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Frankreichs Afrikapolitik unter Präsident Macron

Zwischen Reformen, Public Diplomacy und unfreiwilliger politischer Zäsur

SWP-Aktuell 2022/A 62, 06.10.2022, 6 Pages

doi:10.18449/2022A62

Research Areas

Emmanuel Macron hat während seiner ersten Amtszeit (2017–2022) versucht, sich von altbekannten, weithin kritisierten Mustern französischer Afrikapolitik abzusetzen. Er diversifizierte die Beziehungen zu Afrika in regionaler und inhaltlicher Hinsicht, inte­grierte nicht-staatliche Akteure und pflegte einen vergleichsweise offenen Um­gang mit Frankreichs problematischer Vergangenheit auf dem Kontinent. Das Narra­tiv des Wandels, das Paris vor allem über Kanäle der Public Diplomacy verbreitet hat, wurde jedoch von Pfadabhängigkeiten überlagert, sichtbar vor allem an der Fort­setzung des gescheiterten militärischen Engagements im Sahel und an einem politisch inkohärenten Auftreten gegenüber autoritären Regierungen. Ein Resultat war der un­freiwillige militärische Abzug aus Mali im August 2022, der eine historische Zäsur in den fran­zösisch-afrikanischen Beziehungen darstellt.

Präsident Macron hat das Reputations­problem der französischen Afrikapolitik zweifellos erkannt. Dreh- und Angelpunkt seiner Politik war und ist daher der Versuch, ein neues Narrativ zu entwickeln, das den politischen Willen zu Veränderungen im Verhalten gegenüber den ehemaligen Kolo­nien demonstriert. Einen hohen Stellenwert nimmt dabei Public Diplomacy ein. Haupt­adressat der Macron’schen Erzählung von Wandel und Erneuerung sind afrikanische Öffentlichkeiten und gesellschaftliche Akteure, die in den Augen des Präsidenten für Afrikas positive Dynamiken stehen: Unternehmer, Jugendliche, Kunstschaf­fende, aber auch Angehörige der Diaspora. Macron will diese Akteure als Brückenbauer nutzen, um neue Partnerschaften zu etablie­ren und die Talsohle des Ansehens der fran­zösischen Soft Power in Afrika hinter sich zu lassen. Sinnbildlich für diesen Ansatz war das neue Format des traditionellen Afrika-Frankreich-Gipfels, der im Oktober letzten Jahres in Montpellier stattfand. Ent­gegen früheren Gepflogenheiten waren zu diesem Event keine afrikanischen Staats­gäste, sondern ausschließlich nicht-staat­liche Akteure eingeladen. Fraglich bleibt allerdings, in welchem Maße dieser Kreis von Unternehmern, Künstlern und Wissen­schaftlern breitere gesellschaftliche Schich­ten und Strömungen repräsentiert bzw. politischen Einfluss auszuüben vermag. Neben Public-Diplomacy-Aktivitäten hat Macron aber auch einige politische und inhaltliche Pflöcke eingeschlagen.

Wirtschafts- und Finanzpolitik

Ein Reformimpuls von potentiell bedeutender Wirkung war die angekündigte Abschaf­fung des westafrikanischen Franc CFA. Des­sen Bedeutung liegt vor allem im politischen Raum. Die Währung wird in Afrika in erster Linie als ein koloniales Relikt und ständige Erinnerung daran betrachtet, dass die CFA-Staaten knapp 60 Jahre nach Erlan­gung der Unabhängigkeit noch immer über keine währungspolitische Souveränität ver­fügen. Dies macht den Franc CFA zu einem weithin sichtbaren Symbol fortgesetz­ter postkolonialer Einflussnahme und Bevor­mundung durch Frankreich. In den vergan­genen Jahren ist die Währung zu einem Fixpunkt von Ressentiments und sozialen Protesten geworden. Macron verbindet die Reform daher vor allem mit dem Ziel, die immer virulentere Frankreich-Kritik in der Region an diesem Punkt zu entschärfen.

