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Future Combat Air System: Too Big to Fail

Unterschiedliche Perzeptionen und hohe Komplexität gefährden den Erfolg des strategischen Rüstungsprojekts

SWP-Aktuell 2020/A 98, 11.12.2020, 8 Pages

doi:10.18449/2020A98

Research Areas

Die Entwicklung des Future Combat Air System (FCAS) ist Europas bedeutendstes Rüstungsvorhaben. Sowohl technologisch als auch militärisch hat das Projekt das Potenzial, neue Standards zu setzen und den Einsatz von Luftstreitkräften zu revolutionieren. Politisch ist das multinationale Vorhaben ein Lackmustest dafür, in­wiefern Europa in der Lage ist, sicherheitspolitisch zusammenzuarbeiten, eigene Fähigkeiten zu entwickeln und zu diesem Zweck nationale Interessen in den Hintergrund zu stellen. Auf Berlin und Paris lastet besondere Verantwortung für den Erfolg des Projekts. Ihre unterschiedlichen Blickwinkel und Verfahren gefährden ihn jedoch – ein Scheitern hätte für alle Beteiligten gravierende Nachteile.

Die Anfänge des Future Combat Air System reichen zu­rück in das Jahr 2001. Damals begannen erste Studien zur Ent­wick­lung neuer Kampfflugzeuge im euro­päischen Ver­bund. Einsatzreif soll das Gesamtprojekt FCAS planmäßig bis 2040 sein. Der Begriff Future Combat Air System bzw. sein Akronym FCAS wird häufig miss­verständlich ge­braucht. Obwohl es natür­lich Zusammenhänge zur Nachfolgelösung für die Tornado-Jets gibt, ist FCAS weit mehr als ein Kampf­flugzeug-Projekt.

Die militärische Luftfahrtstrategie spricht von einem Systemverbund (»System of Sys­tems«), das langfristig das Rückgrat der Luft­streitkräfte bilden soll. FCAS ist dem­nach keine einzelne fliegende Plattform, sondern ein vernetzt operierender Wirkverbund, der sich zusammensetzt aus bereits exis­tierenden Sys­temen (z. B. Euro­fightern oder Tiger-Kampfhubschraubern), aber auch Neu­entwicklungen wie etwa der Euro­drohne und einem Next Generation Weapon System (NGWS). Das Next Gener­ation Weapon Sys­tem ist der greifbare innovative Kern des Pro­jekts FCAS. Es besteht aus einem neuen Kampfflugzeug, dem Next Generation Fighter (NGF), sowie aus bis zu einem gewissen Grad autonomen Plattformen (Remote Carrier, RC), die alle in einem geschützten System zum Daten­austausch miteinander verbunden sind, der sogenannten Air Com­bat Cloud (ACC).

FCAS und NGWS sind keine Synonyme, sondern Letzteres ist integraler Bestandteil des Ersteren. Man kann sich das Gesamt­system FCAS als Anordnung kon­zentrischer Kreise vorstellen: Im Zentrum steht der NGF als Kampfflugzeug der nächsten Gene­ra­tion. Im inneren Kreis bildet dieser mit den Remote Carrier das Next Generation Weapon System, das über die Air Combat Cloud verbunden ist und gesteuert wird. Im äuße­ren Kreis ist das NGWS mit anderen Syste­men vernetzt. Darunter fallen sowohl Kampfflugzeuge wie der Eurofighter oder die französische Rafale, aber auch Tank­flugzeuge, Marineschiffe, Satelliten und Mittel der anderen eingebundenen Streit­kräfte. Dieser Verbund ist das Future Combat Air System, in dem alle Elemente ständig miteinander kommunizieren müssen, um ein Team zu bilden.

Der militärische Wert wird also weniger in den einzel­nen Plattformen liegen als in der Art und Weise, wie sie miteinander kom­biniert werden. Über­trägt man diese Archi­tek­tur auf die beste­henden Systeme der Bun­deswehr, so bedeutet das: Der Euro­fighter wird weiter­entwickelt und im Rah­men des FCAS weiter­betrieben, der Tornado wird durch ein anderes System ersetzt, das ins FCAS integriert werden muss.

