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Die Tragik Hongkongs und Schwierigkeiten der deutschen Chinapolitik

Kurz gesagt, 13.11.2019 Research Areas

Seit dem Tod eines Studenten am Rande der regierungskritischen Proteste in Hongkong spitzt sich die Lage zu. Nach den Straßenschlachten der vergangenen Tage fordert Peking ein härteres Vorgehen. Die Situation ist auch für Deutschland Grund zur Sorge, meint Volker Stanzel.

Der 22-jährige Chow Tsz-lok ist nach seinem tödlichen Sturz von einem Parkhaus am vergangenen Freitag der erste Märtyrer der Protestbewegung in Hongkong. Seit mehr als fünf Monaten demonstrieren die Menschen gegen die Regierung. Gemessen an den zeitweise Millionen von Demonstranten war die Zahl der Schwerverletzten oder Verhafteten bislang gering. Die Polizeigewalt gehe auf Agenten aus dem Festland zurück, so die Demonstranten. Peking wirft der Bewegung wiederum vor, sie zerstöre die friedliche Gesellschaft. Was kann die deutsche Politik in solch einer konfrontativen Situation erreichen?

In der Zwickmühle des »Einen Landes mit den zwei Systemen«

Mehr als 5000 Deutsche leben in Hongkong, 97 deutsche Unternehmen haben dort Niederlassungen. Die britisch-chinesische Vereinbarung, auf deren Grundlage die Kolonie Hongkong im Jahr 1997 an die Volksrepublik gegeben wurde, war für beide Seiten eine Art Wette. Das Prinzip »Ein Land, zwei Systeme« sollte bis 2047 gelten. Bis dahin sollte Hongkongs gesellschaftliches System unter der Oberherrschaft Pekings erhalten bleiben. Deng Xiaoping, damals de-facto-Machthaber Chinas, dürfte angenommen haben, dass bis 2047 die Anpassung Hongkongs an das kommunistische China vollzogen sein würde. Großbritannien wiederum hoffte, dass sich China bis zum Stichtag demokratisiert haben würde. Für die internationale Gemeinschaft eine bequeme vorläufige Lösung. So konnte Hongkong Chinas finanzielle Drehscheibe und Sitz aller westlichen Unternehmen bleiben, die die Rechtssicherheit und strengen Regeln des dortigen Finanzmarkts einem Standort im Willkürstaat China vorzogen.

Beide Seiten lagen falsch. Heute macht sich in Hongkong die Erkenntnis breit, dass es die Bevölkerung ist, die die Wette verliert. Denn Hongkong ist keine Demokratie – und war auch unter der Kolonialherrschaft nie eine. Es ist aber eine freie Gesellschaft in Kultur, Bildung, Kommerz und der Herrschaft des Rechts. Jungen Hongkongern wird vor Augen geführt, was es für ihr Leben bedeutet, wenn sie mit 40 oder 50 Jahren in einem System wie dem der Volksrepublik leben müssen. Und so reagierten sie empfindlich, als Peking begann, die Angleichung an das politische System der Volksrepublik mit der Brechstange durchzusetzen, die Wahlerfolge demokratischer Parteien in den Distrikten bei der Besetzung der Regierungsposten ignorierte und sich über die britisch-chinesische Abmachung hinwegsetzte, ab 2017 freie Wahlen zuzulassen. Der Sprecher des chinesischen Außenministeriums erklärte die Vereinbarung zu einem »wertlosen Stück Papier«.

Hier war die Bundesregierung bereits einmal gefordert. Ray Wong und Alan Li, zwei Aktivisten der »Regenschirmbewegung« der Jahre 2014 und 2016, wurden wegen ihrer Forderung nach einem von China unabhängigen Hongkong angeklagt und setzten sich nach Deutschland ab. Die Bundesregierung gewährte ihnen Bleiberecht, sehr zum Missfallen Pekings, dessen Anhänger vor dem deutschen Generalkonsulat in Hongkong protestierten.

Hongkong, das Westberlin Asiens?

