Das Unglück trifft ein bereits angeschlagenes Land, sagt Hanns Günther Hilpert. Es besteht aber die Möglichkeit, dass Japan gestärkt daraus hervorgehen wird.
Kurz gesagt, 30.03.2011 Research AreasHanns Günther Hilpert
Das Jahrhundertunglück trifft ein bereits angeschlagenes Land, erläutert Hanns Günther Hilpert. Gerade deshalb besteht aber zumindest die Möglichkeit, dass Japan gestärkt daraus hervorgehen wird.
Erdbeben der Stärke 9,0, bis zu zehn Meter hohe Tsunamiwellen und der schwerste Unfall in der zivilen Kernkraft seit Tschernobyl: Der 11. März 2011 ist der Ground Zero Japans. Inzwischen liegt die Zahl der Toten und Vermissten bei über 27.000. Rund 250.000 Menschen sind obdachlos. Die Regierung rechnet mit materiellen Schäden in Höhe von 16 bis 25 Billionen Yen, was bis zu 4,6 Prozent des japanischen Bruttoinlandsprodukts entsprechen würde. Unterstellt wird dabei, dass die Reaktorkatastrophe von Fukushima nicht noch weiter außer Kontrolle gerät.
Die Jahrhundertkatastrophe trifft ein ohnehin angeschlagenes Land. Japans alternde Gesellschaft wirkt verunsichert und mutlos angesichts der Herausforderungen der Globalisierung. Die Industrie verliert seit Jahren Anteile auf den Weltmärkten, während die Binnenwirtschaft von Wachstumsschwäche, Deflation und hoher Staatsverschuldung gezeichnet ist. Die Politik hat sich unfähig zu richtungsweisender Führung und Reform erwiesen und verharrt in Grabenkämpfen um Posten und Pfründe. Dennoch könnte Japan nun unter bestimmten Voraussetzungen gestärkt aus der Dreifachkatastrophe hervorgehen.
Ohne kräftige Steuererhöhung droht die Staatsschuldenkrise
Am ehesten prognostizierbar sind deren ökonomische Konsequenzen. Kurzfristig sind wegen zerstörter Produktionsanlagen und Transportinfrastruktur sowie aufgrund der Unterbrechungen bei der Stromversorgung erhebliche Produktionsausfälle zu erwarten. Wahrscheinlich aber dürfte die Konjunktur schon im dritten Quartal 2011wieder anspringen. Über das gesamte Jahr gerechnet sollten die Investitionen in den Wiederaufbau die Produktionsausfälle mehr als kompensieren, so dass Japans Volkswirtschaft unter dem Strich sogar ein Plus aufweisen wird. Vorausgesetzt, bestimmte negative Entwicklungen bleiben aus, wie zum Beispiel eine anhaltende Verunsicherung der Verbraucher und Investoren, unerwartet lange Stromausfälle, verschlechterte Wettbewerbsfähigkeit durch eine Yen-Aufwertung, oder Kreditblockaden durch die angeschlagenen japanischen Banken.
Japans Staatsverschuldung, die im vergangenen Jahr die Schwelle von 200 Prozent (gemessen als Anteil am BIP) überschritten hat, wird infolge der Ausgabe spezieller Erdbebenanleihen weiter kräftig steigen. Kurzfristig ist dies kein Problem, da sie eine auf Yen lautende reine Inlandsverschuldung ist, der Staat sich also ausschließlich bei japanischen Sparern und Banken verschuldet. Dazu kommt, dass Kapital aufgrund der Liquiditätsexpansion der Bank von Japan umfangreich zur Verfügung steht. Mittelfristig aber wird nur eine kräftige Steuererhöhung eine Staatsschuldenkrise abwenden können. Denn erstens werden aufgrund fallender Sparquoten die inländischen privaten Ersparnisse nicht mehr lange zur Finanzierung der staatlichen Mittelaufnahme ausreichen. Zweitens werden die Kapitalzinsen nicht dauerhaft auf dem derzeit niedrigen Niveau (1,2 Prozent für Zehnjahresanleihen) verharren.
