Europa hat gewählt, nun steht die Neubesetzung der EU-Institutionen an. Die meiste Aufmerksamkeit richtet sich auf personelle Fragen. Doch genauso wichtig ist die inhaltliche und strukturelle Neuaufstellung der EU-Kommission, die unter Präsident Juncker zahlreiche Reformen erfahren hat. Zum Ende ihrer Amtsperiode ist die Bilanz gemischt: Die Kommission ist fokussierter geworden, und die interne Kohärenz deutlich gestiegen. Doch viele der Gesetzgebungsvorschläge waren auch am Ende der Legislaturperiode im Europäischen Parlament und/oder im Rat der EU nicht mehrheitsfähig. Das Leitbild der politischen Kommission hat sich zunehmend als unvereinbar mit den Kontrollaufgaben des höchsten Exekutivorgans der EU erwiesen. Die neue Kommission wird in einem schwierigeren politischen Umfeld agieren und selbst parteipolitisch heterogener werden. Ihre Neuaufstellung sollte daher auch als Gelegenheit genutzt werden, um das Spitzenkandidatenprinzip anders zu interpretieren und um zwischen Parlament, Rat und neuer Kommission ein gemeinsames politisches Programm für die EU zu verhandeln.
Zu Beginn jeder Legislaturperiode des Europäischen Parlaments (EP) werden die EU-Institutionen neu formiert. Die Wahl des Präsidenten bzw. der Präsidentin der EU-Kommission ist eng verbunden mit der Nominierung der Hohen Vertreterin bzw. des Hohen Vertreters, der Präsidentin bzw. des Präsidenten des Europäischen Rates und des Europäischen Parlaments sowie der übrigen Kommissionsmitglieder. 2019 kommt noch die Entscheidung über die Nachfolge des Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi hinzu. Diese Personalie sollte ursprünglich zwar von den parteipolitischen Verhandlungen getrennt werden, wird aber unweigerlich in den Machtpoker zwischen den Mitgliedstaaten miteinbezogen werden.
Dieser komplexe Prozess der Neuaufstellung wird von Rivalitäten auf drei Ebenen begleitet: zwischen den Parteien im EP, die darum ringen, welche von ihnen nach den Wahlen eine Mehrheit organisieren kann, zwischen dem EP und den nationalen Regierungen im Europäischen Rat um die Frage, wer den Kommissionspräsidenten oder die Kommissionspräsidentin bestimmt, und zuletzt zwischen den Mitgliedstaaten, die daran interessiert sind, ihren Einfluss möglichst umfassend geltend zu machen.
Die Schlüsselposition in dieser institutionellen – und auch programmatischen – Neuaufstellung hat weiterhin die Europäische Kommission. Zwar hat die Kommission im politischen System der EU in der letzten Dekade an Bedeutung verloren; der Europäische Rat ist das Forum, in dem die großen Kompromisse zwischen den Mitgliedstaaten ausgehandelt werden, und das Parlament hat an Gewicht in der EU-Gesetzgebung gewonnen. Und dennoch: Das alleinige legislative Initiativrecht bleibt bei der EU-Kommission, sie vertritt die EU in wichtigen Verhandlungen (wie über den Brexit mit Großbritannien) und fungiert als »Hüterin der Verträge« bei der Umsetzung der EU-Gesetzgebung oder beim Schutz der Rechtsstaatlichkeit.
Gemischte Bilanz der »Kommission der letzten Chance«
Die Neuaufstellung der Europäischen Kommission ist daher ein wichtiger Baustein für die politische Ausrichtung der EU. Hier lohnt sich ein Blick zurück. Als die Juncker-Kommission 2014 ins Amt gewählt wurde, steckten die EU und insbesondere die Eurozone mitten in der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Juncker trat mit dem Anspruch an, dass das von ihm geführte Team das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückgewinnen müsse und bezeichnete es als »Kommission der letzten Chance«. Doch die Amtszeit der Juncker-Kommission war geprägt von weiteren Krisen – die Grexit-Debatte, die Flüchtlingskrise, das Brexit-Votum und der Handelskonflikt mit den USA sind nur die sichtbarsten Wegmarken einer anhaltend problembelasteten Ära.
