In den Verhandlungen zwischen der Europäischen Union (EU) und dem Vereinigten Königreich (VK) über ihre zukünftigen Beziehungen ist der große Durchbruch bisher ausgeblieben. Bei Nichteinigung droht zum Ende des Jahres 2020 der »No (trade) deal Brexit«. Wirtschaftlich wird in diesem Fall mit massiven Einschnitten gerechnet, die politischen Folgen sind noch schwerer kalkulierbar. Mit dem ungeregelten Ende der Übergangszeit würden die Beziehungen zwischen der EU und der zweitgrößten Volkswirtschaft Europas nicht enden, sondern in eine neue Verhandlungsphase eintreten. Zwischen Blame Game, wirtschaftlichen Interessen und der Durchsetzung der eigenen Glaubwürdigkeit sollte die EU Maßnahmen vorbereiten, damit London an den Verhandlungstisch zurückkehrt.
Der politische Rahmen ist auf den ersten Blick bekannt: Das Vereinigte Königreich hat die EU zwar formell verlassen, befindet sich aber bis zum Jahresende in einer Übergangszeit. Bis dahin soll ein Abkommen über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem VK ausgehandelt worden sein, ansonsten besteht das Risiko eines Austritts ohne Handelsabkommen (No (trade) deal Brexit).
Die bisherigen Verhandlungen waren erwartungsgemäß zäh. Obwohl beide Seiten ihr Interesse an einem Handelsabkommen wiederholt bekundet haben, konnten die zentralen Widersprüche bislang nicht überbrückt werden. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Regeln für den fairen Wettbewerb (level playing field), der Fischerei sowie der institutionellen Strukturen zur Durchsetzung der Vereinbarung. Im September 2020 hat die britische Regierung die Verhandlungen zusätzlich belastet: Mit ihrem Gesetzentwurf zum britischen Binnenmarkt will sie Teile ihrer Verpflichtungen aus dem Nordirland-Protokoll aushebeln. Noch ist offen, ob sie erneut hoch pokert, am Ende aber wie 2019 größere Zugeständnisse macht, oder ob sie rhetorisch den Weg zu einem Scheitern der Verhandlungen ebnet. Anders als 2019 fehlen die innenpolitischen Schranken für Premierminister Boris Johnson, der seine Regierung auf einen harten Brexit ausgerichtet hat (s. SWP-Aktuell 14/2020). Trotz des Abnutzungseffekts ist es daher umso wichtiger für die EU, sich auch politisch auf einen No-Deal-Brexit einzustellen.
Der No-Deal-Brexit
Bei allen wirtschaftlichen Prognosen ist der No-Deal-Brexit das Szenario mit den stärksten negativen wirtschaftlichen Folgen für das Vereinigte Königreich, in begrenzterem Ausmaß auch für die EU‑27. Die Bank of England geht sogar davon aus, dass die Kosten eines No-Deal-Brexits für das Land langfristig höher wären als die Schäden, die die Covid‑19-Pandemie bisher angerichtet hat.
Dabei wäre der No-Deal-Brexit ein Tiefpunkt, aber kein Endstadium in den Beziehungen zwischen der EU und dem VK. Auf Grund der engen wirtschaftlichen Verflechtung und der geographischen Nähe würde auch nach einem Scheitern der Verhandlungen die zerrüttete Beziehung irgendwann geklärt werden müssen. Die politischen Umstände eines No-Deal-Brexits werden indes maßgeblich darüber mitentscheiden, wie schnell und zielgerichtet es nach einem Misserfolg gelingen kann, wieder konstruktive Verhandlungen aufzunehmen. Denkbar sind drei sehr unterschiedliche Szenarien.
Szenario 1: Freundlicher No Deal
Das erste Szenario ist ein einvernehmlicher No-Deal-Brexit mit nahtloser Fortsetzung der Verhandlungen auf Basis des aktuellen Entwurfs. Auch in diesem Fall verlässt das VK zum 1. Januar 2021 den Binnenmarkt und andere Politiken der EU, was die Wiedereinführung von Zöllen, Grenzkontrollen und mehr bedeutet. Die Übergangsphase kann nicht mehr verlängert werden.