Die begriffliche Komplexität erschwert eine sachorientierte Debatte. Manche Publi­kation dreht sich um FCAS, meint aber im Kern nur den Kampfflugzeug-Anteil. Damit gehen Trennschärfe und Detailtiefe ver­loren. Reduziert man FCAS auf den Anteil NGF, unterschlägt man die Vielschichtigkeit und Tragweite des Projekts und blen­det rele­vante Teilkomponenten wie etwa die Ent­wick­lung der Remote Car­rier aus, im Klartext: die Ent­wick­lung einer Tech­nologie zumindest teil­autonomer bewaff­neter Drohnen.

Die konkrete Gestalt eines FCAS kann in den Partnernationen jeweils unterschiedlich sein, die integrierten Plattformen werden variieren. Vielleicht werden ein­zelne Staa­ten in der Zukunft lediglich den inneren Kreis mit dem NGWS nutzen oder nur den NGF bzw. einzelne Remote Carrier in ihren Streitkräften einsetzen. Wichtig ist trotz all dieser Möglichkeiten, dass FCAS stets als Gesamtsystem verstanden wird. Diesem Design trägt die Projekt­architektur Rechnung. FCAS ist in ins­gesamt sieben Entwicklungsfelder (Pillars) aufgeteilt, in denen je eine Firma den Lead innehat (siehe Grafik 1).

Die Entwicklung in diesen getrennten Säulen geht unterschiedlich schnell von­statten und auf Grundlage separater Ver­träge. Sie folgt dabei einem inkrementellen Ansatz. Es soll explizit nicht abgewartet werden, bis alle Komponenten vollständig entwickelt wurden, sondern Zwischen­ergebnisse sollen verfügbar gemacht wer­den, um so praktische Erkenntnisse für den weiteren Prozess zu sammeln.

Deutschland und Frankreich spielen in den Entwicklungsfeldern die Schlüssel­rollen; Spanien ist dieser Organisation spät beigetreten. Möglichkeiten der Beteiligung für spanische Unternehmen ergeben sich zum einen aus noch entstehenden Lücken, die sinnvoll zu besetzen sind, zum anderen aus industriepolitischen Interessen. Ob­gleich betont wird, dass alle sieben Säulen maßgebliche Beiträge liefern werden, sind die greif­barsten und prägenden Ergeb­nisse sicher­lich in den Bereichen Flugzeug inklusive Triebwerk sowie Drohnen (Remote Carrier) zu erwarten.

Die Wahrnehmung des FCAS als deutsch-französisches Projekt ist mit dem Beitritt Spaniens faktisch überholt. Mit Blick auf die Zuteilung der Entwicklungspakete zwischen Deutschland und Frankreich sowie den Projektfortschritt ist dies dennoch gültig. Eines der zentralen Handlungsfelder für die weitere Entwicklung ist die volle Inte­gra­tion Spaniens, die auch als Blaupause für eine spätere Aufnahme wei­terer Partner dienen kann. Hierbei kommt es darauf an, Spanien so schnell wie möglich an den bisherigen Projektfortschritten teilhaben zu lassen und so einen gemeinsamen Abholpunkt der drei Trägernationen zu schaffen.