Zumindest die wirtschaftliche Situation in der Union hat sich während der Amtszeit der Juncker-Kommission stabilisiert. Auch das Vertrauen in die EU ist – bemerkenswerterweise gerade nach dem Brexit-Votum – wieder gewachsen. Im März 2019 bewerteten 62 Prozent der Befragten die EU positiv, im Vergleich zu 50 Prozent im Jahr 2014. Das Gleiche gilt für die EU-Kommission als Institution. Auch ihr vertrauten 2018 mehr Menschen in der EU (46 Prozent) als noch 2014 (32 Prozent).
Gleichzeitig jedoch hat sich die Krise der Europäischen Union von einer primär wirtschaftlichen zu einer politischen Krise entwickelt. In fast allen nationalen Wahlen in EU-Mitgliedstaaten zwischen 2014 und 2019 haben EU-skeptische Parteien an Zustimmung gewonnen. In mehreren Staaten gelang es ihnen dabei auch, Regierungsverantwortung zu übernehmen, wie etwa in Italien oder (zeitweise) in Österreich. Der ganz große Durchbruch ist bei den Europawahlen 2019 zwar ausgeblieben, aber in vier der sechs größten EU-Staaten (Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen) wurden EU-skeptische Parteien stärkste Kraft. Zwar sind sie im EP (noch) in drei Fraktionen gespalten und von einer eigenen Mehrheit weit entfernt. Gemeinsam stellen sie aber nun über 20 Prozent der Abgeordneten. Die das EU-Parlament bislang dominierende informelle große Koalition aus Europäischer Volkspartei (EVP) und europäischen Sozialdemokraten (S&D) hat hingegen ihre Mehrheit verloren (siehe SWP-Studie 9/2019).
Die Grenzen der politischen Kommission
Die nächste Kommission muss sich nun eine neue politische Basis im EP suchen. Unter der Führung von Juncker hatte sie sich als »hoch politische« Kommission verstanden, die in der EU nicht nur verwalten, sondern die Politik der Union aktiv und entlang klarer, auch kontroverser politischer Leitlinien gestalten würde. Damit wollte sich Juncker ganz dezidiert von seinem Vorgänger José Manuel Barroso abgrenzen, dessen Kommissionsführung als technokratisch und im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten im Europäischen Rat unterordnend galt.
In der Praxis fußte der Anspruch einer politischen Kommission auf zwei Säulen: Die erste war die politische Legitimation des Kommissionspräsidenten Juncker selbst. 2014 wurde der Inhaber dieses Amtes erstmals vom Europäischen Parlament gewählt, auf Vorschlag der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat. Gemäß diesem sogenannten »Spitzenkandidaten«-Prinzip konnte sich Juncker als offizieller Bewerber der EVP durchsetzen. Der Kommissionspräsident berief sich fortan auf die doppelte Legitimation durch die nationalen Regierungen und das EP. In der Praxis indes war die Autorität, die sich aus diesen Legitimationen hätte speisen können, nur begrenzt ausschöpfbar. Im Europäischen Rat geben weiterhin die Regierungen der großen Mitgliedstaaten den Ton an. Auf dessen wegweisende Beschlüsse hat der Kommissionspräsident nur begrenzten Einfluss. Und im EP gab es zu Beginn der Legislaturperiode zwar einen sehr engen Austausch zwischen der Führung der beiden großen Parteien und der Kommission. Eine Zusammenarbeit, die mit der zwischen einer nationalen Regierung und ihrer parlamentarischen Basis vergleichbar wäre und in einem abgestimmten Programm zum Ausdruck käme, ist daraus jedoch nicht entstanden.
