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Einreisebeschränkungen für russische Staatsbürger

Optionen für eine rechtmäßige und koordinierte Regelung in der Schengen-Zone

SWP-Aktuell 2022/A 53, 24.08.2022, 6 Pages

doi:10.18449/2022A53

Research Areas

Der Rat der EU-Außenminister soll Ende August darüber beraten, ob die Möglich­keiten für russische Staatsbürger, in die Schengen-Zone einzureisen, stark beschränkt werden sollen. Mehrere nord- und osteuropäische Staaten haben bereits weitreichende Maßnahmen veranlasst und finden hierfür eine wachsende Unterstützung in der EU. Deutschland hingegen weist bislang Restriktionen bei der Visavergabe zurück und begründet dies mit der Situation russischer Regimekritiker. Auch wenn es bei der Einreisekontrolle und beim Aufenthaltsrecht nationale Ermessensspielräume gibt, sollte eine konvergente europäische Regelung vereinbart werden. Der EU-Visa­kodex bietet hinreichend Ansatzpunkte, um touristische Reisen erheblich einzuschränken. Ein umfassender Einreisestopp wäre hingegen unverhältnismäßig, auch weil die Vergabe humanitärer Visa kaum ausgeweitet werden wird.

Ob die Einreise russischer Staatsbürger in die Schengen-Zone untersagt werden soll, hat sich zu einer Frage von erheblicher politischer Brisanz entwickelt. Von Estland wurden jüngst rund 50 000 Visa, die es zuvor Bürgern der Russischen Föderation ausgestellt hatte, für ungültig erklärt – mit nur wenigen definierten Ausnahmen für humanitäre Zwecke, Diplomaten, Besuche enger Familienangehöriger und für Arbeitskräfte im Transportsektor. Der­zeit wird laut estnischen Regierungs­stellen an einer weiteren Regelung ge­arbeitet, um auch solchen russischen Staatsbürgern die Einreise zu verweigern, die gültige Visa anderer Schengen-Staaten haben.

Neben allen baltischen Staaten nehmen auch Dänemark, Belgien und die Niederlande schon länger keine Visa-Anträge russischer Staatsbürger mehr entgegen. Polen, die Slowakei und Tschechien streben eben­so entsprechende Beschränkungen bei der Visavergabe an oder setzen diese bereits um. Finnland hat derweil erklärt, ab Sep­tember die Zahl der Termine für russi­sche Antragsteller um mindestens die Hälfte abzusenken. Priorisiert werden sollen dabei Visa, die Familienbesuchen oder anderen wichtigen Zwecken dienen.

Symbolische Bedeutung des Einreiseverbots

Deutschland wird in diesem Zusammenhang vorgeworfen, es agiere zu zögerlich und strebe letztlich danach, die früheren Beziehungen zu Russland möglichst rasch wiederherzustellen. Vielfach wird der Ein­wand der Bundesregierung nicht akzeptiert, dass der Angriffskrieg gegen die Ukraine auf eine alleinige Entscheidung von Präsi­dent Putin zurückgehe. Vielmehr wird zunehmend eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die Invasion und eine Kriegsschuld aller Russen postuliert, wie dies auch in jüngsten Reden des ukrainischen Präsidenten Zelensky zum Ausdruck kommt.

Offensichtlich sind Emotionen ein kriti­scher Faktor in der aktuellen Debatte. Je länger der Krieg dauert, desto un­halt­barer erscheint eine vermeintliche Rück­kehr zur Normalität. So gilt es vielen Stim­men als nicht hinnehmbar, dass russi­sche Bürger im Ausland Urlaub machen oder auf Einkaufstour gehen, während in der Ukra­ine als Folge des Angriffskrieges täglich Zivilisten sterben. Diese Haltung ist nach­vollziehbar, kann aber nicht unmittelbar einen flächen­deckenden Einreisestopp be­gründen, sofern man sich an rechtsstaat­liche Grundsätze hält. Es gilt stärker zu differenzieren. Formal betrachtet kennt die Schengen-Zone etwa »Touristenvisa« gar nicht, sondern kurzfristige Einreiseerlaubnisse für bis zu 90 Tage, die mit unterschiedlichen Begrün­dungen erteilt werden können.

