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Indisch-chinesische Konfrontation im Himalaya

Eine Belastungsprobe für Indiens strategische Autonomie

SWP-Aktuell 2020/A 63, 15.07.2020, 4 Pages

doi:10.18449/2020A63

Research Areas

Die seit Anfang Mai andauernde Konfrontation zwischen indischen und chinesischen Truppen im Himalaya hat sich zur schwersten Krise in den Beziehungen beider Staa­ten seit 45 Jahren zugespitzt. Am 15. Juni wurden erstmals seit 1975 bei einem Zwi­schenfall 20 indische und eine unbekannte Zahl chinesischer Soldaten getötet. Die gegenwärtige Krise hat im Unterschied zu früheren weiter reichende territoriale und politische Dimensionen. Sie erschüttert das bisherige Grenzregime und belastet das mühsam aufgebaute Vertrauensverhältnis zwischen Premierminister Modi und Prä­sident Xi. Die Konfrontation ist aber auch eine Belastungsprobe für Indiens strate­gische Autonomie. Dieser Grundpfeiler der indischen Außenpolitik beinhaltet auch den Anspruch auf eine eigenständige Rolle in den geostrategischen Auseinander­setzungen zwischen China und den USA im Indo-Pazifik.

Der ungeklärte Grenzverlauf im Himalaja belastet seit Jahrzehnten das chinesisch-indische Verhältnis. Indien erlitt im Grenz­krieg mit China 1962 eine militärische Nie­derlage, die bis heute in vielen politischen Diskussionen nachwirkt. Im Zuge ihrer politischen Annäherung ab Ende der 1980er Jahre wurde 1993 die aktuelle Kon­trolllinie (Line of Actual Control, LAC) eta­bliert. Sie ist aber nicht klar festgelegt, an bis zu 18 Stellen gibt es konkurrierende Gebietsansprüche.

Die jetzige Konfrontation im westlichen Sektor der Region Ladakh, die zu Kaschmir gehört, unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von früheren. Erstens gibt es dieses Mal nicht nur an einer, sondern an fünf Stellen Gebietsverletzungen. Zweitens sind daran offenkundig deutlich mehr chi­nesische Truppen beteiligt als bei früheren Zwischenfällen. Drittens beansprucht China nun Gebiete wie das Galwan-Tal, die bisher nicht umstritten waren. Ursache für die ge­genwärtige Konfrontation ist eine Gemenge­lage aus regionalen Faktoren, wie dem Kaschmirkonflikt und wachsenden geostra­tegischen Spannungen zwischen China, den USA und Indien im Indo-Pazifik.

Kaschmir und die Folgen

Viele indische Experten sehen in der Ent­scheidung der Modi-Regierung vom August 2019, den Bundesstaat Jammu und Kasch­mir aufzulösen, einen Auslöser für die gegenwärtige Krise. Im Zuge der Reorgani­sation Kaschmirs wurden zwei neue Unions­territorien geschaffen – darunter Ladakh –, die von Neu-Delhi aus verwaltet werden. Neben Pakistan hatte damals auch China gegen diese Entscheidung protestiert und eine informelle Sitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zur indischen Ent­scheidung durchgesetzt. China sieht seine Interessen in der zu Kaschmir gehörenden Aksai-Chin-Region bedroht (siehe Karte). Die Volksrepublik hält diese Region, durch die eine wichtige Zugangsstraße nach Tibet verläuft, seit dem Grenzkrieg von 1962 besetzt.

Karte

Indien hat seit August 2019 seine mili­tärische Infrastruktur in Ladakh weiter aus­gebaut und zugleich seinen traditionellen Anspruch auf ganz Kaschmir bekräftigt. Durch den pakistanischen Teil Kaschmirs verläuft auch der »China Pakistan Economic«-Korridor (CPEC), das größte Einzel­projekt der chinesischen Seidenstraßen­initiative. Die chinesischen Gebietsübertretungen können somit als Reaktion auf die indische Politik in Kaschmir in den letzten Monaten gesehen werden.

Die bisherigen chinesischen Gebiets­gewinne sind für Indien ein gravierendes strategisches Problem. Eine chinesische Kon­trolle des Galwan-Tals bedroht die wichtig­ste indische Versorgungsstraße, die entlang der LAC und dem Shyok-Fluss von Darbuk nach Daulat Beg Oldie im Norden Ladakhs führt (siehe Karte). Dort unterhält Indien nahe des Karakorum-Passes zu China in ca. 5 000 Meter Höhe einen Flugplatz, der für die Versorgung indischer Truppen auf dem Siachen-Gletscher von größter Be­deu­tung ist. Der Gletscher ist der höchst­gele­gene Kriegsschauplatz der Welt, auf dem sich indische und pakistanische Trup­pen seit Mitte der 1980er Jahre gegenüberstehen.