Die zweite Säule, auf die sich die »politische« Kommission stützte, war der Anspruch, eigene gestalterische Prioritäten zu setzen und Entscheidungen entlang politischer, nicht rein technokratischer Kriterien zu treffen. Es ist dieser Bereich, wo die Widersprüche des Konstrukts Europäische Kommission am deutlichsten geworden sind. Denn das Selbstverständnis, als politisches Organ zu agieren, ist schwer vereinbar mit den Maßgaben des EU-Vertrags, denen zufolge die Kommission nicht nur als Motor der Integration, sondern auch als Hüterin der Verträge fungieren soll. In einigen Politikfeldern – etwa im Bereich der Wettbewerbskontrolle, des Schutzes der Rechtsstaatlichkeit, der Haushaltskontrolle in der Eurozone und der Vertragsverletzungsverfahren – soll sie als neutraler Schiedsrichter auftreten und auf Basis eben gerade technokratischer und nicht politischer Kriterien entscheiden. Selbst wenn die betreffenden Abteilungen der Kommission intern vor politischer Einflussnahme geschützt wurden, mindert es ihre Glaubwürdigkeit als neutrale Instanz, wenn sich die Kommissionsführung als politischer Akteur versteht.
Zwei Beispiele aus der vergangenen Legislaturperiode machen diesen Widerspruch besonders deutlich. In den zurückliegenden fünf Jahren ist der Schutz der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Union zu einer der wichtigsten und kontroversesten Aufgaben der Kommission geworden. Doch während die EVP-geführte Kommission relativ schnell ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen einleitete, war sie gegenüber Ungarn – dessen Regierungspartei Fidesz (noch) zur EVP gehört – wesentlich zögerlicher. Sowohl die polnische als auch die ungarische Regierung haben darüber hinaus dem zuständigen EU-Kommissar Frans Timmermans, einem führenden Kopf der SPE, vorgeworfen, sein Vorgehen sei parteipolitisch motiviert. Unabhängig davon, wie die Notwendigkeit der jeweiligen Rechtsstaatsverfahren zu bewerten ist, haben die Modalitäten, die sie begleiteten, gezeigt, dass die Kommission hier nicht glaubwürdig als neutrale Instanz auftreten kann.
Ein ähnliches Problem zeigt sich bei der Kontrolle der nationalen Wirtschafts- und Haushaltspolitik, insbesondere der Eurostaaten. Im Zuge der europäischen Schuldenkrise wurden die Kompetenzen der EU-Kommission bei der Überwachung der Budgets der Mitgliedstaaten noch ausgeweitet. Auch hier soll die EU-Kommission eigentlich auf der Basis technischer Kriterien entscheiden. Der unterschiedliche Umgang etwa mit Frankreich (unter der Führung von Präsident Macron) und Italien (regiert von einer Koalition der EU-skeptischen Fünf-Sterne-Bewegung und Lega) in Bezug auf deren jeweilige Haushaltsdefizite hat verdeutlicht, dass in die Bewertung der mitgliedstaatlichen Etats auch politische Erwägungen einfließen.
Mehr Kohäsion, klarere Prioritätensetzung
Erfolgreicher war die Juncker-Kommission hingegen bei der Rationalisierung der europäischen Gesetzgebung. Mit dem Ziel, eine EU zu führen, die sich auf das Wesentliche konzentriert und klare Prioritäten setzt, wollte Juncker die Anzahl neuer Gesetzgebungsinitiativen signifikant reduzieren.
Zu diesem Zweck hat Juncker die Arbeitsweise der Kommission grundsätzlich reformiert. Der Präsident kann die innere Organisation und Zusammensetzung der Kommission frei festlegen. So hat Juncker zu Beginn der Legislaturperiode innerhalb der Kommission zum einen eine Hierarchie eingeführt und Cluster gebildet. Mit 28 Kommissarinnen und Kommissaren ist die EU-Kommission größer als die meisten nationalen Regierungen. Eine Reduzierung der Kommission ist bisher aber immer wieder am Widerstand vor allem der kleineren EU‑Staaten gescheitert; sie wäre rechtlich ohne Vertragsänderung möglich, würde aber voraussetzen, dass alle Mitgliedstaaten zustimmen. Anstelle einer Verkleinerung hat Juncker jedoch die Vizepräsidenten mit eigenen Führungskompetenzen innerhalb der EU-Kommission ausgestattet und sie in sieben Cluster geordnet. Beispielsweise koordiniert die Hohe Vertreterin und Vizepräsidentin der Kommission Federica Mogherini die für das Feld der Außen- und Sicherheitspolitik relevanten Arbeiten der Kommissionsmitglieder für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterung, Handelspolitik, Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe. In der Folge hat auch die Kohärenz der EU-Außenpolitik zwischen GASP und den von der Kommission geführten Bereichen deutlich zugenommen.