Frankreich und acht Staaten der west­afrikanischen Wirtschafts- und Währungs­gemeinschaft (Union économique et moné­taire ouest-africaine, UEMOA) einigten sich Ende 2019 in einem ersten Schritt auf eine Reorganisation des Währungssystems des Franc CFA, der langfristig durch eine ge­mein­same westafrikanische Währung (Eco) ersetzt werden soll. Diese würde dann in der gesamten ECOWAS (Economic Community of West African States) gelten, also auch in den anglophonen Staaten. Als erster Schritt wurde die westafrikanische Zentral­bank (BCEAO) von der Pflicht entbunden, 50 Prozent ihrer Währungsreserven bei der französischen Notenbank zu hinterlegen. Zudem ist Frankreich nicht länger in den Aufsichtsgremien der UEMOA vertreten. Allerdings wird die Währung unverändert an den Euro gekoppelt sein und Frankreich garantiert weiterhin einen festen Wechselkurs. Wann es letztlich zur Einführung des Eco kommt, hängt unter anderem davon ab, ob und wann die Staaten der Region die vereinbarten Konvergenzkriterien erfüllen.

Einen weiteren Impuls setzte Macron mit dem »Financing African Economies«-Gipfel in Paris (18.5.2021), bei dem sich Frankreich als Fürsprecher afrikanischer Länder pro­filierte. Um die Folgen der Covid-Pandemie abzufedern, wurden Mittel aus Sonder­ziehungsrechten des Internationalen Wäh­rungsfonds in Höhe von 33 Milliarden Euro mobilisiert. Sudan erhielt Zusagen für einen weitreichenden Schuldenerlass. Von dem Gipfel ging damit einmal mehr das Signal aus, dass Frankreichs Afrikapolitik über die ehemaligen Kolonien hinausreiche. Das sollten auch Macrons Staatsbesuche außer­halb der Frankophonie (u. a. in Ghana, Nigeria, Südafrika, Äthiopien, Kenia) be­legen. Mit ihnen bestätigte und verstärkte Macron einen Trend der Pariser Außenpolitik. Denn bei aller Aufmerksamkeit für die Länder des ehemaligen Pré-carré haben sich Frankreichs wirtschaftspolitische Interessen im Laufe der letzten Dekade weiter diversi­fiziert und dabei insbesondere in Richtung wachstumsstarker, dynamischer Länder verschoben. Von den Exporten Frankreichs nach Sub-Sahara Afrika geht mittlerweile nur noch ein Drittel in die UEMOA-Staaten. Bei den Importen liegt der Anteil der UEMOA bei nur 14 Prozent (2021).

Entwicklungspolitische Reformen

Die Regierung unter Präsident Macron hat eine Modernisierung ihrer entwicklungs­politischen Zusammenarbeit (EZ) initiiert. Unter anderem sollen die Mittel in diesem Politikfeld erhöht und effektiver verwendet werden. Nach knapp einem Jahrzehnt sta­gnierender oder rückläufiger EZ-Ausgaben sieht die mehrjährige entwicklungspoliti­sche Finanzplanung vom August 2021 eine schrittweise Anhebung der EZ auf zunächst 0,55 Prozent (des BIP) und bis 2025 auf 0,7 Prozent vor. Die Regierung plant zudem eine veränderte Prioritäten­setzung. Nach­dem über Jahre hinweg der EZ-Anteil der aufstrebenden Ökonomien gestie­gen war, sollen nunmehr die am wenigsten ent­wickel­ten Staaten priorisiert werden. Die Quote der Zuschüsse an der bilateralen EZ soll bis 2025 auf 70 Prozent erhöht werden. Hauptempfänger soll ein Kreis von Schwer­punktländern bzw. Ländern mit niedri­gem Einkommen sein. Unter den 19 Fokus­ländern sind 18 afrikanische Staaten. Damit betreibt Frankreich eine deutlich striktere Konzentration seiner EZ-Ausgabenpolitik als Deutschland, das mit 32 Schwerpunktländern und sieben Reformpartnern koope­riert. Insgesamt sechs der französischen Fokusländer sind auch Partner der deut­schen EZ (Äthiopien, Benin, Burkina Faso, Mauretanien, Senegal und Togo).

Paris strebt zudem eine stärkere politische Steuerung der EZ auf strategischer Ebene an. Ein interministerieller »Nationa­ler Rat für Entwicklung und internationale Solidarität« (CNDSI) soll die großen Linien vorgeben. In den Partnerländern sollen die Botschafter diese Rolle übernehmen. Mit diesen Zentralisierungsmaßnahmen geht eine Anhebung des bilateralen EZ-Anteils von 57 Pro­zent (2015) auf durchschnittlich 65 Prozent (Deutschland: 80 Prozent) ein­her. Zum 1. Januar 2022 wurde zudem die Agentur für tech­nische Zusammenarbeit (Expertise France) in die Agence française de développement (AFD) integriert, um Kompetenzen bei der Umsetzung von EZ-Vorhaben zu bündeln und mehr Kohärenz herzustellen.