Aus einer interessengeleiteten Perspek­tive gründen Argumente für und wider einen weitreichenden Visastopp auf un­sicheren Annahmen. Es lässt sich nicht be­lastbar prognostizieren, ob anhaltende Reisebewegungen zwischen Russland und der Schengen-Zone dazu beitragen würden, unter russischen Bürgern eine kritische Sicht auf den Krieg zu befördern – oder ob gerade scharfe Einschränkungen zu Pro­tes­ten gegen das Moskauer Regime führen könnten. Geschätzt verfügen nur rund 30 Prozent von Russlands Bevölkerung über einen Auslandsreisepass, während viele Mitglieder der wirtschaftlichen und politi­schen Elite auf langfristige Aufenthaltstitel oder Zweitpässe westlicher Staaten zurück­greifen können. Insofern ist anzunehmen, dass eine Beschneidung der Visavergabe sich nur in geringem Maße auf die Regime­stabilität auswirken würde. Zudem geht bloß ein vergleichsweise kleiner Anteil der russischen Touristenströme in die Schengen-Zone, im Gegensatz etwa zur Türkei, die nach wie vor eine visafreie Einreise aus Russland erlaubt. In jedem Fall würde das Putin-Regime einen Einreisestopp für die Schengen-Länder propagandistisch aus­schlachten und die Abgrenzung zum Wes­ten weiter betonen. Dem gegenüber steht das europäische Interesse an einem direk­ten Austausch mit der russischen Zivil­gesellschaft. Da eine dauerhafte Flucht aller Regimegegner nicht zu erwarten (und auch nicht wünschenswert) ist, sollten Besuchsreisen zwischen Russland und der Schengen-Zone möglich bleiben.

Andererseits hat sich erwiesen, dass die jahrzehntelangen Kontakte zwischen EU-Staaten und der Russischen Föderation auf sozialer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene es nicht vermochten, eine gemeinsame Wertebasis und politische Stabilität zu schaffen. Dieser Befund kann zum Anlass genommen werden, in der Visumfrage ein Signal der Solidarität mit der Ukraine einzufordern. Die teilweise extremen medialen Reaktionen in Russland auf die Androhung eines europäischen Ein­reisebanns werden von dessen Befürwortern positiv aufgenommen. Die Maß­nahme hätte demnach zumindest eine wichtige symbolische Bedeutung und könn­te somit über den Kreis der russischen Bürger hinaus wirken, die tatsächlich touristische Reisen in die EU unternehmen. Die Opposition innerhalb Russlands könnte gerade dann erstarken, so manche Stimmen, wenn die Abwanderung in den Westen keine Option mehr wäre. Etwaige wirtschaftliche Kosten eines Visastopps für einzelne EU-Länder, die wie Zypern oder Griechenland vergleichsweise viele russische Touristen emp­fangen, wären in dieser politischen Abwä­gung nur von sekundärer Bedeutung.

Rechtlicher Spielraum bei der Visa-Erteilung

Grundsätzlich können Staaten die Einreise von Drittstaatsangehörigen weitgehend einschränken, sofern keine grundrechts­relevanten Aspekte berührt werden – etwa das Recht auf ein Familienleben. Dies gilt auch für die Mitglieder der Schengen-Zone. Personen, die über ein gültiges Visum oder einen sonstigen Aufenthaltstitel eines ande­ren Schengen-Staates verfügen, können nur in Ausnahmefällen an europäischen Bin­nengrenzen abgewiesen werden, etwa bei besonderen Gefahren für die öffentliche Sicherheit.

Allerdings sind die Kriterien zur Erteilung kurzfristiger Schengen-Visa weit­reichend europäisch reguliert. Auch wenn die konkrete Fallbearbeitung und Entscheidung in nationaler Verantwortung ver­bleibt, sollten weitere Absprachen getroffen werden, um für russische Bürger die Ein­reise in die gesamte Schengen-Zone zu erschweren. Falls dies nicht gelingt, drohen die Herangehensweisen der Mitgliedstaaten immer stärker auseinanderzuklaffen. So würden zum einen erhebliche Umgehungsbewegungen russischer Reisender innerhalb der Schengen-Zone entstehen, zum anderen rechtlich kaum gedeckte Praktiken der nationalen Einreisekontrolle verfestigt.