Zum anderen hat die Kommission unter Juncker für ihre Tätigkeit zehn politische Prioritäten benannt. Sie hat dabei nur diejenigen Initiativen auf die Tagesordnung genommen, die die Vizepräsidenten empfohlen haben und unter die ausgewählten Prioritäten fallen.
In der Praxis hat die Juncker-Kommission dieses Ziel einer Ökonomisierung und Priorisierung der Kommissionstätigkeit auf den ersten Blick weitgehend erfüllt. Zunächst hat sie die Zahl der Gesetzgebungsvorschläge spürbar reduziert. Während die EU vor 2009 gemäß EUR-Lex jährlich durchschnittlich deutlich über 250 Gesetzgebungsakte (Richtlinien und Verordnungen) verabschiedet hat, lag der Durchschnittswert während der Amtszeit der Juncker-Kommission bei 130 pro Jahr. Die Reduktion war so einschneidend, dass sich EP-Abgeordnete zu Beginn der Legislaturperiode über einen Mangel an Gesetzgebungsinitiativen seitens der EU-Kommission beschwerten. Insgesamt wurden in den fünf Jahren der Juncker-Kommission 517 EU-Richtlinien und Verordnungen von Rat und EP verabschiedet (Stand: 11.6.2019). Im Vergleich: Während der zweiten Amtszeit von Junckers Vorgänger Barroso (2010–2014) waren es mit 716 noch fast 40 Prozent mehr.
Während die angekündigte Verringerung des legislativen Outputs also durchaus stattgefunden hat, sieht die Bilanz bei der Zahl der durchgesetzten Gesetzgebungsinitiativen gemischter aus. Denn die Verabschiedung europäischer Richtlinien und Verordnungen obliegt allein dem Parlament und dem Rat. Zwar hat die Kommission nach eigenen Angaben 94 Prozent der Initiativen, die sie innerhalb ihrer zehn Prioritäten vorgesehen hat, auch tatsächlich vorgelegt. Sie konnte indes nur in zwei Drittel der Dossiers eine Zustimmung der EU-Gesetzgeber erreichen.
Keine starke Agendasetzung
Besonders hoch ist die Diskrepanz bei den legislativen Vorhaben, denen die Kommission hohe politische Priorität zugewiesen hat: Traditionell soll die Kommission mit ihrem Initiativmonopol auch die Rolle als »Motor der Integration« erfüllen und die Union in Grundsatzfragen voranbringen, beispielsweise bei der Weiterentwicklung des Binnenmarkts oder der Einführung des Euros. Im komplexen Institutionengefüge der Gemeinschaft kann und konnte die Kommission nie allein die Politik der EU vorgeben, sondern war und ist darauf angewiesen, für ihre politischen Projekte die Unterstützung des EP und vor allem der Mitgliedstaaten im Rat zu gewinnen, indem sie kluge Kompromisse vorschlägt.
Ein erfolgreiches Beispiel hierfür ist die Handhabung des Brexit-Prozesses durch die Juncker-Kommission. Mit der frühen Nominierung von Michel Barnier als Verhandlungsführer im Artikel-50-Prozess hat die EU-Kommission nicht nur die direkten Gespräche mit Großbritannien übernommen. Vor allem haben Barnier und seine Arbeitsgruppe durch viele Besuche in allen 27 Hauptstädten und einen regelmäßigen Austausch in den EU-Gremien die politischen Interessen der Mitgliedstaaten in Bezug auf den Brexit erfasst, verarbeitet und so maßgeblich dazu beigetragen, dass die EU-27 in diesem Prozess eine einheitliche Position einnahm. Das Verhandlungsmandat haben auch hier die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat festgelegt, doch die Kommission hat den substantiellen Input dafür geliefert. Durch diese politische Führungsleistung hat die EU-Kommission auch das volle Vertrauen der nationalen Regierungen in den Brexit-Verhandlungen bekommen.
