Sollte der neue Staatspräsident nicht der islamistischen Parlamentsmehrheit angehören, könnte dies der Stabilisierung Ägyptens dienen, meint Stephan Roll.
Kurz gesagt, 10.05.2012 Research AreasStephan Roll
Sollte der neue Staatspräsident nicht der islamistischen Parlamentsmehrheit angehören, könnte dies der Stabilisierung Ägyptens dienen. Ohne die Berücksichtigung der Interessen der Militärführung aber geht es nicht, meint Stephan Roll.
Am 23. und 24. Mai können die ägyptischen Wähler ihre Stimmen für einen der dreizehn Präsidentschaftskandidaten abgeben. Erhält keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit, wird es am 16. und 17. Juni eine Stichwahl geben. Die Kompetenzen des Präsidenten im künftigen politischen System allerdings sind bislang ungeklärt. Und der Verfassungsgebungsprozess, in dessen Rahmen sie festgeschrieben werden, ist ins Stocken geraten.
Hintergrund dieser unklaren Situation ist die Ausgestaltung des Transformationsprozesses in Ägypten, der von Beginn an auf die schnellstmögliche Durchführung von Parlamentswahlen ausgerichtet war. Die Ausarbeitung der Verfassung ist gemäß Übergangsverfassung einer vom neu gewählten Parlament zu ernennenden verfassungsgebenden Versammlung übertragen worden. In einem Referendum soll die Bevölkerung über die neue Verfassung abstimmen. Insbesondere zwei Akteursgruppen hatten sich hinter dieses Vorgehen gestellt: der Hohe Militärrat, das eigentliche Machtzentrum im Land seit dem erzwungenen Rücktritt Husni Mubaraks, und die Islamisten, allen voran die Muslimbrüder. Militärführung wie Muslimbrüder hatten gleichermaßen Angst vor "revolutionären Eigendynamiken" bei der Verfassungsgebung und setzten daher auf einen kontrollierbaren, graduellen Transformationsprozess. Die Muslimbrüder versprachen sich zudem aufgrund ihrer hervorragenden Organisationsstruktur einen leichten Wahlsieg. Über eine Parlamentsmehrheit, so glaubten sie, könnten sie dann die Verfassungsgebung steuern.
Heute zeigt sich: Diese Rechnung ist nur zum Teil aufgegangen. Zwar konnte sich die Partei der Freiheit und Gerechtigkeit der Muslimbrüder mit 43 Prozent der Stimmen bei den Parlamentswahlen eindrucksvoll behaupten. Gemeinsam mit den anderen islamistischen Parteien kontrolliert sie sogar zwei Drittel der Parlamentssitze. Das Recht des Parlaments, die verfassungsgebende Versammlung zu benennen, wird in der Praxis jedoch dadurch unterminiert, dass es in der Übergangsverfassung an Durchführungsbestimmungen mangelt. Der Versuch der Muslimbrüder, die verfassungsgebende Versammlung gemäß den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen zu gestalten, wurde durch ein Verwaltungsgerichtsurteil gestoppt. Eine noch größere Niederlage aber erfuhren die Muslimbrüder bei der Registrierung der Kandidaten für die Präsidentschaftswahl: Ebenfalls aus formalen Gründen wurde ihr chancenreichster Kandidat, der stellvertretende spirituelle Führer der Bruderschaft Khairat al-Shater, nicht zugelassen. Dem "Ersatzkandidaten" der Bruderschaft, Mohamed Morsy, Vorsitzender der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, werden als "blasse Erscheinung" kaum Wahlchancen eingeräumt.
Die derzeitigen Favoriten der Präsidentschaftswahlen sind der ehemalige Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Moussa, und der ehemalige Muslimbruder Abdel Moneim Abul Futuh. Moussa kann aufgrund seines Bekanntheitsgrades vor allem mit Stimmen der ärmeren Bevölkerung rechnen. Zudem könnte er Stimmen von Wählerinnen und Wählern bekommen, die dem alten Regime nahe standen. Futuh wiederum ist es gelungen, eine breite Unterstützerbasis aufzubauen. Auch wenn er aufgrund seiner liberalen Positionen mit dem konservativen Establishment der Bruderschaft gebrochen hat, kann er auf die Stimmen vieler junger Muslimbrüder zählen. Zudem hat er auch in der liberalen Mittelschicht viele Anhänger, und selbst die meisten salafistischen Parteien und Organisationen haben sich hinter ihn gestellt, da sie nur ihm zutrauen, Moussa zu schlagen.
Nach den Wahlen muss über das künftige Regierungssystem entschieden werden
Die Präsidentschaftswahlen könnten somit dazu führen, dass der Staatspräsident nicht der Partei mit der Parlamentsmehrheit angehört. Diese Konstellation wäre in der neueren ägyptischen Geschichte einmalig und hätte wohl Auswirkungen auf den Verfassungsgebungsprozess. Im Kern dieses Prozesses dürfte die Frage nach der grundsätzlichen Ausgestaltung des Regierungssystems stehen. In ihrem Parteiprogramm hatten die Muslimbrüder als Fernziel die Errichtung eines parlamentarischen Systems benannt. In einer Situation, da der Präsident nicht aus ihren Reihen kommt, könnten sie bemüht sein, ein solches System sofort durchzusetzen, um ihre Mehrheit im Parlament politisch nutzen zu können. Ein lähmender Konflikt zwischen dem von der Bruderschaft dominierten Parlament und dem Staatspräsidenten wäre die absehbare Folge. Letzterer könnte auf die ihm unterstehende Exekutive zurückgreifen, um gegen das Parlament mobil zu machen und in der Bevölkerung für die Ablehnung einer entsprechenden Verfassung zu werben.
Wahrscheinlich ist eine solche Entwicklung indes nicht. Zum einen würden die Muslimbrüder wohl kaum die hierfür notwendige Unterstützung aus dem übrigen politischen Akteursspektrum bekommen. Selbst die Salafisten, die zunächst als mögliche Verbündete galten, haben sich erkennbar von der Bruderschaft distanziert. Auch sie sind nicht an einer Monopolisierung des politischen Prozesses durch die Muslimbrüder interessiert. Angesichts der desaströsen sozioökonomischen Lage des Landes dürften aber vor allem auch die Muslimbrüder selbst kaum ein Interesse daran haben, kurz- und mittelfristig die alleinige politische Verantwortung für Ägypten zu übernehmen.
Wahrscheinlich ist daher eine konsensuale Entwicklung, bei der sich das Parlament bzw. die von ihm gewählte verfassungsgebende Versammlung mit dem neuen Staatspräsidenten auf die Implementierung eines semi-präsidentiellen Regierungssystems mit einem starken Präsidenten verständigt, der nicht alleine über die Regierungsbildung entscheidet und sich die exekutive Macht mit einem Regierungschef teilt.
Ob eine solche Einigung allerdings am Ende tatsächlich Verfassungsrealität wird, hängt vor allem von der Frage ab, ob es gelingen kann, die Militärführung in diesen Prozess einzubinden. Nur wenn die Militärs ihre eigenen Interessen gesichert sehen, allen voran die Hoheit über den Verteidigungsetat und die Immunität vor Strafverfolgung, werden sie ihre politische Macht abgeben und sich nicht gegen die neue Verfassung stellen. Hierfür eine Lösung zu finden, die von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wird, ist die eigentliche Herausforderung der weiteren Transformation.