Als ersten Schritt für ein gemeinschaft­licheres Vorgehen könnte die EU das immer noch bestehende Abkommen zur Visa-Erleichterung mit Russland vollständig suspendieren. Ende Februar wurde das Ab­kommen zunächst für Regierungsvertreter, Inhaber von Diplomatenpässen und Per­so­nen mit geschäftlichen Visa außer Kraft gesetzt. Mit einer vollständigen Suspendierung würden die Kosten und der Aufwand für rein touristische Reisen erhöht. Dies wäre auch eine weitere politische Antwort darauf, dass die russische Regierung ihrer­seits im April mehrere europäische Staaten und die EU als Ganzes als »unfreundliche Staaten« klassifiziert hat.

Als nächster Schritt könnte ein konvergentes Vorgehen vereinbart werden, was die Vergabe individueller Kurzzeitvisa betrifft. Unter anderem bietet der Visa­kodex der EU in den Artikeln 21 und 32 vielfältige Ansatzpunkte, um Anträge ab­zulehnen. Dabei kann beispielsweise in systematischer Weise auf Gefahren für die Sicherheit oder für die internationalen Be­ziehungen eines Mitgliedstaates ver­wiesen werden. Nach bisheriger Recht­sprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wird dabei eine jeweils individuelle Bewertung verlangt. Da aber derzeit fast alle Mitgliedstaaten Waffen an die Ukraine liefern, könnte ein allgemeiner Verweis auf die schwerwiegend gestörten Beziehungen zu Russland ausreichen, um einfache Be­suchs­visa abzulehnen (sofern keine weite­ren per­sönlichen oder humanitären Gründe gel­tend gemacht werden). Mittelfristig könnte eine gezielte rechtliche Novellierung des Visakodex eine solche Praxis unterfüttern.

Darüber hinaus bieten sich weitere bürokratische Stellschrauben. Eine enge Auslegung der »Bedingungen des geplanten Aufenthalts« und der dafür »ausreichenden Mittel« (gemäß EU-Verordnung 810/2009) könnte zu starken Einschränkungen füh­ren, da russische Staatsbürger im Ausland aufgrund geltender Sanktionen momentan keinen direkten Zugang zu heimischen Konten oder internationalen Kreditkarten haben. Formell könnte somit die Annahme gelten, dass touristische Reisen nicht ge­sichert finanziert sind, selbst im Falle wohl­habender Personen. Sollten Antragsteller etwaige Vermögen oder Bankkonten außer­halb Russlands offenlegen, um angemessene Finanzmittel für Reisen in die Schengen-Zone nachzuweisen, ließe sich dies viel­leicht sogar zur Umsetzung von Sanktionsbeschlüssen nutzen. Allgemein könnte die EU-Kommission von ihren erst jüngst ge­stärkten Kompetenzen zum Erlass von Verwaltungshandreichungen bei der Visa­vergabe Gebrauch machen, etwa wenn es darum geht, die benötigten unterstützenden Antragsunterlagen festzulegen.

Im Gegenzug für eine restriktive Praxis bei Visa für touristische Zwecke könnte die Einreise großzügiger bewilligt werden, sofern es sich um Einladungen zivilgesellschaftlicher Akteure oder um Familien­besuche handelt, bei denen Sponsoren innerhalb der Schengen-Zone in Erscheinung treten. Verpflichtungserklärungen dieser Sponsoren zur Übernahme etwaiger Kosten, die durch die eingeladenen Perso­nen entstehen könnten, sollten weniger umfassend ausfallen. Zu beobachten gilt, wie Finnland nun Visa-Anträge priorisieren will, die nichttouristische Zwecke verfolgen. Eine effektive Umsetzung könnte als positives Beispiel für andere Schengen-Staaten dienen. Jedenfalls muss eine solche Priorisierung administrativ unterfüttert werden, so dass konsularische Kapazitäten und Antragsmöglichkeiten tatsächlich zur Verfügung stehen.

Weniger hilfreich erscheint dabei, die Zahl der monatlichen Visa-Anträge fest zu quotieren. Viele diplomatische Vertretungen in Russland arbeiten bereits mit stark reduziertem Personal. Es sollten deshalb mehr Möglichkeiten geschaffen werden, Anträge in Ländern außerhalb der Russi­schen Föderation zu stellen. Eine erheb­liche Zahl russischer Staatsbürger ist auf­grund der politischen Lage zwischenzeitlich in die europäische Nachbarschaft ausgewandert und sucht weitergehende Perspek­tiven in Europa. In solchen Fällen könnte eine Prüfung der Einreiseerlaubnis für die Schengen-Zone in Drittstaaten wie der Türkei erfolgen. Indirekte Reisewege und Flugverbindungen zwischen der Russischen Föderation und der EU, die rein touristischen Zwecken dienen, würden ausdrücklich nicht berücksichtigt.