Anders sieht es bei den großen politischen Initiativen der EU-Kommission aus. In seinen jährlichen »State of the Union«-Reden vor dem Europäischen Parlament hat Juncker drei seiner zehn Prioritäten in den Mittelpunkt gestellt: Punkt eins war die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Bei diesem Anliegen konnte Juncker früh die Unterstützung des Parlaments und des Rats für den Europäischen Fonds für Strategische Investitionen (EFSI) gewinnen, der bis dato mit 73 Milliarden Euro Förderung Investitionen in einem Volumen von knapp 400 Milliarden Euro in der EU mobilisiert hat. Auch in der Handelspolitik hat die Juncker-Kommission mit Kanada und Japan umfangreiche neue Freihandelsabkommen für die EU ausgehandelt.
Beim zweiten Vorhaben, der Weiterentwicklung der Eurozone, hat die Kommission ihre Ziele jedoch weit verfehlt. Ende 2017 hat die Kommission ihren »Fahrplan für die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion Europas« vorgelegt. Zentrale Vorschläge waren unter anderem die Einrichtung eines Europäischen Währungsfonds, die Überführung des Fiskalpakts, der völkerrechtlich außerhalb des EU-Vertrags angelegt ist, in das EU-Recht, ein eigenes Budget für die Eurozone innerhalb des EU-Haushalts und die Einsetzung eines europäischen Wirtschafts- und Finanzministers. Diese Vorschläge sind in mehreren Staaten der Eurozone auf direkte, massive Ablehnung gestoßen. Am Ende ihrer Amtsperiode hat die Juncker-Kommission noch keines dieser Ziele erreicht. Am weitesten sind die Verhandlungen über ein – deutlich begrenzteres – Finanzinstrument für die Eurozone vorangeschritten. Dies ist aber auf die Impulse zurückzuführen, die von Deutschland und Frankreich in dieser Sache ausgegangen sind.
Der dritte Bereich, dem Juncker Priorität zugemessen hat, war die Asyl- und Migrationspolitik. Dieses Thema stieg im Laufe der letzten Legislaturperiode zum wichtigsten Issue der Kommission auf. Bereits 2016 legte die Kommission zwei größere Gesetzgebungspakete zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vor. Trotz intensiver Verhandlungen ist es ihr aber gerade bei ihren Flaggschiffprojekten in diesem Politikfeld – wie etwa der Reform des Dublin-Regimes – nicht gelungen, die Zustimmung vor allem des Rates zu erreichen.
Die mangelnden Fortschritte in all diesen hochpolitischen Bereichen sind natürlich nur zum Teil der Kommission anzulasten. Auch der Europäische Rat hat in seiner »Strategischen Agenda« für die Jahre 2014 bis 2019 die Themen Wettbewerbsfähigkeit und Reform der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) sowie der EU-Asyl- und Migrationspolitik zu Prioritäten erklärt. Die Gründe für die ausgebliebene Einigung liegen zu einem gewichtigen Teil außerhalb der Kontrolle der Kommission und sind in den zunehmenden Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten zu suchen. Auch in einer Serie von Gipfeltreffen konnten die Staats- und Regierungschefs gerade bei der Asyl- und Migrationspolitik und der Eurozonen-Reform nur bescheidene Fortschritte erzielen.
Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass bei diesen hochpolitischen Themen die Defizite der Kommission deutlich geworden sind. Erstens mangelt es ihr an einer eigenen machtpolitischen Basis. Nationale Regierungen können sich in parlamentarischen Systemen auf ihre Regierungsfraktion bzw. -koalition als legitimatorisches Fundament stützen. Trotz des Spitzenkandidatenprinzips kann die Kommission aber nicht auf einen konstanten Rückhalt im Europäischen Parlament bauen. Einen Koalitionsvertrag mit thematischen Zielen gab es nicht. Gleichzeitig hat die Annäherung der Kommission an das EP aber die Sorge der Mitgliedstaaten geschürt, die Kontrolle über dieses wichtige EU-Organ zu verlieren, eine Entwicklung, unter der auch das Vertrauen der nationalen Regierungen in die Kommission gelitten hat.