Indien, China und die USA im Indo-Pazifik

Die gegenwärtige Konfrontation steht auch im Zusammenhang mit den geopolitischen Rivalitäten zwischen China sowie Indien und den USA im Indo-Pazifik. Indien wei­gert sich, der chinesischen Seidenstraßen­initiative beizutreten, mit der die Regierung in Beijing ihren Einfluss in Indiens Nach­barschaft in Südasien und im Indischen Ozean in den letzten Jahren massiv aus­geweitet hat. Dies gilt nicht nur für Pakis­tan, das ein strategischer Partner Chinas ist, und für Länder wie Sri Lanka, Nepal und Bangladesch, sondern auch für die Insel­staaten im Indischen Ozean.

Seit 2017 hat Indien zusammen mit Australien, Japan und den USA die 2007 entstandene Quadrilaterale Gruppe (Quad) wiederbelebt. Seitdem haben die vier Staa­ten ihre politische, wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit ausgebaut, um den geopolitischen Ambitionen Chinas und seiner Seidenstraßeninitiative ent­gegenzutreten.

Trotz der Annäherung an die USA und der zunehmenden Spannungen mit China betont Indien weiterhin seine strategische Autonomie. Diese beinhaltet auch den Anspruch auf eine eigenständige Rolle im Kontext der geopolitischen Spannungen zwischen China und den USA im Indo-Pazifik. So haben Indien und China in den letzten Jahren auch immer wieder koope­riert, zum Beispiel in der Shanghaier Orga­nisation für Zusammenarbeit. Innerhalb der Quad hat sich Indien für ein inklusives Ver­ständnis des Indo-Pazifiks ausgesprochen, das im Unterschied zu den Vorstellungen der USA bislang immer die Einbeziehung Chinas beinhaltete.

In China gibt es neben dem Unmut über die indische Entscheidung zu Kaschmir auch wachsende Kritik an der Annäherung In­diens an die USA und ihre engere militä­rische Zusammenarbeit. Die jüngsten An­sprüche auf Gebiete entlang der LAC werden teilweise auch als »Revanche« für die Dok­lam-Krise 2017 gesehen. China hatte damals auf einem Gebiet Infrastrukturprojekte vor­angetrieben, das auch Bhutan beanspruchte; Indien hatte diese Projekte durch seine Intervention unterbunden. Aus dieser Per­spektive sind die gegenwärtigen Vorfälle an der LAC eine Art »Strafaktion«, mit der die chinesische Führung ihre Unzufriedenheit über Indiens Verhalten signalisiert.

Herausforderungen für Indiens Chinapolitik

Die Erklärung von Premierminister Modi am 19. Juni, dass es keinerlei Verletzung indischen Territoriums gegeben habe, un­ter­strich den Wunsch, die bisherige China­politik ungeachtet der Schwere der gegen­wärtigen Krise fortzusetzen. Allerdings steht die indische Chinapolitik jetzt vor deut­lich größeren Herausforderungen.

Erstens ist das seit den 1990er Jahren eta­blierte Grenzregime in Frage gestellt. Nach ihrer Annäherung Ende der 1980er Jahre haben Indien und China fünf Abkom­men unterzeichnet und eine Reihe von vertrauensbildenden Maßnahmen mit Blick auf die LAC etabliert, zum Beispiel das Ver­bot, bei Zwischenfällen Schusswaffen ein­zusetzen. Seit 1989 unterhalten beide Staa­ten eine gemeinsame Arbeitsgruppe, die den Grenz­verlauf klären soll. Beide Seiten ernannten zudem Sonderbeauftragte für die Grenz­frage, die sich bis 2019 insgesamt 22 Mal trafen.

Zweitens ist die gegenwärtige Krise ein Rückschlag auch für Premierminister Modi. Mit keinem anderen Staats- und Regierungs­chef als mit Präsident Xi hatte er nach der Doklam-Krise von 2017 so enge persönliche Beziehungen aufgebaut. Mit informellen Gipfeltreffen in Wuhan 2018 und Maha­balipuram 2019 suchten sie die strategi­schen Differenzen ihrer Staaten zu über­winden. Mögliche Gebietsverluste wären auch für Modis nationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) eine Belastungsprobe, steht sie doch wie kaum eine andere Partei für die territoriale Einheit des Landes.