Im Jahr 2015 wurden fünf Hongkonger Buchhändler, deren kritisches Sortiment Pekinger Missfallen erregte, entführt und anschließend im Festlandsfernsehen mit »Geständnissen« ihrer »Schuld« vorgeführt. Vier Jahre später brachte die Regierungschefin Hongkongs, Carrie Lam, einen Gesetzentwurf ein, der dafür eine gesetzliche Grundlage schaffen sollte: Von den Behörden der Volksrepublik wegen dort strafbarer Vergehen gesuchte Hongkonger Bürger sollten künftig ausgeliefert werden können. Das war im Juni der Anstoß für die derzeitigen Proteste. Als Carrie Lam es ablehnte, den Gesetzentwurf auch nur zu diskutieren, fanden die Demonstrationen immer häufiger statt — selbst nachdem die Regierungschefin den Gesetzentwurf zurücknahm.

Als Angela Merkel Anfang September zu Regierungskonsultationen nach Peking reiste, blieb ihr nur der Appell, eine friedliche Lösung zu finden. Im selben Monat kam der Hongkonger Aktivist Joshua Wong auf Einladung der »Bild«-Zeitung zur Feier der Maueröffnung nach Berlin. Er stellte den Bezug zum blutigen Ende der Pekinger Protestbewegung vor 30 Jahren her und sagte: »Wenn wir in einem neuen Kalten Krieg sind, dann ist Hongkong das neue Berlin«. Die Kanzlerin empfing ihn nicht. Ignorieren konnte ihn die Regierung aber auch nicht. Die Lösung: Außenminister Heiko Maas schüttelte Wong am Rande einer Veranstaltung die Hand. Es war eine sorgfältig kalibrierte Wahrnehmung der Bedeutung der Proteste in Hongkong, ohne aber protokollarischen Aufwand damit zu verknüpfen. Peking verstand und protestierte nur verhalten gegen die »Respektlosigkeit«.

Erst als die gewalttätigen Aktivisten die Hongkonger Büros der staatlichen chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua stürmten, äußerte sich Staats- und Parteichef Xi Jinping zum ersten Mal persönlich. Im Gespräch in Shanghai versicherte er Carrie Lam seines Vertrauens darauf, dass sie Recht und Ordnung wiederherstellen werde. Damit machte er deutlich, wer letzten Endes der geeignete Sündenbock sein würde.

Abwarten ist keine Lösung

»Die deutsche Wirtschaft wird unruhig«, kommentierte der Geschäftsführer der deutschen Auslandshandelskammer in Hongkong, Wolfgang Niedermark. Wenn es schlimmer wird, würden die deutschen und andere westliche Firmen wegen der fehlenden Rechtssicherheit in der Volksrepublik nach Singapur ziehen. Also kein Grund zur Sorge für Deutschland? Im Gegenteil, und Schweigen ist nicht nur für Xi Jinping keine Lösung.

Für die Bevölkerung Festlandchinas mag es unvorstellbar sein, dass man sich in Hongkong Peking so geradeheraus widersetzt. Der Gedanke ist fremd, dass die Hongkonger, die nicht dem tagtäglichen Trommelwirbel staatlicher Propaganda Pekings ausgesetzt sind, völlig anders empfinden als Chinesen in der Volksrepublik. Alarmierend wäre es, wenn auch die Führung in Peking so wenig in der Lage wäre, Hongkong zu verstehen. Sollte die chinesische Volksbefreiungsarmee in einer Großstadt mit mehr als sieben Millionen Einwohnern so vorgehen wollen, wie seinerzeit auf dem Platz des Himmlischen Friedens, wäre ein langanhaltender Bürgerkrieg zu erwarten.

Das wäre fatal: für die Menschen in Hongkong, für China, für die Region und für alle Staaten, die an einem positiven Verhältnis zur Volksrepublik Interesse haben. Hier läge eine Chance für die chinaerfahrene Bundeskanzlerin, Xi Jinping davon zu überzeugen, dass Verständnis für Hongkong überlebenswichtig für alle Seiten ist.