Zudem hat es die Kommission nicht vermocht, in den hochumstrittenen Bereichen zum ehrlichen Makler zwischen den Mitgliedstaaten im Rat sowie zwischen Rat und Parlament zu werden. Das Initiativrecht gibt der Kommission die Möglichkeit, in Gesetzgebungsprozessen der EU zu einem frühen Zeitpunkt die Debatte vorzubestimmen. Optimalerweise könnte dieses Recht dazu genutzt werden, um die EU-Integration durch sorgfältiges Sondieren und daran anknüpfende kompromissfähige Vorschläge zu prägen. Beim Brexit-Prozess ist dies der Kommission gelungen. Bei der Migrationspolitik und der WWU-Reform hingegen hat sie zunächst hohe Erwartungen geschürt und dann Ideen vorgelegt, die weit von der Konsensfähigkeit entfernt waren.
Das schwierige politische Umfeld der nächsten Kommission
Für die nächste EU-Kommission wird das politische Umfeld im Institutionengefüge der EU nicht einfacher. Da ist erstens die Wahl des Kommissionspräsidenten bzw. der ‑präsidentin selbst. Gemäß dem EU-Vertrag ist es das Europäische Parlament, das eine Person für dieses Amt wählt, allerdings auf Vorschlag der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat. 2014 hatte sich das EP noch mit seiner Sichtweise durchgesetzt, dass der Europäische Rat nur den Spitzenkandidaten vorschlagen darf, dessen Partei die Europawahl gewonnen hat – woraufhin Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten gewählt wurde. Dieses Prozedere hat ihm eine zusätzliche demokratische Legitimation verliehen. Auf Seiten der nationalen Regierungen hat es ihn aber auch Vertrauen gekostet. Schon im Vorfeld der Europawahlen 2019 haben die Staats- und Regierungschefs daher betont, dass es »keinen Automatismus« gebe und sie nicht notwendigerweise den oder die Spitzenkandidatin der nach der Wahl größten Fraktion vorschlagen würden. Kurz nach der Wahl hat die Mehrheit – aber nicht alle – der Fraktionen im EP bekräftigt, dass sie nur einen Spitzenkandidaten als Nominierung akzeptieren. Gleichzeitig konnten sich die drei großen Fraktionen, EVP, S&D und die neu formierte ALDE, nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten oder eine gemeinsame Kandidatin einigen. Die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat hingegen haben ihren Präsidenten Donald Tusk beauftragt zu sondieren, welche Persönlichkeit eine Mehrheit in beiden Institutionen, im Europäischen Rat und im EP, erreichen könnte. Das muss aus Sicht Tusks nicht zwangsläufig einer der Spitzenkandidaten sein. So droht schon zu Beginn der Amtszeit der neuen Kommission sowohl ein institutioneller als auch parteipolitischer Machtkampf, was die Autorität der neuen Kommission beschädigen könnte, noch bevor sie gewählt wurde.
Zweitens wird die politische Zusammensetzung des Kommissionskollegiums selbst heterogener sein. Grundsätzlich gilt weiterhin das Prinzip, dass jedes EU-Land ein Kommissionsmitglied nominieren darf. In der Folge wird die parteipolitische Zusammensetzung der Kommission nicht die des Europäischen Parlaments widerspiegeln, sondern die der parlamentarischen Mehrheiten, auf die sich die nationalen Regierungen in der EU zum Zeitpunkt der Berufung der Kommission stützen. Und dieses Tableau ist 2019 deutlich heterogener als es 2014 war: In der Juncker-Kommission stammten noch 27 von 28 Mitgliedern von den drei großen Parteifamilien EVP (Kommissionspräsident, 13 weitere Kommissionsmitglieder), europäische Sozialdemokraten (8 Mitglieder) und ALDE (5 Mitglieder). Mittlerweile haben vor allem die EVP und die SPE an Einfluss verloren, während auch Parteien außerhalb des europäischen Mainstreams in Regierungsverantwortung gelangt sind. Folgen alle nationalen Regierungen der Logik, dass sie für die Kommission eine Kandidatin oder einen Kandidaten aus der jeweils führenden Regierungspartei nominieren, wird sich die Zusammensetzung wie folgt ändern: Die EVP würde, je nach Einordnung der Fidesz, auf 6 bis 7 Mitglieder zurückfallen, die SPE bei 8 bleiben und die Liberalen mit 7 aufschließen. Hinzu kämen Kommissare und Kommissarinnen von den europäischen Linken (1), bisher unabhängigen Parteien (Litauen, Österreich), aber auch drei von den EU-skeptischen Regierungen aus Italien, Polen und Ungarn plus, je nach weiterem Verlauf des Brexit-Prozesses, ein Vertreter Großbritanniens. Zwar werden die Entscheidungen des Kommissionskollegiums mit einfacher Mehrheit gefällt, so dass einzelne Kommissionsmitglieder überstimmt werden können. Gleichwohl wird die Integration der Kommissare und Kommissarinnen insbesondere aus der letzten Gruppe eine der Hauptherausforderungen für die nächste Kommission sein.