Beide Seiten einigen sich jedoch darauf, die negativen Konsequenzen des No-Deal-Brexits durch unilaterale Maßnahmen so weit wie möglich zu reduzieren, beispielsweise durch Äquivalenz-Beschlüsse der EU für britische Finanzdienstleister und gegenseitige Anerkennung von Standards. London setzt seine Verpflichtungen aus dem Austrittsabkommen in Bezug auf Nordirland vollständig um, was für nunmehr tatsächlich notwendige Zollkontrollen in der Irischen See relevant ist.
Auf dieser Basis werden die noch offenen Streitpunkte in den kommenden Monaten ausgeräumt und ein umfassendes Handelsabkommen abgeschlossen. In dieser Zeit erklärt sich die EU dazu bereit, schon verhandelte Teile wie etwa zum Verkehr als Einzelverträge vorzuziehen. In der Außen- und Sicherheitspolitik bleibt London angesichts dieser zwar nicht folgenlosen, aber dennoch freundlichen Trennung ein enger Partner. In Fragen der Klimapolitik entsteht ein neues Dreieck zwischen der US-Administration unter Joe Biden, der EU und dem Vereinigten Königreich.
Insgesamt gelingt es in diesem Szenario, den Schaden eines No-Deal-Brexits zum Teil auf die Einschnitte zu begrenzen, die es auch mit einem Handelsabkommen gegeben hätte. Gleichzeitig sehen sich die Brexit-Befürworter in ihrer Herangehensweise vollauf bestätigt. Am Ende reicht das Gewicht Großbritanniens aus, damit alles unternommen wird, um die Folgen des No‑Deal-Brexits abzufedern. Die EU ist nicht nur auf die britischen Drohgebärden eingegangen, sondern hat dem Vereinigten Königreich weitreichende Zugeständnisse gemacht, ohne auf den geforderten Verpflichtungen zu beharren. Das weckt Begehrlichkeiten in anderen nahen Drittstaaten wie der Schweiz, ebenso bei EU-skeptischen Parteien etwa in den Niederlanden.
Szenario 2: Erwachsener No Deal
Das zweite Szenario ist ein folgenschwerer No-Deal-Brexit: Da keine Lösung für die bestehenden Differenzen gefunden wird, zieht einer der beiden Verhandlungspartner die Reißleine, als das Ende der Übergangsphase näherrückt. Danach machen sich allerdings beide Seiten zügig daran, die Beziehungen wieder zu verbessern.
Zum 1. Januar 2021 werden Zölle und weitere Handelsbeschränkungen aktiv. Unilateral beschließt die EU begrenzte Maßnahmen, um einzelne exponierte Sektoren zu schützen; ansonsten gelten für Großbritannien die gleichen Handelsbedingungen wie für Drittstaaten ohne jegliche Vereinbarungen mit der EU. Die vorausgesehenen Konsequenzen treten ein – unter anderem tagelange Staus in Kent und Dover, hohe Kosten für Unternehmen mit britisch-europäischen Lieferketten, Engpässe bei Gütern mit kurzen Lieferzeiten, Verzögerungen und Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Medizinprodukten.
Die britische Regierung beschuldigt erwartungsgemäß die EU für die negativen Folgen und das Scheitern der Verhandlungen, kommt aber relativ bald wieder an den Verhandlungstisch. Die EU signalisiert ihre Bereitschaft, im Falle einer Wiederaufnahme der Verhandlungen schrittweise unilaterale Maßnahmen zu erlassen, um die Konsequenzen des No-Deal-Brexits für das Vereinigte Königreich abzumildern – bleibt jedoch bei ihren Kernforderungen für ein Handelsabkommen. Im Verlauf des Jahres 2021 gelingt es, ein verändertes Handelsabkommen zu vereinbaren.