Kulturelle und strukturelle Diffe­renzen zwischen Paris und Berlin

Deutschland setzte schon früher, für Tor­nado und Eurofighter, auf multi­nationale europäische Kooperationen. Frank­reich hingegen entschied sich für nationale Ent­wicklungsansätze. Berlin und Paris sind ungleiche Partner, die in einem ambitionier­ten, bisweilen visionären Rüstungs­projekt verbunden sind. Ihre unterschied­lichen poli­tischen und strategischen Kulturen färben jedoch auch auf gemeinsame Vorhaben wie das FCAS ab. Dem zentralistischen Präsidentialsystem Frank­reichs steht der starke deutsche Parla­men­tarismus gegen­über, dem französischen Anspruch, uni­lateral militärisch hand­lungsfähig zu sein, die deutsche Ori­entie­rung an multi­latera­len Strukturen. Daher ist FCAS gleichermaßen ein politisches Projekt – aus den genannten Unter­schie­den können sich nämlich immer wieder Miss­verständ­nisse und dadurch Risi­ken ergeben, die auf Regierungsebene an­zu­gehen sind. Angesichts der Kom­plexität und der vielfältigen Implikationen des Pro­jekts sollten sich die deutschen Beteiligten über die eigenen, die fran­zösischen und die euro­päischen Interessen klar werden.

Grafik 1

In FCAS wird das »Best Athlete«-Prinzip verfolgt: Jedes Unternehmen soll für den Bereich zuständig sein, für den es seine Fähigkeiten bereits unter Beweis gestellt hat. Die jeweils führende Nation wird in ihrer Säule durch einen Hauptpartner unterstützt. Diese Auf­teilung bezieht sich vor allem auf die nun anstehenden Demonstrator-Phasen des Projekts (Phase 1B und 2).

Eine entscheidende Frage, die an dieser Stelle aufkommt, betrifft den Schutz ent­stehenden oder vorhandenen geistigen Eigen­tums: Wie weit sollen die Unternehmen ihre Verfahren und ihr Know-how offenlegen, bis zu welchem Grad wer­den technische Spezifikationen später zwischen den Partnern verfügbar gemacht? Eine Verständigung über den Umgang mit Rech­ten des geistigen Eigentums (Intellectual Property Rights, IPRs) ist elementar für den weiteren Fortgang des Projekts und hat Auswirkungen auf viele Einzelfragen. Zum Beispiel ist davon am Ende abhängig, wie die Nutzung der einzelnen Komponenten organisiert wird. Können Wartung und Instandsetzung nur industriell beim Lead-Hersteller erfolgen oder ist der Zugriff auf die Dokumentationen so weit gewährleistet, dass dies weit­gehend in den Streit­kräften mithilfe nationaler Industrie­kooperation geschehen kann? Wenn einzig der Her­steller bestimmte Teile der War­tung ausführen kann und darf, kann das die Einsatzbereitschaft beeinflussen.

Ebenfalls relevant sind solche Rechts­fragen für Anpassungen und Weiter­entwicklungen wie die Inte­gration neuer Waffen- oder Avioniksysteme. Deutschland und Frankreich nutzen heute verschiedene, teilweise rein national entwickelte Bewaff­nungen für ihre Flug­zeuge. Bleiben be­stimmte Teile der tech­nischen Dokumentation unter Verschluss, könnte sich hier gleichfalls ein Flaschenhals herausbilden.

Neben diesen ganz praktischen Aus­wirkungen spielen vor allem industrie­poli­tische Aspekte eine Rolle. Deutsche Inter­essen in Form der nationalen Schlüsseltechnologien (z. B. Sensorik und elektro­ni­sche Kampfführung) und französische Interessen, die die nationale industrielle strategische Autonomie betreffen (z. B. die Fähigkeit, ein Kampfflugzeug komplett selbst zu entwickeln), stehen einander gegen­über. Ziel einer europäischen Lösung muss es sein, Black Boxes in der Technik, wie sie heute häufig bei US-Importen vorkommen, mög­lichst gering zu halten, im Idealfall ganz zu vermeiden. Bevor FCAS in die Phase 1B und damit in Richtung der Ent­wicklung von Demonstratoren gehen kann, müssen diese Fragen gelöst und vertraglich in den einzelnen Pro­jektsäulen fixiert sein.