Insgesamt weisen die Veränderungen in die richtige Richtung. Frankreichs EZ steht im Ruf politischer Beliebigkeit und einer mangelnden Orientierung an Wirksamkeit. Während des letzten Jahrzehnts war die Diskrepanz zwischen den deklarierten poli­tischen Prioritäten und der Allokation von EZ gewachsen. So war der ODA-Anteil Afrikas von 52 Prozent (2010) auf 41 Pro­zent (2016) zurückgegangen. Sub-Sahara-Afrika erhielt 2016 lediglich 29 Prozent der fran­zösischen ODA. Davon gingen wiederum nur 10 Prozent an die fünf Staaten des Sahel, obwohl die Region 2013 zu einer außenpolitischen Priorität der französischen Regierung erklärt worden war.

Neue Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik

Neben der Reform der Währung Franc CFA hat Macron mit der Erinnerungs- und Ver­gangenheitspolitik ein weiteres symbolträchtiges Feld betreten. Er hat Geschichtspolitik zu einem wichtigen Instrument gemacht, um die Beziehungen zu afrika­nischen Ländern neu zu gestalten.

Zwei Themen stehen dabei im Vordergrund. Erstens brachte Macron die Debatte über die Restitution afrikanischer Kultur­güter voran. Ein von ihm beauftragtes Gut­achten der Wissenschaftler Felwine Sarr und Bénédicte Savoy empfahl eine um­fas­sende Rückgabe afrikanischen Kulturguts und hat der Diskussion politisch und gesell­schaftlich beträchtlichen Vorschub geleis­tet, auch wenn die praktische Umsetzung der Vorschläge nur langsam vonstattengeht. Ein nicht unwesentlicher Effekt der Initia­tive war ihre Strahlkraft über Frank­reich hinaus. Sie wirkte als Katalysator für nach­holende Debatten in anderen europäischen Ländern, nicht zuletzt in Deutschland.

Eine zweite Stoßrichtung von Macrons Vergangenheitspolitik waren Initiativen zur Aufarbeitung des französischen Kolonialis­mus in Algerien sowie der Rolle Frankreichs beim Genozid in Ruanda. Auch hier ließ Macron wissenschaftliche Gutachten erstel­len (Stora-Bericht; Duclert-Kommission), um eine quasi-offizielle Bewertung und Ein­ordnung französischer Verantwortlich­keiten und Verbrechen zu erhalten. Damit knüpf­te Macron an Aussagen aus seinem Präsi­dentschaftswahlkampf 2017 an, in denen er die Kolonialisierung Algeriens als Ver­brechen gegen die Menschlichkeit be­zeichnet hatte.

Indes wird die Vergangenheitspolitik Macron’scher Prägung nicht nur von nor­mativ-moralischen Erwägungen gelenkt. Der Präsident verfolgt damit auch das Ziel, die Beziehungen zu Algerien und Ruanda und damit zu zwei einflussreichen afrika­nischen Staaten auf eine neue Grundlage zu stellen und Frankreichs ramponierte Reputation auf dem Kontinent insgesamt aufzubessern.

Sein Ansatz, die Vergangenheit zu the­matisieren, um den Blick nach vorne zu richten, dürfte der politischen und gesell­schaftlichen Bedeutung und Sensibilität der Problematik allerdings kaum gerecht wer­den. Ein Beispiel für das unausgereifte Agie­ren Macrons ist der von ihm oft thematisierte Generationenwechsel in Afrika, den der Präsident zum Anlass für seine Appelle an die junge Bevölkerung des Kontinents nimmt, sich nicht von der kolonialen Ver­gangenheit als Referenzrahmen französisch-afrikanischer Beziehungen »blockieren« zu lassen (»Darstellungen von gestern«). Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungspolitik lassen sich aber nicht dekre­tieren – schon gar nicht von Seiten der ehemaligen Kolonialmacht. Macron unter­schätzt die anhaltende Wirkungsmacht des kolonialen Erbes und kolonialkritischer Diskurse in afrikanischen Gesellschaften. Damit läuft er Gefahr, die Glaubwürdigkeit seiner Initiativen zu unterminieren, die leicht als Element strategischer Kommu­nikation abgetan werden können.