Weitere Beschränkungen der Mobilität

Eine einseitige Nichtanerkennung bereits ausgestellter Visa, wie nun von Estland praktiziert, muss mit Vorsicht betrachtet werden. Inhaltlich sinnvoll wäre eine wei­tergehende Koordination der Schengen-Staaten darüber, unter welchen Voraussetzungen längerfristige Visa für die mehr­fache Einreise annulliert werden könnten (Art. 34 Visakodex). Dass man den Visuminhaber etwa zu der Erklärung verpflichtet, Russlands Krieg gegen die Ukraine werde abgelehnt, erscheint zu willkürlich und formalistisch. Jede Person, die ein solches Bekenntnis unterzeichnet, könnte unabhängig von ihrer politischen Einstellung zum Opfer staatlicher Repression in Russ­land werden. So drohen lange Gefängnisstrafen allein schon dafür, das Vorgehen gegen die Ukraine als »Krieg« zu bezeichnen. Für eine Einreiseverweigerung und die Aufhebung eines Visums könnte vielmehr Bezug genommen werden auf die allge­meinen »Voraussetzungen«, unter denen es ursprünglich erteilt wurde und die nun nicht mehr gegeben sind. Wie bei Neuanträgen würde auf Änderungen in den inter­nationalen Beziehungen oder die finanziellen Mittel des Reisenden verwiesen werden.

Kritischer für die Umsetzung von Sank­tionen gegen Mitglieder der russischen Elite ist, dass über Jahre hinweg einige EU-Staa­ten – vorrangig Malta, Zypern und Bulga­rien – in erheblicher Zahl sogenannte »goldene Pässe« im Gegenzug für finanzielle Investi­tionen ausgestellt haben. Allgemein ist es in allen europäischen Rechtsordnungen aus grundrechtlichen Gesichtspunkten mit hohen Hürden verbunden, eine erteilte Staatsbürgerschaft wieder abzuerkennen.

Im März 2022 erging jedoch die Auf­forderung der EU, alle verbleibenden Pro­gramme dieser Art einzustellen und bei sanktionierten Personen sämtliche Aufent­haltstitel möglichst zu widerrufen. Hierzu sollten neue Daten aus allen EU-Staaten erhoben und weitere Lücken im Sanktionsregime identifiziert werden. Zyprische Ermittlungsbehörden haben jüngst einen umfassenden Bericht vorlegt, aus dem hervorgeht, dass mehrere tausend Pässe gemäß den damals geltenden nationalen Regelungen rechtswidrig erteilt wurden. Damit wäre ein Widerruf mit rechtsstaat­lichen Kriterien vereinbar und auch jenseits von gezielten Sanktionen gegen einzelne Personen geboten. Wie viele Staatsbürgerschaften bisher tatsächlich annulliert wur­den, ist jedoch unklar; aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Zahl eher gering. Die Liste der persönlich sanktionierten Perso­nen aus der russischen Elite sollte indes erweitert werden, wie auch aus auch dem Umfeld des inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny gefordert wird. Dass dafür innerhalb der EU einstimmige Beschlüsse notwendig sind, darf wie bei vergangenen Sanktionspaketen nicht als Hinderungsgrund erscheinen.

Grundrechtliche Bedingungen

Wie der geltende Visakodex der EU und die EuGH-Rechtsprechung zu Sanktionen vor­geben, wäre es bei allen Maßnahmen erfor­derlich, das Prinzip individueller Verfahren und den Anspruch auf einen Rechtsbehelf zu wahren. Ein lückenloser Reisebann bzw. die Verweigerung aller Kurzzeitvisa für russische Staatsbürger wäre demnach nicht rechtens. Grundsatzdebatten über die Zu­lässigkeit eines allgemeinen Einreiseverbots für bestimmte Drittstaaten, die man in den USA unter der Trump-Administration führte, sollten in der EU nicht wiederholt werden. Kollektive Ausweisungen russischer Staatsbürger, die sich auf rechtmäßiger Grundlage langfristig in der EU auf­halten, würden in jedem Fall gegen die EU‑Grundrechtecharta wie auch gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. Zudem wären sie politisch kon­traproduktiv.