Sehr viel schwieriger abzuschätzen sind die gesellschaftlichen und politischen Folgen. Denn die Dreifachkatastrophe bietet durchaus die Chance auf eine Zäsur. Einerseits könnte sich Japans nach innen gerichtete, defensive Haltung nochmals verstärken und der internationale Bedeutungsverlust des Landes sich weiter fortsetzen. Schon jetzt hat China Japan als wichtigste Wirtschaftsmacht Asiens abgelöst, auch im Kreise der übrigen asiatischen Nachbarn hat das Land weit weniger Einfluss als noch vor 15 Jahren. Nun könnte die allgemeine Verunsicherung durch die radioaktive Belastung von Nahrungsmitteln und der Umwelt sowie wegen der insgesamt schwierigen Lage im Erdbebengebiet geraume Zeit anhalten und das ganze Land lähmen.
Die Katastrophe als Katalysator
Sollten sich die Parteien beim Wiederaufbau mit der Auftragsverteilung aufreiben, um sich für die Neuwahlen zum Unterhaus in Stellung zu bringen, könnten Politik und Gesellschaft erneut in einen Zustand der kollektiven Orientierungs- und Verantwortungslosigkeit verfallen. So wie das Erdbeben von Kobe 1995 und die darauf folgenden desorganisierten Rettungsmaßnahmen ein böses Omen für Japans sogenanntes verlorenes Jahrzehnt bildeten, wäre auch die gegenwärtige Katastrophe ein unheilvolles Menetekel. Nutzt die Politik die Gunst der Stunde nicht für innere Reformen und fiskalische Konsolidierung, wird die ausufernde öffentliche Verschuldung zwangsläufig in einer Staatsschuldenkrise münden. Gesamtwirtschaftlich könnte eine lange Depression folgen. Japan würde sich aus der internationalen Verantwortung mehr oder weniger verabschieden.
Denkbar ist aber ebenfalls ein Szenario, in dem Japan durch eine konstruktive Bewältigung der Katastrophe wieder an Kraft und Selbstvertrauen gewinnt. Schon ökonomisch könnte der Wiederaufbau positive gesamtwirtschaftliche Impulse zur Überwindung der endemischen Wachstumsschwäche setzen. Hält die Bank von Japan an ihrer expansiven Liquiditätspolitik fest, könnte dies die Deflation beenden. Auch politisch ließe sich der neue Elan nutzen. Anders als nach dem Erdbeben in Kobe haben Bevölkerung, Behörden und Politik alles in allem besonnen und professionell auf die Ereignisse reagiert. Weder kam es zu Plünderungen oder Übergriffen, noch gab es bisher panikartige Fluchten vor möglichen Strahlenbelastungen. Dem Ernst der Lage angemessen erschien erstmalig Kaiser Akihito zu einer Fernsehansprache und appellierte an den Gemeinsinn Japans. Regierungschef Naoto Kan, der vor dem 11. März noch ein Ministerpräsident auf Abruf gewesen war, hat durch umsichtiges Handeln und überzeugende Empathie wieder stark an Vertrauen gewonnen. Ihm wird nicht das desaströse Krisenmanagement des Kernkraftbetreibers Tepco zur Last gelegt.
Getragen vom wiedergewonnenen Vertrauen versucht Kan nun, eine nationale Wiederaufbaukoalition zu schmieden. Der Premier braucht die Opposition nicht nur, weil diese die Mehrheit in dem für Gesetze zustimmungspflichtigen Oberhaus hat. Vor allem wird er weitreichende Entscheidungen zu Wiederaufbau, Opferentschädigung und Energiepolitik nur mittels eines überparteilichen Konsenses bewerkstelligen können. Das betrifft auch die Verständigung über die längerfristige Finanzierung des Wiederaufbaus jenseits der bereits beschlossenen Schuldenaufnahme. Mögliche Optionen sind hier die Erhöhung der Verbrauchssteuer von fünf auf avisierte zehn Prozent, die Verbreiterung der Einkommenssteuerbemessungsgrundlage oder eine allgemeine Vermögensabgabe. Noch hat Japan jedenfalls alle Chancen, dass die Katastrophe zum Katalysator für die Konsolidierung der Staatsfinanzen und die Überwindung der innenpolitischen Blockaden wird.
Berlin, 29.03.2011