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Mario Draghi im Bundestag: Euroraum ist noch immer fragil

Die Maßnahmen der EZB zur Stabilisierung des Euroraums sind derzeit alternativlos, aber nicht für eine nachhaltige Beilegung der Eurokrise geeignet. Ohne kollektive Bemühungen der Eurostaaten geht es nicht, meint Paweł Tokarski.

Kurz gesagt, 28.09.2016 Research Areas

Die Maßnahmen der EZB zur Stabilisierung des Euroraums sind derzeit alternativlos, aber nicht für eine nachhaltige Beilegung der Eurokrise geeignet. Ohne kollektive Bemühungen der Eurostaaten geht es nicht, meint Paweł Tokarski.

Wenn der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) am heutigen Mittwoch bereits zum zweiten Mal zu Gast im Deutschen Bundestag ist, dann nicht, weil er dem deutschen Parlament Rechenschaft schuldig ist; die muss er lediglich vor dem Europäischen Parlament ablegen. Und doch erhofft er sich Unterstützung. So wird er bei den Abgeordneten um Verständnis für die starke Intervention der EZB in die Eurokrise werben, die angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl hierzulande zunehmend in die Kritik gerät. Zum anderen wird er deutlich machen, wie wesentlich Deutschlands Führung und eine langfristige Vision von der Wirtschafts- und Währungsunion sind, wenn es um die eigenen Maßnahmen der Euroländer zur dauerhaften Eindämmung der Krise geht.

Der Euroraum ist heute sehr viel stabiler, als beim letzten Besuch Mario Draghis im Oktober 2012. Diese Stabilität ist jedoch nicht auf eine rasche Erholung von der Krise zurückzuführen. Südeuropa ist nach wie vor mit großen wirtschaftlichen Herausforderungen und sozialer Unzufriedenheit konfrontiert. Die während der Krise von den Eurostaaten verabschiedeten Haushaltsregeln, die unter anderem stärkere Sanktionsmechanismen vorsehen, existieren vor allem auf dem Papier; die Verschärfung der Bankenkrise in Italien nach der Volksabstimmung in Großbritannien sowie die jüngsten Probleme der Deutschen Bank machen die Schwäche der Bankenunion offensichtlich.

Ohne die EZB hätte sich die Krise längst wieder zugespitzt

Es sind nicht die Krisenstrategien der Eurostaaten, die für Stabilität sorgen, sondern im Wesentlichen die derzeit alternativlosen Maßnahmen der EZB. Sie folgten auf Draghis Ankündigung im Juli 2012, die EZB werde alles Nötige tun, um die Stabilität der gemeinsamen Währung zu gewährleisten. Ohne die EZB hätte sich die Eurokrise wohl längst wieder zugespitzt und damit die Gefahr, dass die Währungsunion zerfällt. Seit März 2015 hat die Zentralbank ihre Geldpolitik beispiellos gelockert, vor allem durch massive Ankäufe von Staatsanleihen der Euroländer. Mit diesem Kurs stärkte sie das fragile Wachstum in den Krisenstaaten und gab damit den politischen Entscheidungsträgern im Euroraum Zeit, weitere Reformschritte einzuleiten. Zeit, die nicht effektiv genutzt wird, weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene.

In den Staaten Südeuropas sind zwar Strukturreformprozesse angestoßen worden, die aber regelmäßig wieder in Frage gestellt werden: In Portugal sind einzelne Reformen rückgängig gemacht worden, in Italien könnte der Reformkurs am Referendum scheitern, das am 4. Dezember abgehalten und im Falle eines Scheiterns Ministerpräsident Matteo Renzi schwächen oder zu Fall bringen könnte. Auf europäischer Ebene gelingt es wegen der gegensätzlichen wirtschaftlichen Interessen und dem Misstrauen zwischen Nord und Süd nicht, sich auf eine klare Linie bei der Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion zu einigen.

Es ist daher unrealistisch, dass die EZB, wie versprochen, den Schutzschirm der lockeren Geldpolitik im März 2017 aufheben wird, erst recht, weil dann ausgerechnet während der Wahlkämpfe in Deutschland und Frankreich mit einer Rückkehr der Krise gerechnet werden müsste. Die Zentralbank wird ihre lockere Geldpolitik jedoch nicht auf unbestimmte Zeit verfolgen und den Euroraum allein, ohne konkrete Schritte der Mitgliedstaaten, nachhaltig stabilisieren können.

Noch stehen jedoch andere Probleme im Fokus der Mitgliedstaaten als die Eurokrise: der Brexit, die Migrationskrise, die Instabilität in der EU-Nachbarschaft. Dies könnte sich im bevorstehenden Wahlkampf in Deutschland ändern, wenn es um die Nachteile der EZB-Maßnahmen für Deutschland geht: die erheblichen Kosten der expansiven Geldpolitik für die deutsche Wirtschaft, insbesondere den Banken- und Versicherungssektor, die sich auch in erhöhten Kontogebühren für Anleger niederschlagen. Auch dass die lockere Geldpolitik den südlichen Ländern den Anreiz nimmt, Reformen voranzutreiben, könnte der EZB zum Vorwurf gemacht werden.

Muss Deutschland sich zwischen eigenem Wirtschaftsmodell und Währungsunion entscheiden?

All dies könnten gute Argumente für Deutschland sein, selbst in die Verantwortung zu gehen. Als stärkste Wirtschaftskraft und größte politische Macht im Euroraum sollte das Land eine führende Rolle übernehmen, wenn es, spätestens nach den Wahlen 2017, um die Klärung schwieriger Fragen geht: Welche neuen Transfermechanismen für die neunzehn Eurostaaten sind sinnvoll und wie kann ein gemeinsamer Haushalt für den Euroraum geschaffen werden? Wie können Risiken im Bankensektor reduziert werden? Wie können Haushaltsregeln effektiv durchgesetzt werden? Wie und zu welchem Ausmaß können griechische Schulden reduziert werden? Sollten die Reformen in Südeuropa nicht vorankommen und der Euroraum unvollendet bleiben, könnte es eines Tages für Deutschland darauf hinauslaufen, sich zwischen der Beibehaltung des eigenen Wirtschaftsmodells, insbesondere der Sparkultur, und der Währungsunion entscheiden zu müssen.

Wahrscheinlich unterscheiden sich die Ansichten der Bundestagsabgeordneten und die des EZB-Präsidenten über die Krise im Euroraum in vielen Aspekten. Gemein haben sie jedoch das Ziel einer langfristigen Stabilisierung des Euroraums. Dies ist ein guter Ausgangspunkt, um nach zuverlässigen, politisch akzeptablen Lösungen zu suchen, die über die bloße Kritik an der EZB-Geldpolitik hinausgehen.

Der Text ist auch bei Handelsblatt.com und EurActiv.de erschienen.