Kontinuität im Sahel und der Wendepunkt Mali

Die aus deutscher Sicht wohl wichtigsten Entwicklungen der französischen Afrika­politik betrafen den Sahel. Hier trat Macron nicht als Reformer, sondern lediglich als Sachwalter einer geerbten und letztlich gescheiterten Militärintervention auf, die den größten Auslandseinsatz seit dem Algerien-Krieg darstellte. Aus west­afrika­nischer Perspektive setzte er schlicht die traditionelle französische Interventions­politik in den ehemaligen Kolonien fort und untergrub damit die Erzählung vom afrika­politischen Wandel. Macrons be­rühmt gewordenes Diktum »Es gibt keine französische Afrikapolitik mehr!«, das er ausgerechnet in Burkina Faso (Ouaga­dougou, 28.11.2017) prägte und als Nachruf auf die skandalträchtige, mit dem Begriff Françafrique verknüpfte Politik seiner Vorgänger verstanden wissen wollte, ver­fehlte nicht nur seine Wirkung. Im Gegen­teil schien seine Behauptung absurd zu sein angesichts von 4.500 französischen Trup­pen, die im selben Moment im Sahel statio­niert waren. Schlimmer noch: Macrons denkwürdige Aussage wurde in der Region als weiterer Beleg für die Doppelbödigkeit der französischen Politik aufgefasst, die ständig Wandel behauptete, ohne ihn je umzusetzen. Die ausbleibenden Erfolge der militärischen Präsenz – sichtbar an der steten Zunahme von Unsicherheit und Gewalt – trugen zur weiteren Diskreditierung der französischen Intervention bei.

Macrons Festhalten an einer offensichtlich zum Scheitern verurteilten Sahelpolitik ist in weiten Teilen strukturell bedingt. Das beginnt mit der Erwartungshaltung regio­naler und internationaler Partner, die von Paris sicherheitspolitische Führung in West­afrika erwarten – und damit letztlich dem tradierten Selbstverständnis Frankreichs immer neue Nahrung geben. Auf außen­politischer Ebene bleibt Afrika eine wichtige Projektionsfläche französischer Macht und Grandeur. Das Militär ist dabei aufgrund seiner Stützpunkte in Côte d’Ivoire, Dschi­buti, Senegal und Tschad sowie seiner operationellen Exper­tise ein elementares Mittel französischer Afrikapolitik. Seit 2013 haben sein Einfluss und der des Verteidigungsministeriums auf die außenpolitischen Entscheidungen des Elysée deutlich zugenommen. Das Außenministerium hin­gegen hat weiter an Bedeutung eingebüßt. Seine inhaltlich-analytischen Kompetenzen werden kaum genutzt. Das erklärt teilweise die mangelnde politisch-strategische Ver­ankerung des Militär­einsatzes. Und auch eine Vielzahl folgenschwerer politischer Fehleinschätzungen muss darauf zurück­geführt werden, wie zum Beispiel die wider­sprüchlichen Positionierungen gegenüber den Militärregimen in Mali und Tschad, das Verkennen sowohl der innenpolitischen Dyna­miken in Mali als auch – lange Zeit – der galoppierenden antifranzösischen Stimmung in der Region.

Auch politisch-institutionelle Faktoren haben sich dahingehend ausgewirkt, dass der einmal ein­geschlagene Kurs fortgeführt und damit Änderungs- und Anpassungsprozesse erschwert wurden. Die Vertikalität des französischen politischen Systems gibt dem Präsidenten eine nahezu uneingeschränkte außen- und sicherheitspolitische Entscheidungsmacht, selbst bei einem gro­ßen und zeitlich unbegrenzten Auslandseinsatz (Opérations extérieures, OPEX) wie Barkhane. Denn auch nach der Verfassungs­reform von 2008 übt die Nationalversammlung in der Außen- und Verteidigungspolitik faktisch keine Kontrolle der Regierung aus. Die Assemblée hat am 22. April 2013 einer Verlängerung der Opération Serval ohne Gegenstimme zugestimmt – und diese Ermächtigung ist bis heute gültig. Seitdem hat das Parlament in Plenarsitzungen gerade zwei Mal über den Sahel-Einsatz diskutiert – ohne Entscheidungskompetenz. Bei Auslandseinsätzen gilt nahezu ein innenpolitischer Konsens über Parteigrenzen hinweg. Ein kritischer Diskurs über Ziele, Verlauf und Wirkung der OPEX findet im politischen wie im öffentlichen Raum praktisch nicht statt. Das Fehlen politischer Korrektive und konkurrierender Deutungsangebote bringt es mit sich, dass etwaige Veränderungen des französischen Kurses im Sahel im Wesentlichen von den mehr oder weniger tiefen Einsichten Macrons und seines kleinen Beraterzirkels im Elysée abhängen.