Berlin und Paris verfolgen in der Industriepolitik ihre je eigenen nationalen (Wirtschafts-)Inter­essen. Frankreichs Rüs­tungs­sektor ist indes grundlegend anders struk­turiert als sein deut­sches Pendant. Die fran­zösische Vertei­di­gungsindustrie ist eng mit dem Staat ver­zahnt und erscheint als geschlossen auf­tretender Komplex. Die staatliche Direction générale de l’arme­ment (DGA) fungiert dabei als höchster Koordi­nator aller Rüstungsprojekte und zentraler Ansprech­partner in allen Fragen der Aus­rüstung. Sie ist jedoch mehr als ein französisches Beschaffungsamt. Die DGA ist zum Beispiel verantwortlich für einen natio­nalen Personal­pool militärischer Ingenieure (corps des ingé­nieurs des études et tech­niques de l’arme­ment, IETA), die über Verwendungen im Militär, aber auch im Austausch mit der Industrie gezielt aus­gebildet werden. Zwi­schen Armee und Indust­rie existieren daher eine viel höhere Durch­lässigkeit sowie intensive kulturelle und personelle Verbindungen. Poli­tische Berührungsängste gegenüber der Rüstungsindustrie gibt es nicht, im Ge­genteil: Der Informationsfluss zwischen Regierung und Industrie ist formalisiert und selbstver­ständ­licher Teil der nationalen Verteidigungs­politik.

Der deutschen Seite fehlt nicht nur ein institutionelles Gegenstück zur DGA; die deutsche Indus­trie ist ebenfalls weit weni­ger homogen aufgestellt. Dieses insti­tu­tionelle und inge­nieurskulturelle Ungleich­gewicht führt auf beiden Seiten zu Miss­verständnissen. Während in Frankreich die DGA als der Ansprechpartner vom Vertragsschluss über Entwicklungsfragen bis hin zur Nutzung alles zentral steuert, treten in Deutschland verschiedene Akteure nach innen und außen auf: die Regierung, re­präsentiert durch Verteidigungs- bzw. Wirt­schafts­ministe­rium; die Bundeswehr in Gestalt des Bundesamts für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw); schließlich die Industrie, durch einzelne Firmen oder durch ihre Dach­verbände mit jeweils unter­schied­lichen Rollen und Interessen. Dieser struk­turelle Unter­schied begünstigt Frank­reichs Position generell und insbesondere beim Kampfflugzeug, wo es die Entwicklungs­leitung stellt. Letztlich zeigt sich auch hieran, dass der deutsche Be­schaffungs­prozess reformiert werden muss.

Zum Begriff »Generation« bei Kampfflugzeugen

Der unter französischer Führung entwickelte Next Generation Fighter, der Kern des FCAS, wird auch als Kampfflugzeug der sechsten Generation beschrieben. Er stünde damit formal an der Spitze der technischen Ent­wicklung. Die US-Modelle F‑22 und F‑35 etwa bilden die sogenannte fünfte Generation, gegenwärtig die modernste Stufe.

Kampfflugzeuge werden in der Fachwelt seit längerem in Generationen eingeteilt. Dieses System erlaubt es, Kampf­flugzeug-Muster zu unterscheiden, ohne sich jedes Mal mit den exakten technischen Spezifika auseinandersetzen zu müssen.

Grafik 2

Die Kategorisierung erfolgt im Wesent­lichen nach Merkmalen des technischen Entwicklungsstands und des Ent­wicklungs­zeitraums. Die Einteilung in Generationen­ ist deswegen eher skizzenhaft und wird an den Über­gängen zweier Stufen unscharf. Dar­über hinaus handelt es sich bei den in Rede stehenden Generationen nicht um ein­heitlich definierte, allgemein anerkannte Standards. Es gibt sogar mehrere, teils stark voneinander abweichende An­sätze der Gene­ra­tionen­einteilung. So unterschied beispiels­weise der Historiker Richard Hallion 1990 bereits sechs Gene­rationen, wobei die damals gängigen, heute veralteten Muster wie Tornado, Mirage 2000 oder F‑14 die sechste und modernste Generation darstellten.