Das auf politischer Ebene vorgebrachte Argument, ein Besuch der Schengen-Zone sei »kein Menschenrecht«, ist zwar in dieser vereinfachten Formulierung nicht falsch. Dennoch sollte soweit wie möglich grund­rechtlichen Interessen entsprochen werden, vor allem was langfristige Aufenthalts­berechtigungen in der EU bzw. das Recht auf Familie betrifft. Zudem sollten reale Möglichkeiten bestehen bleiben, Schutz vor Verfolgung zu erhalten. Gerade dieses Prin­zip sollte weit umfassender gelten, also nicht nur mit Blick auf russische Staats­angehörige. Unter diesem Gesichtspunkt bergen die aufgeladene Rhetorik gegenüber Russland und die Rufe nach einer robusten Verteidigung der Schengen-Zone zusätzlich die Gefahr, dass die ohnehin sehr schlechte Lage für Schutzsuchende weiter verschlim­mert wird.

Verbleibende Türen für russische Oppositionelle

Es gibt keine belastbaren Daten darüber, ob und in welchem Umfang einfache Touristenvisa von russischen Oppositionellen oder regimekritischen Personen genutzt werden. Für deren Zwecke erscheint die Ausstellung humanitärer Visa oder anderer Aufenthaltstitel prinzipiell angemessener, bis hin zur Beantragung von politischem Asyl.

In der Praxis sind hierbei jedoch hohe Antragshürden, erhebliche persönliche Risiken und teils lange Bearbeitungszeiten zu berücksichtigen. Wie die verfügbaren Zahlen aus Deutschland zeigen, konnten bisher nur wenige hundert Personen über gesonderte humanitäre Visa oder ähnlich gelagerte Programme für russische Medien­schaffende einreisen. Unter anderem wird von Behörden noch immer ein vorheriger Bezug zu Deutschland verlangt, damit sich ein humanitäres Visum beantragen lässt. Dies ist in der aktuellen Lage eine überholte Vorgabe.

Wenn vermieden werden soll, dass ein wachsender Strom an irregulären Zuwanderern aus Russland entsteht – einher­gehend mit kriminellen Netzwerken und physischen Risiken –, müsste der Zugang zu humanitären Visa ausgebaut werden. Allerdings ist dies nur in beschränktem Umfang zu erwarten, nicht zuletzt weil einige EU-Staaten wohl keine Prä­zedenz­fälle für andere Krisen schaffen wollen. Deshalb muss die Möglichkeit er­halten bleiben, im Einzelfall reguläre Visa zu erteilen und diese im Bedarfsfall inner­halb der EU in andere Aufenthaltstitel umzuwandeln. Gerade in Deutschland sollte zusätzlich die liberalisierende Dyna­mik der Arbeitszuwanderung genutzt werden, um weitere Türen für russische Staats­bürger zu öffnen, die ihre Zukunft im Ausland sehen.

Empfehlungen

Die Debatte um russischen Tourismus sollte die Gesamtlage im Blick behalten. Priorität bleibt, alle individuellen Sanktions­entschei­de effektiv umzusetzen sowie den Kreis der betroffenen Personen aus der russischen Elite zu erweitern. Gewöhnliche russische Reisende könnten erheblichen administrativen Beschränkungen bei der Visavergabe unterworfen werden, unter Einhaltung des gemeinsamen EU-Rechts. Regelmäßige Ein­kaufstouren oder Strandurlaube im euro­päischen Ausland ließen sich damit stark verringern.

Unabhängig von der Frage, ob dies Aus­wirkungen auf die Stabilität des russischen Regimes hätte oder nicht, ist es im vorran­gigen Interesse der EU, eine ge­meinsame Linie gegenüber Russland auf­rechtzuerhal­ten. Gewisse Einschränkungen der Bewe­gungsmöglichkeiten für Opposi­tionelle sind für diese übergeordnete Ziel­setzung ver­tretbar. Umso wichtiger ist es, familiäre Be­suche zwischen Russland und den Schen­gen-Mitgliedstaaten sowie Um­wege für regimekritische Bürger zu erhal­ten, auch über kurzfristige Visatitel oder Arbeitsvisa. Deutschland könnte sich in diesem Sinne weiter engagieren und gleich­zeitig all­gemeine Einreisebeschränkungen für die Schengen-Zone unterstützen.

Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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