Drittens zeigt die Krise erneut, dass In­dien wenig Optionen hat, Druck auf China auszuüben. Die Volksrepublik ist seit Jah­ren der wichtigste Handelspartner, mit dem Indien sein größtes Handelsdefizit hat. China war 2019 drittgrößter Markt für indische Exporte. Chinesische Technologiefirmen haben in den letzten Jahren ver­stärkt in indische Start-up-Unternehmen investiert. Im November 2019 zog sich die indische Regierung in letzter Minute aus dem Abkommen zur Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) zurück, das das Handelsdefizit mit China noch ver­größert hätte.

Bereits vor der Krise hatte die indische Regierung die Bedingungen für ausländische Investoren verschärft, was sich vor allem gegen chinesische Firmen richtete. Nationalistische Gruppen aus dem Umfeld der BJP riefen zum Boykott chinesischer Waren auf. Diese fühlen sich ermutigt durch Premierminister Modis neues wirt­schaftspolitisches Credo der Eigenständigkeit (Self-Reliance). Ziel ist es dabei, die Ein­fuhren zu reduzieren und die inländische Produktion zu beleben. Als Reaktion auf die Spannungen wurde unter anderem die Ab­fertigung chinesischer Importe nach Indien verzögert. Indische Staatsunternehmen wie­derum stornierten Aufträge an chinesische Firmen. Indische Firmen wiesen allerdings auf die große Abhängigkeit von chinesischen Importen hin, die nicht ohne höhere Kosten kompensiert werden könne. Ange­sichts der Struktur der Handelsbeziehungen könnten sich Indiens Beschränkungen chi­nesischer Firmen sogar als kontraproduktiv erweisen. Des Weiteren verbot die indische Regierung Ende Juni chinesische Apps, und Premierminister Modi löschte seine offi­zielle Seite auf der chinesischen Plattform Weibo.

Ausblick

Trotz der sich abzeichnenden Entspannung entlang der LAC verstärken beide Seiten ihre militärische Präsenz in der Region. Weitere Eskalationen drohen nicht nur durch Zwi­schenfälle wie im Galwan-Tal, sondern auch durch Gebietsverletzungen an anderen Stel­len der mehr als 3 400 Kilometer langen Grenze. Zudem bahnt sich ein neuer Disput zwischen China und Bhutan an, was 2017 zur Doklam-Krise mit Indien geführt hatte. Noch größeres Eskalationspotential hätte die Einbeziehung Pakistans in den Konflikt.

Die große Herausforderung besteht für Indien und China darin, eine Lösung zu fin­den, die mit ihren taktischen und strate­gischen Interessen in Einklang steht. Indien ist an einer Herstellung des Status quo ante und einem stabilen Grenzregime interessiert, ohne dass Teile der LAC nach Westen verschoben werden. Dies würde Modi eine Fortführung seiner bisherigen China-Politik erlauben. Die Alternative wäre eine stär­kere Hinwendung zu den USA, wie sie von vielen Sicherheitsexperten gefordert wird. Dies würde allerdings einen Grundpfeiler der indischen Außenpolitik untergraben: das Konzept der strategischen Autonomie. Denn es wäre auch das Ein­geständnis, dass Indien allein nicht in der Lage ist, der Bedro­hung durch China zu begegnen. Für eine nationalistische Partei wie die BJP, die sich die wirtschaftliche und außenpolitische Eigenständigkeit sowie den Anspruch auf die Fahne schreibt, mit China auf Au­genhöhe zu agieren, wäre dies eine emp­find­liche Niederlage mit vermutlich weit­reichenden innen- und außenpolitischen Folgen. China wiederum möchte nicht, dass seine Erfolge an der LAC jene Hinwendung Indiens an die USA fördern, die es bislang stets zu verhindern suchte. Dies könnte auch eine Militarisierung der Quad in Gang setzen, die Indien bislang immer abgelehnt hatte. Beijing hätte dann seine taktischen Gewinne im Himalaya teuer erkauft: mit einem strategischen Rückschlag im Kontext der geopolitischen Auseinandersetzung mit den USA und der Quad im Indo-Pazifik.

Angesichts seiner wirtschaftlichen und militärischen Unterlegenheit gegenüber China wird Indien als Folge der Krise seine Rüstungszusammenarbeit auch mit euro­päischen Partnern massiv ausbauen. Nach der seit Jahren engen militärischen Koope­ration mit Frankreich wird Neu-Delhi dieses Ansinnen auch verstärkt an die deutsche Politik herantragen.

Dr. habil. Christian Wagner ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Asien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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