie wider?

Die Mehrzahl der Beiträge geht von Kontinuität in der russischen Außenpolitik aus insofern, als Russland weiterhin nach der Rolle einer Großmacht in den internationalen Beziehungen und Vormacht in Eurasien streben wird. Wir sehen aber keinen Akteur mit einem außenpolitischen Masterplan, sondern einen mit spezifischen Interessen, der systematisch an der Ausweitung seiner Möglichkeiten arbeitet. Seine Handlungen aber werden weiter stark von externen Rahmenbedingungen bestimmt sein, auf die er nur bedingt Einfluss hat.

Das Interview führte Candida Splett von der Online-Redaktion.

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