Die ge­bräuchlicheren Systeme sehen eine andere Methodik vor, die eher technik- als epochenfixiert ist. Weit verbreitet ist ins­besondere das 2009 vom amerikanischen Air Force Magazine publizierte Modell (siehe Grafik 2). Es unterteilt anhand technolo­gischer Meilensteine fünf existie­rende Gene­rationen. Die­ses System stellt eine sechste Generation als nächsten Ent­wick­lungs­­schritt in Aus­sicht und schreibt ihr unter anderem Kenn­zeichen wie optio­nale Bemannung zu. Tor­nado und Euro­fighter finden sich hier in der Generation 4 (Tornado) bzw. 4+ (Euro­fighter) wieder, was auch in der deut­schen Diskussion Kon­sens ist. Die französischen Muster Rafale (4+) und Mirage 2000 (4) rangieren im selben Spektrum.

Die Zuordnung eines Flugzeugmusters zu einer bestimmten Generation kann also durchaus strittig sein und ist letztlich immer auch Teil der Marketingbemü­hungen der Herstellerfirmen.

Für die Generationenstufen wurden jeweils mehrere Kriterien festgelegt, die für die Klassifikation erfüllt sein sollen. Unklar ist, ob sie sich gegeneinander aufwiegen lassen. Kom­pensiert zum Beispiel bessere Radartechnik fehlende Geschwindigkeit?

Wenn man den Generationenbegriff verwendet, so bedarf dieser der Einordnung und Erläuterung und sollte nicht absolut für sich stehen. Das Label »Next Genera­ti­on«, wie es in den Komponenten des FCAS gebraucht wird, bezieht sich auf die be­schrie­bene Systematik (siehe Grafik 2), lässt aber auch andere Interpretationen zu. Folgt man dem Anspruch, dass der NGF ein Kampfflugzeug der sechsten Gene­ration sein soll, legt man technologisch die F‑35 als Benchmark an. Dies impliziert ferner, dass eine Generation übersprungen werden muss, wenn man ohne Zwischenschritt vom Eurofighter zum NGF der sechsten Generation kommen möchte. Das wird vor allem deshalb kaum möglich sein, weil charakteristische Merk­male sowohl der fünf­ten als auch der sechsten Generation, etwa Stealth-­Technologie, bis­her von keiner der betei­lig­ten Firmen gebaut wurden und als sehr anspruchsvoll gelten.

Der Begriff »Next Generation« kann andererseits ebenso auf die heute vorhandenen Flug­zeuge bezogen werden. Dies würde den Anspruch an den NGF etwas relativieren, weil er dann »nur noch« moderner als Eurofighter und Rafale sein und nicht mehr explizit die sechste Gene­ration bilden müsste. Sinnvoll für die Ent­wick­lung des NGF aus deutscher Sicht ist, den technologischen Stand des Eurofighters als Basis aufzufassen. Die Weiterentwicklung in Richtung NGF soll­te in diesem Fall vorrangig in den Bereichen erfol­gen, die der Eurofighter aktuell nicht abdeckt, das heißt hauptsächlich im elek­tro­nischen Kampf als nationaler Schlüsseltech­nologie.

Die nukleare Dimension eines Future Combat Air System

Fragen der Technologiehoheit und die Gene­rationszuordnung des NGF spielen zudem eine entscheidende Rolle, wenn es um die Nuklearfähigkeit eines FCAS geht. Frankreich betrachtet die nukleare Ab­schreckung als wesentlichen Eckstein seiner eigenen wie der europäischen Souveränität und sieht dafür bis 2025 in seinem Militär­budget 37 Milliarden Euro vor. Frankreichs nukle­ares Potenzial ist mit rund 300 Spreng­köpfen das viertgrößte der Welt. Neben mit ballistischen Raketen bestückten U‑Booten verfügt Frankreich über nukleare Marschflugkörper, die mit dem Kampfflugzeug Rafale verbracht werden, auch von Flug­zeugträgern aus. Aus franzö­si­scher Per­spektive muss der NGF als Nach­folger der Rafale zwingend in der Lage sein, diese Aufgabe wahrzunehmen. Dar­aus ergeben sich zwei Fähigkeitsforderungen: ers­tens das Tragen der nuklearen Abstands­waffe ASMP, zweitens die Befähigung zur Landung auf Flugzeugträgern.