Perspektiven nach der Mali-Zäsur

In Anbetracht historisch gewachsener Struk­turen und Handlungslogiken ist es wenig überraschend, dass die afrikapolitische Zwischenbilanz von Präsident Macron gemischt und in sich widersprüchlich aus­fällt. Auf der Habenseite stehen einige Initiativen, die das Narrativ des politischen Wandels in Ansätzen mit Leben erfüllen. Auf der anderen Seite steht das Festhalten an einer Sahelpolitik, deren Ende letztlich nicht von Macron, sondern von Malis Mili­tärregierung herbeigeführt wurde. Es ist paradox, dass der Reformer Macron aus­gerechnet in Mali Pfadabhängigkeiten nicht zu durchbrechen wusste, obwohl einiges dafür spricht, dass er die Notwendigkeit eines Politikwechsels im Prinzip erkannt hatte.

Fraglich bleibt dennoch, wie lernfähig sich Paris in Anbetracht des Desasters zeigen wird. Es ist durchaus denkbar, dass Paris nach anfänglichem Schock letztlich allenfalls geringfügige Konsequenzen aus der Krise ziehen wird. Dafür spricht die Neigung Macrons und mancher Entscheidungsträger, die Ursachen für die anti-französische Stimmung in Westafrika im Wesentlichen in den politischen und kom­munikativen Manipulationen strategischer Mitbewerber (Russland, China, Türkei) zu suchen anstatt in eigenen Versäumnissen.

Mali dürfte als politische Zäsur in die Geschichte der französisch-afrikanischen Beziehungen eingehen. Wie unter einem Brennglas hat die Krise die Schwachstellen französischer Afrikapolitik offengelegt wie etwa den widersprüchlichen Umgang mit autoritären Herrschern, ineffektive mili­tärische Ansätze und ungebrochene Bevor­mundung und Paternalismus. Sie hat in Mali tiefsitzende politische und gesellschaft­liche Frustrationen über die seit 1960 an­haltende »blockierte Entkolonialisierung« zur Eruption gebracht, die sich auch in anderen Staaten der Region zunehmend Bahn brechen. Die afrikapolitische Krise Frankreichs macht daher nicht in Mali halt.

Den demographischen Wandel in Afrika betrachtet Macron gerne als Chance für einen politischen Neuanfang. In Wirklichkeit beschleunigt er einen politischen Bruch, auf den Paris nur noch reagiert. Die politischen und gesellschaftlichen Netzwerke zwischen Frankreich und Afrika erodieren seit geraumer Zeit, nicht zuletzt wegen restriktiver Migrationspolitiken. Für die nachrückenden Generationen in Afrika sind Frankreich (und Europa) Bezugspunkte mit abnehmender Attraktivität. Immer weniger junge Afrikaner verbinden mit ihnen das Versprechen sozialer Aufwärtsmobilität. Für Angehörige urbaner Protest­bewegungen stellt Frankreich den zentralen Kristallisa­tionspunkt ihrer Kritik und ihrer emanzipatorischen Diskurse dar. Diese Gruppierungen verändern die innenpolitischen Machtverhältnisse und setzen Regie­rungen unter Druck, die von populistischen Wort­führern als Erfüllungsgehilfen Frank­reichs karikiert werden. Frankreich ist in Afrika dabei längst zum Objekt innenpolitischer Profilierungs- und Mobilisierungs­bemühungen geworden.

Paris könnte auf Jahre hinaus mit einem nachhaltig erschütterten Selbstverständnis über seine eigene Rolle in Afrika befasst sein und steht vor der historischen Heraus­forderung, einen neuen Kurs gegenüber Afrika zu definieren. Für Deutschland und andere europäische Regierungen könnte daraus die Chance erwachsen, mit Frank­reich in einen afrikapolitischen Dialog ein­zutreten, der nicht a priori von der Über­legenheit politischer Einsichten in Paris und dem Vorrang französischer Interessen bestimmt wird. An Herausforderungen mangelt es nicht. Die mannigfaltigen Fol­gen des Ukraine-Krieges, Klima-, Energie-und Migrationspolitik zählen dazu ebenso wie der Umgang mit der eigenen kolonialen Vergangenheit in Afrika.

Dr. Denis M. Tull ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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