Angesichts der schnellen Rückkehr an den Verhandlungstisch nimmt die außenpolitische Kooperation zwischen Berlin und London keinen dauerhaften Schaden. In Bezug auf das Atomabkommen mit dem Iran kann beispielsweise die Einheit der E3 (Deutschland, Frankreich, VK) aufrechterhalten werden. Nicht zuletzt wegen des Drucks der Biden-Administration in Washington setzt London nach anfänglichem Zögern seine Verpflichtungen hinsichtlich Nordirland vollständig um.
Szenario 3: Eskalierender No Deal
Die bisherige Brexit-Politik der Regierung Johnson lässt indes daran zweifeln, ob sie nach einem folgenschweren No‑Deal-Brexit zeitnah neuen Verhandlungen zustimmt. Dagegen sprechen das britische Selbstverständnis als globale Macht; das Narrativ der Brexiteers, die EU habe sich im Austrittsabkommen zu einem freigiebigen Handelsabkommen verpflichtet und würde nun in »bad faith« verhandeln; schließlich die Anschuldigungen gen Brüssel, die EU gefährde die territoriale Integrität des Vereinigten Königreichs. Daher besteht nur ein sehr schmaler Grat zwischen einer Rückkehr an den Verhandlungstisch und eskalierenden Spannungen, bei denen sich London und Brüssel gegenseitig Vertragsbruch und feindseliges Verhalten vorwerfen. Denn gemessen an ihren Versprechungen für den Brexit wird die Regierung Johnson die Verantwortung für alle negativen Folgen des No-Deal-Brexits der EU zuweisen müssen; damit Brüssel sie abfedert, wird London mit weiteren Konsequenzen drohen. Das dritte Szenario wäre also ein eskalierender No-Deal-Brexit.
Welche eskalierenden Mittel stünden der britischen Regierung im Extremfall zur Verfügung? Als wirtschaftlich kleinerer Partner dürfte sie Droh- und Druckpotential in Bereichen suchen, in denen das VK aus ihrer Sicht der EU schaden und / oder die EU‑27 auseinandertreiben könnte. Wie der Konflikt um das britische Binnenmarktgesetz zeigt, könnte dies erstens auf eine Nichtumsetzung des Nordirland-Protokolls hinauslaufen. EU-Binnenmarkt und Zollunion hätten dann eine nicht geschützte Außengrenze. Die EU müsste entscheiden, ob sie zum Schutz ihrer Außengrenzen doch noch ihr Mitglied Irland verpflichtet, an der Grenze zu Nordirland zu kontrollieren oder sogar zwischen Irland und dem Rest des EU-Binnenmarktes – ein Szenario, das die irische Regierung um jeden Preis verhindern will. London könnte auch versuchen, andere einzelne EU-Staaten unter Druck zu setzen, etwa durch Sperrung seiner Gewässer für französische Fischerboote.
Zweitens könnte die britische Regierung Druck aufbauen, indem sie sich weigert, die mit dem Austrittsabkommen akzeptierten Verpflichtungen für den EU-Haushalt zu erfüllen. Nach Lesart meinungsführender Brexiteers seien diese nämlich politisch verknüpft mit der Aussicht auf einen Handelsvertrag. Für die EU wäre diese Drohung allerdings weniger folgenreich – die größten Zahlungen für den bis Ende 2020 laufenden EU-Finanzrahmen sind bereits geleistet worden, die noch ausstehende Summe könnte die EU‑27 auffangen.
Kritischer wären hingegen mögliche Spillover-Effekte in der Außen- und Sicherheitspolitik. Trotz des Brexits ist das Vereinigte Königreich seit 2016 etwa in den E3 ein enger Partner Deutschlands geblieben, selbst da, wo die US-amerikanische Politik unter Präsident Trump eine deutlich andere Position eingenommen hat. Sowohl Theresa May als auch Boris Johnson haben bewusst darauf verzichtet, die bi- und multilateralen Sicherheitsbeziehungen mit den Brexit-Verhandlungen zu vermischen. Ein No-Deal-Brexit, bei dem London die EU für alle damit verbundenen wirtschaftlichen Schäden verantwortlich machen muss, kann diese Beziehungen stark belasten. Angesichts der klaren Unterstützung des künftigen US-Präsidenten Biden für multilaterale Formate und den Nordirland-Friedensprozess ist diese Vorgehensweise aber für Johnson politisch risikoreicher geworden.