Auf deutscher Seite ist die Verbindung zwischen FCAS und der nuklearen Rolle eher indirekt vorhanden. Die Bundeswehr partizipiert heute mit ihrer Tornado-Flotte an der nuklearen Teilhabe der Nato. Dazu sind nukleare Freifallbomben in Deutschland stationiert. Die Zukunft dieser Rolle ist poli­tisch um­stritten. Kritiker fordern unter anderem das Ende der nuklearen Teil­habe, da sie keinen Einfluss auf die US-Nuklearstrategie sichere und der Einsatz von Atom­waffen ethisch und völkerrechtlich nicht zu ver­antworten sei. In der Frage der Tornado-Nachfolge fand diese Debatte einen Kristallisationspunkt.

Aus Sicht der Bundesregierung ist die Fort­setzung der nuklearen Teil­habe ele­men­tare Fähigkeitsforderung bei der Aus­wahl des Kampfflugzeugs. Aus der Opposi­tion hin­gegen wurde ein Antrag in den Deut­schen Bundestag eingebracht, um die opera­tive nukleare Teilhabe zu beenden und dafür auch kein Kampfflugzeug mehr zu zer­tifizieren. Im April 2020 hat das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) einen Lösungsvorschlag unter­breitet, in dem es die Tornados der Luft­waffe durch amerikanische F‑18-Mo­delle (Gene­ration 4+) ersetzen möchte. Dafür nutzt es den Begriff »Brückenlösung«, denn es gilt, die Einsatz­bereitschaft sicher­zustellen in der Zeit zwi­schen dem nahen­den Aus­stieg aus dem Tornado und dem vermutlich erst ab 2040 zur Ver­fügung stehenden NGF. Allerdings findet sich kein konkreter Hin­weis darauf, in­wiefern die nukleare Rolle künftig berück­sichtigt werden soll.

Folgt man der Logik des Bildes einer Brücke, so wäre in diesem Szenario zu­nächst die amerika­nische F‑18 als nuklearer Waf­fenträger vorgesehen. Jedoch verfügt sie derzeit nicht über die für eine nukleare Nutzung not­wendige Zertifizierung seitens der USA. Später müsste dann der NGF diese Rolle übernehmen, wozu er ebenfalls eine nukleare Zertifizierung bräuchte. Insbesondere dieser Umstand erscheint aus heutiger Perspektive proble­matisch: Ers­tens müsste eine technische Lösung für die An­forderung gefunden werden, dass sowohl die amerikanische als auch die fran­zösische Waffe mit diesem Flugzeug ein­setz­bar sein müsste. Eine solche Kombination exis­tiert gegenwärtig nicht. Sie würde das Pro­jekt noch komplexer machen, weil nicht nur tech­nische (Freifallwaffe vs. Marsch­flugkörper), sondern auch Aspekte der Geheimhaltung zu klären wären.

Zweitens zeigte sich schon bei der Frage, ob man den Eurofighter nuklear zertifi­zieren könnte, dass dies mit hohen Hürden ver­bunden ist. Dazu muss die technische Dokumentation des Kampfflugzeugs und aller weiteren am Ein­satz beteiligten Geräte regelmäßig offengelegt werden. Alle Nutzer­staaten müssen ihr Ein­verständnis geben, daher ist die Ange­legen­heit aus militärischen und industrie­politischen Geheimschutzgründen sehr sensibel. Da der NGF explizit der fran­zösi­sche Atomwaffenträger sein wird, ist er für Frankreich Teil seiner strategischen Auto­nomie. Deshalb scheint die erforderliche französische Zustimmung zu einer Zertifi­zierung aus heutiger Sicht ungewiss – auch dies letztlich eine Frage der IPRs, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Projekt ziehen.