Drittens spiegelt diese Fragmentierung im Inneren der Kommission nur die zunehmende Fragmentierung der politischen Institutionen der EU selbst wider. Diese Zersplitterung wird es für die Kommission, aber vor allem die EU als Ganzes schwieriger machen, Richtungsentscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Die Kommission kann Richtlinien und Verordnungen nur vorschlagen, verabschiedet werden müssen sie vom Rat und vom Parlament. Nachdem die Spannungen zwischen den nationalen Regierungen im Rat der EU in den letzten Jahren schon gestiegen sind, wird nach der Wahl vom Mai 2019 nun auch die Mehrheitsfindung im Europäischen Parlament komplexer. Die bisher dominanten Parteien, EVP und SPE, haben ihre gemeinsame absolute Mehrheit verloren. Für stabile Mehrheiten ist nunmehr jeweils die Zusammenarbeit von mindestens drei Fraktionen notwendig. Für die Wahl des bzw. der Kommissionspräsidentin deutet sich eine Kooperation zwischen EVP, S&D sowie der erweiterten ALDE und/oder den europäischen Grünen an. Bei Beschlüssen zu inhaltlichen Fragen, die das EP auch mit relativer Mehrheit treffen kann, sind aber wechselnde Mehrheiten möglich. So ist etwa bei Fragen des Verbraucherschutzes eine Majorität links der Mitte mit einer Zusammenarbeit von ALDE, S&D, Grünen und Europäischer Linke (GUE/NGL) denkbar und bei Migrationsthemen eine Kooperation der Parteien rechts der Mitte. Angesichts der Zuwächse für EU-skeptische Parteien, die zusammen nunmehr 186 Sitze einnehmen, werden die Abstimmungen im EP kontroverser werden – und damit unberechenbarer für Kommission und Rat.
Spitzenkandidaten umdefinieren, ein politisches Mandat einholen
Der Beginn der europäischen Legislaturperiode ist die Chance, die EU-Kommission personell, politisch und institutionell neu aufzustellen. Für die institutionelle Weiterentwicklung der Kommission ergeben sich nach den Erfahrungen der Juncker-Ära und nach der Analyse der neuen politischen Gemengelage nach den Europawahlen drei Schlussfolgerungen:
Erstens hat sich die stärkere institutionelle Fokussierung der Kommission mit ihrer Cluster-Struktur bewährt. Langfristig sollten die EU-Staaten die Möglichkeiten des EU-Vertrags nutzen und vom Prinzip »Ein Kommissionsmitglied pro Mitgliedstaat« Abstand nehmen. Bis das erfolgt ist, sollte aber auch die nächste Kommission wieder eine klare Hierarchie bekommen und in programmatische Cluster gegliedert werden. Diese organisatorische Lösung hat auch die Kohärenz der EU insgesamt erhöht und die Gesetzgebung der Union stringenter und zielgerichteter gemacht.