Handlungsoptionen für Europa
Noch verbleiben wenige Tage, um ein Post-Brexit-Abkommen vor Ende der Übergangsphase abzuschließen. Doch auch bei einem No‑Deal-Brexit bleibt rational betrachtet das Interesse an einer intensiven Partnerschaft zwischen der EU und dem VK hoch – wegen der engen wirtschaftlichen Verflechtung, gemeinsamer Interessen und Werte, der kulturellen und persönlichen Beziehungen. Vier Jahre Brexit-Verhandlungen haben jedoch gezeigt: Bei dieser schmerzhaften Trennung hat die ökonomische oder politische Vernunft den britischen Kurs nur selten bestimmt.
Die Gegenüberstellung der drei möglichen No-Deal-Szenarien unterstreicht, dass selbst ein Scheitern dieser Verhandlungen nicht das Ende, sondern nur eine neue Phase der Brexit-Saga einleiten würde. In diesem Fall sollte das europäische Interesse darin liegen, auf das Einhalten des Austrittsabkommens zu drängen und möglichst schnell wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Denn weder kann eine rein »freundliche Trennung« im Sinne der EU sein, bei der die Folgen des No-Deal-Brexits trivialisiert würden, noch eine Eskalation, die das Vereinigte Königreich und die EU voneinander entfremden und tiefe Narben hinterlassen würde.
Die politische Gefahr besteht freilich darin, dass der Grat zwischen »Erwachsenem No Deal« und weiterer Eskalation nicht nur schmal ist, sondern hauptsächlich von der britischen Reaktion auf den No-Deal-Brexit abhängt. Dabei bleiben die Möglichkeiten der Briten, eine Eskalation herbeizuführen, jedoch beschränkt.
Drei Mittel können der EU helfen, ihre Interessen nach einem No-Deal-Brexit zu behaupten: Erstens sollte sie die Mitgliedstaaten neben der wirtschaftlichen Planung gleichermaßen politisch auf das No-Deal-Szenario einstellen, um die Einheit der EU‑27 zu bewahren. Dies ist unter anderem Aufgabe der deutschen Ratspräsidentschaft.
Zweitens braucht die EU im Falle eines No-Deal-Brexits eine effektive Strategie für die englischsprachige politische Kommunikation. Scheitern die Verhandlungen, wird die Weltöffentlichkeit vor allem auf englischsprachige Medien schauen. Die Regierung Johnson wird alle negativen Folgen der EU zuschreiben. Hier gilt es, auch und gerade in englischsprachigen Medien die Sichtweise und die weiterbestehende Verhandlungsbereitschaft der EU zu kommunizieren.
Drittens könnte es bei einem erfolglosen Ende der aktuellen Verhandlungen paradoxerweise im Interesse der EU sein, wenn erstmals die großen Mitgliedstaaten in die Verhandlungen eingreifen. Die EU ist bisher auch deshalb so geeint gegenüber London aufgetreten, weil die großen Länder die Verhandlungsführung allein Brüssel überlassen haben. Bei einem eskalierenden No-Deal-Brexit aber sollten Berlin und Paris – am besten in Zusammenarbeit mit Biden – deutlich machen, dass sie zum einen klar hinter der Position der EU stehen und dass zum anderen weitere Eskalationen der Briten deren bilaterales Verhältnis zu ihnen negativ beeinflussen würden. Denn während die EU als Sündenbock herhalten muss, wollen auch die Brexiteers weiterhin eng mit Berlin und Paris kooperieren. Dieses Interesse und die noch bestehenden Brücken sollte man nach einem No-Deal-Brexit nutzen, um London für neue Verhandlungen zu gewinnen.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.
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doi: 10.18449/2020A94