Hält Deutschland an der Brückenlösung F‑18 fest, hätte es eventuell einen neuen Nu­klear­träger, stünde aber vor der Her­aus­forderung, ihn in das Gesamtsystem FCAS zu integrieren. Eine implizite Schwä­chung des Verbunds und zusätzliche Kosten für das Flottenmanagement wären die Folge. Im schlechtesten Fall könnte sich sogar abzeichnen, dass der NGF nicht als Nach­folger in der Nuklearrolle in Frage kommt; dann wäre man über Jahrzehnte an ein System der Genera­tion 4+ gebunden. Schon heute werden Zweifel an der operativen Einsatztauglichkeit der luft­gestützten nu­kle­aren Teilhabe laut und sind umso berechtigter, je älter die Trägerflugzeuge sind. Deswegen ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Brückenlösung entweder zur Dauerlösung wird oder man nolens volens die nukleare Teilhabe in ihrer aktu­ellen Form zur Disposition stellt.

Deutschland und Frankreich begegnen dieser Dimension mit unterschiedlichen Perzeptionen von Abschreckung und Sou­veränität, was sich auf die Debatte über die Entwicklung auf allen Ebenen niederschlägt. FCAS ist unbestreitbar auch ein nukleares Projekt. Paris arti­kuliert das klar; Berlin darf sich dieser Realität nicht ver­schließen, sondern muss in diesem Bereich ebensolchen Gestaltungsanspruch haben. Die Zukunft der nuklearen Teilhabe sollte in der nächsten Legislaturperiode konkret angegangen werden. Lässt die Bundesregierung FCAS in dieser Hinsicht einfach weiter­lau­fen, beraubt sie sich eigener Hand­lungsmöglichkeiten, was Folgen für Deutsch­lands Rolle im Bündnis haben kann.

Ausblick und Empfehlungen

Die Unterschiede in der strategischen Kul­tur Deutschlands und Frankreichs lassen sich in vielen Bereichen aufzeigen. FCAS ist ein weiteres Beispiel, bei dem sich die Partner ihrer Differenzen und gleichzeitig ihrer gegenseitigen Abhängigkeit gewahr werden. Aus französischer Perspektive ist das Projekt einerseits Ausdruck europäischer Sou­ve­ränität, andererseits essen­ti­eller Baustein nationaler Sicherheits- und Industrie-Interessen. In Deutschland geht diese strategische Bedeutung im Dickicht der Zuständigkeiten im Beschaffungs­prozess unter. Für den weiteren Verlauf gilt es, die Wahrnehmung des Projekts zu verändern. Ein stärkeres Engagement des Bundeskanzleramts kann das bewirken.

FCAS ist kein weiteres teures Rüstungs­vorhaben, es ist viel mehr. Es hat den Anspruch, innerhalb Europas technologische Exzellenz zu entwickeln und zu kultivieren, die geeignet ist, weit über den militä­rischen Sektor hinaus zu wirken. Anwendungen wie sichere europäische Cloud-Services oder unbemannte autonome Flugsteuerung sind Technologie-Treiber, deren Potenziale gleichermaßen für eine zivile Nutzung von hoher Relevanz sind. Die Entwicklungs- und Datenhoheit ist eng mit dem Anspruch verknüpft, prioritär euro­päische Produkte einzusetzen. Nicht zuletzt darum ist es so wichtig, FCAS als Gesamtsystem zu betrachten.

Der Projektzeitplan ist hinsichtlich der Komplexität des Vorhabens und der vielen Unbekannten sehr ehrgeizig. Ein Erstflug des NGF im Jahr 2035 und der Beginn der Ein­führung 2040 dürften nur dann zu schaffen sein, wenn wirklich alle Maß­nahmen ver­zugslos ineinandergreifen, was aus heutiger Sicht eher nicht anzu­nehmen ist. Drängendstes Problem ist die Regelung der IPRs.

Man muss der Tatsache ins Auge sehen, dass es selbstverständlich zu Verzöge­run­gen kommen wird. Zusätzliche Ver­zö­ge­rungen durch politische Unklarheiten, feh­lende finanzielle Sicherheit und pro­zessu­ale Inkonsistenzen gilt es indessen zu ver­meiden. Auf deutscher Seite besteht hier sicher­lich der größere Nachholbedarf. Ein not­wendiges Vehikel zur Verbesserung ist eine grund­legende Reform des Beschaffungs­prozesses.