Die größere Herausforderung für die Kommission wird, zweitens, die Aufgabe sein, ihren Anspruch, als politische Institution aufzutreten, mit der Rolle des neutralen Schiedsrichters übereinzubringen, die ihr nach wie vor zugewiesen ist. Ohne Vertragsänderung wird sich dieser Widerspruch nicht vollständig auflösen lassen. Eine Kommission, deren Präsidentin bzw. Präsident vom Europäischen Parlament gewählt und die von einer Parlamentsmehrheit abhängig ist, die das Initiativmonopol hat und international im Auftrag der EU verhandelt, ist zwangsläufig ein politisches Organ, das ein starkes politisches Mandat braucht. Ein Weg zurück zu einer Behörde, die ihre Entscheidungen allein auf der Basis technischer Kriterien fällt, ist daher für die EU weder wünschenswert noch gangbar. Stattdessen sollte die nächste Kommission jene Aufgaben, bei denen sie neutral zu agieren hat, intern klar von der politischen Ebene abgrenzen oder, soweit dies vertragsrechtlich möglich ist, an unabhängige Instanzen ausgliedern. Beispielsweise könnte sie ihre Kompetenzen bei der Überwachung der Eurostaaten stärker an den unabhängigen ESM und ihre Befugnisse bei der Kontrolle der Rechtsstaatlichkeit an eine unabhängige EU-Agentur delegieren. Diese Instanzen könnten die Kontrollpflichten glaubwürdiger erfüllen, während sich die Kommission auf ihre politischen Aufgaben konzentrieren könnte.
Für ihre politische Rolle benötigt die Kommission drittens ein stärkeres Mandat und eine stabilere Verankerung im Rat und im Parlament. Zu diesem Zweck sollte die EU das Spitzenkandidatenprinzip umdeuten. 2014 hat sich das EP mit der Sichtweise durchgesetzt, dass der Kandidat der größten Fraktion Kommissionspräsident werden müsse. Im neuen Parlament, in dem die Kooperation von mindestens drei Fraktionen für eine Mehrheit erforderlich ist, kann aber keine Fraktion für sich allein beanspruchen, die Europawahlen gewonnen zu haben. Notwendig und sinnvoll ist daher eine Rückbesinnung auf den eigentlichen rechtlichen Kern des Prinzips: dass die Bürgerinnen und Bürger der EU mit ihrer Wahlentscheidung den Präsidenten bzw. die Präsidentin der Kommission mitbestimmen, so wie es in einer parlamentarischen Demokratie üblich ist. Das bedeutet, dass nur ein Kandidat oder eine Kandidatin, der bzw. die auch am Wahlkampf teilgenommen hat, an die Spitze der Kommission gewählt werden sollte. Dabei obliegt es nun dem Präsidenten des Europäischen Rates, mit den Parteien zu sondieren, wer hierfür eine Mehrheit im EP organisieren kann. Mit einem solchen Verfahren würde die EU einen echten Schritt in Richtung parlamentarische Demokratie machen.
Darauf aufbauend braucht die EU viertens gerade aufgrund der Fragmentierung im EP und der Blockade in zentralen inhaltlichen Fragen eine institutionenübergreifende Prioritätensetzung. Bei der Wahl Junckers zum Kommissionspräsidenten haben es die Parteien im EP noch verpasst, sich über inhaltliche Prioritäten abzustimmen. Eine handlungsfähige EU setzt aber eine Verständigung über eine programmatische Agenda voraus, die mit dem Personalpaket verbunden ist. Dies gilt auf der einen Seite für das EP selbst, in dem die Parteien, die an den Gesprächen über eine Mehrheitsfindung beteiligt sind, über begleitende politisch-inhaltliche Verhandlungen ein Paket schnüren könnten. Es gilt aber genauso für das Verhältnis zwischen den Institutionen. Als ob die Europawahlen für die Prioritätensetzung der EU irrelevant wären, haben die Staats- und Regierungschefs zwei Wochen vor den Wahlen auf ihrem informellen Treffen in Sibiu mit den Verhandlungen über ihre »Strategische Agenda« für 2019–24 begonnen. Dieser thematische Aufschlag der Mitgliedstaaten ist richtig und notwendig. Er sollte aber eben nur ein Aufschlag sein, um nach den Europawahlen mit dem neuen Europäischen Parlament und der neuen Kommission die thematische Agenda der EU für die nächsten fünf Jahre auszuhandeln. Ein auf diese Weise erarbeitetes gemeinsames Programm – eine Art europäischer Koalitionsvertrag – würde nicht nur dem komplexen Geflecht der Konsensdemokratie Europäische Union gerecht werden, sondern der neuen Kommission und den EU-Institutionen insgesamt ein belastbares politisches Mandat für die Weiterentwicklung der EU verschaffen.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2019A35