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Grenzkontrollen als politisches Signal – und das Dilemma ihrer Einlösung

Kurz gesagt, 19.05.2025 Research Areas

Mit sichtbarer Härte will die Bundesregierung Handlungsfähigkeit zeigen. Doch ohne klaren Plan drohen juristische Klippen und politische Isolation. Nötig sind ein abgestimmter EU-Kurs und das Vertrauen in gemeinsame Asylregeln, meinen Raphael Bossong und Jonas Bornemann.

Seit die Bundesregierung Binnengrenzkontrollen ausgeweitet und die Zurückweisung von Schutzsuchenden angeordnet hat, wird in Deutschland intensiv über die Legitimität, Wirksamkeit und rechtlichen Grundlagen dieser Maßnahmen diskutiert. Eine zentrale Frage bleibt jedoch bislang unbeantwortet: Welche politische Strategie verfolgt Berlin – und wie realistisch ist deren Umsetzung im europäischen Kontext?

Die Maßnahmen sind zweifellos Ausdruck eines veränderten politischen Anspruchs: sichtbare Steuerung, neue Härte und ein Bruch mit der als zu zögerlich empfundenen Migrationspolitik früherer Jahre. Häufig wird dies mit dem Ziel begründet, andere EU-Mitgliedstaaten zu größerer Verantwortung an den Außengrenzen zu bewegen. Doch diese Annahme ist fragwürdig, da viele Staaten bereits restriktiv handeln und andere strukturell überlastet sind. Die Annahme eines »Domino-Effekts«, wonach nationale Kontrollen zu einer europäischen Verhaltensänderung führen, ist daher mindestens zweifelhaft.

Auch auf juristischer Ebene zeigt sich ein ambivalentes Bild. Bereits die Binnengrenzkontrollen vor den jüngsten Maßnahmen stehen im Widerspruch zum geltenden Schengen-Recht, wie eine wachsende Zahl von Gerichtsurteilen belegt – zuletzt vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof. Auf diesen bestenfalls wackeligen Grundlagen erfolgen nun die erweiterten Zurückweisungen. Die herrschende Meinung geht davon aus, dass eine Prüfung, welcher Staat für einen Asylantrag zuständig ist, zwingend erfolgen muss und nicht auf EU-Nachbarstaaten abgewälzt werden kann. Abweichende Meinungen existieren seit Jahren, konnten sich aber aus guten Gründen nicht durchsetzen. Die Tatsache, dass sich die Bundesregierung trotz aller öffentlichen Uneindeutigkeit auf Artikel 72 AEUV – einen Notanker zur Rechtfertigung von Maßnahmen zum Schutz der inneren Sicherheit – zu stützen scheint, zeigt, dass sie wohl davon ausgeht, dass eine Abweichung vom geltenden EU-Asylrecht notwendig ist.

Die Debatte darf aber nicht primär auf der juristischen Ebene verharren. Die Bundesregierung hat sich politisch in eine anspruchsvolle Lage gebracht: Die Maßnahmen sind zu sichtbar, um sie kurzfristig zurückzunehmen, ohne die eigene Position zu schwächen. Und sie sind zu umstritten und kostenintensiv, um sie ohne strategische Perspektive dauerhaft aufrechtzuerhalten. Ein reines Abwarten auf eine mögliche EuGH-Entscheidung in ein bis zwei Jahren erscheint deshalb unzureichend.

Zwischen Recht und Renationalisierung

Gefragt ist zumindest eine klare Etappenlogik: Unter welchen Bedingungen sollen die Binnengrenzkontrollen wieder aufgehoben werden? Welche Fortschritte auf europäischer Ebene – etwa bei Rückübernahmen im bestehenden Dublin-System oder bei der Umsetzung des Asyl- und Migrationspakts – sollten hierfür konkret als Anlass dienen? Die derzeitige Strategie bleibt bewusst offen. Das schafft Flexibilität, aber auch Unsicherheiten – im Inland wie im europäischen Dialog.

Mit dem neuen EU-Migrationspakt, der ab 2026 in Kraft treten soll, werden erstmals Überlastungssituationen vergleichbar gemacht und Solidaritätsmechanismen eingeführt. Auch wenn dieser Pakt weiterentwickelt oder durch Maßnahmen in Drittstaaten ergänzt werden soll, bleibt seine Umsetzung in der jetzigen Form eine notwendige Etappe – gerade im Interesse Deutschlands. 

Auch im EU-Kontext ist der Rückgriff auf Artikel 72 AEUV ein Balanceakt. Während Deutschland ihn zur Legitimierung aktueller Maßnahmen bemüht, haben ihn auch andere Staaten wie Österreich und Polen zuletzt für eigene Zwecke beansprucht. In Frankreich ist ein entsprechender Diskurs nicht auszuschließen. Es geht also tatsächlich um das Risiko einer weitreichenden Renationalisierung in der EU-Asylpolitik. Das wäre der eigentliche Dominoeffekt. 

Gerade deshalb kommt Deutschland eine besondere Rolle zu. Die Herausforderung besteht darin, Veränderungen zu gestalten, ohne das Vertrauen in gemeinsame Regeln zu erschüttern. Der Rückgriff auf Artikel 72 sollte so eng und kurz wie möglich gehalten werden und explizit nicht mit Debatten in anderen EU-Staaten legitimiert werden. Stattdessen sollte die Bundesregierung einen klaren Plan für den Ausstieg aus den aktuellen Maßnahmen skizzieren, der an messbare europäische Fortschritte gekoppelt ist – etwa im Kontext des anstehenden Pakts für Migration und Asyl. Maßnahmen in Drittstaaten sollten davon getrennt behandelt werden.  

Die kommenden Wochen bieten die Chance, Deutschlands Rolle in Europa neu zu justieren – als Partner, der eigene Interessen selbstbewusst vertritt, ohne die die gemeinsame Grundlage der europäischen Migrationspolitik zu untergraben.

Dr. Raphael Bossong ist Stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Jonas Bornemann ist Assistant Professor für Europarecht an der Rijksuniversiteit Groningen.