Ziel­führend und kurzfristig leistbar ist eine politische Priorisierung des Projekts. Eine künftige Bundesregierung sollte angesichts der politischen Brisanz und der militärischen Bedeutung des Vorhabens im Koalitionsvertrag FCAS als Priorität und europäisches Leuchtturmprojekt benennen.

Im Rahmen eines Verteidigungsplanungs­gesetzes als Teil einer Reform des Rüstungs­prozesses könnten die kommenden Projekt­phasen überjährig festgeschrieben und finanziert werden. Dies hätte zum einen hohe Signalwirkung gegenüber Paris und böte zum anderen Planungssicherheit für Bun­deswehr und Industrie.

Darüber hinaus muss die europäische Perspektive des Projekts ausgebaut werden. Dazu gehört ebenfalls, das Pro­jekt, wahr­scheinlich vor allem den Anteil NGF, als Exportgut anzusehen und für entsprechende Regelungen zu sorgen. Aufgabe künfti­ger Bundesregierungen wird sein, zunächst Spanien vollständig zu integrieren und mittelfristig weitere Part­ner zu gewinnen, allerdings eher als Kunden denn als Ent­wickler. Je später ein Einstieg als Entwickler erfolgt, desto kom­plexer gestaltet er sich, weil bereits geschlossene Baustellen wieder aufgemacht werden müssten. Insbesondere der Anteil NGWS ist weiter fortgeschritten als andere vergleichbare Projekte in Europa, zum Beispiel das britische Tempest; weitere Integrationsbemühungen sollten diesen Vorsprung nicht gefährden.

Frankreich, Spanien und Deutschland verfügen derzeit nicht über ein Kampfflugzeug der fünften Generation, anders als etwa Großbritannien oder Italien. Für alle drei FCAS-Staaten ist der NGF un­ersetzbarer Teil der Zukunftsplanungen ihrer Luftstreitkräfte. Technologisch ist die Idee, von der vierten Generation direkt in die sechste einzusteigen und diese auch zu definieren, jedoch äußerst anspruchsvoll. Überzogene Erwar­tungen sollten gedämpft werden, allem gerechtfertigten Ehr­geiz zum Trotz. Zielset­zung muss es sein, eine Plattform zu ent­wickeln, die sowohl gemessen am Euro­fighter als auch an der Rafale einen deut­lichen Fortschritt darstellt und überdies in der Lage ist, mit der F‑35 am Markt zu konkurrieren. Eine Genera­tion 5+ zu defi­nie­ren, wobei der Jet zum europäischen Standard wird, wäre besser als eine teure Lösung, die der »echten« sechsten Generation nacheifert und von keinem Staat voll­umfänglich genutzt werden kann.

Was den Zeitplan anbetrifft, kann es zum Thema werden, ob mehr Gewicht auf die Fertigstellung des Anteils NGF zu legen ist. Frankreichs Interesse daran dürfte sehr hoch sein, schon allein vor dem Hintergrund seiner Lead-Rolle in diesem Segment und mangels Alternativen im Bereich Kampf­flugzeuge. Obwohl der übergeord­nete Gedanke sein muss, in FCAS ein Gesamt­system zu sehen, kann diese Prio­risierung zugunsten des greifbarsten Anteils unter Umständen sinnvoll werden.

Gelingt es nicht, dieses Projekt im europäischen Rahmen zu realisieren, werden größere gemeinsame Rüstungsanstrengungen in Europa zunehmend unwahrscheinlich. Die Bemühungen, die europäischen Rüstungsanstrengungen zu konsolidieren, würden konterkariert, die Ab­hän­gigkeiten von US-Herstellern weiter an­wachsen. Vornehmlich dieser gesamteuropäischen Verantwortung müssen sich die Partner stets bewusst sein.

Dominic Vogel ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364