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Das neue EU-Migrations- und Asylpaket: Befreiungsschlag oder Bankrotterklärung?

SWP-Aktuell 2020/A 78, 25.09.2020, 4 Pages

doi:10.18449/2020A78

Research Areas

Am 23. September 2020 hat die Europäische Kommission ihren lange erwarteten Ent­wurf eines neuen Migrations- und Asylpakets vorgelegt, das die seit Jahren andauernde Blockade in diesem Politikfeld überwinden soll. Zentrale Elemente sind die geplanten Vorprüfungen von Asylverfahren an den EU-Außengrenzen und eine neue Arbeitsteilung unter den Mitgliedstaaten, die künftig die Wahl haben zwischen der Aufnahme von Schutzsuchenden und der Rückführung abgelehnter Asylbewerber. Die menschenrecht­lichen Risiken, die diesen Neuerungen anhaften, sind immens. Da dies aber – wie die Lage auf den griechischen Inseln zeigt – auch für den Status quo gilt, ist das Für und Wider des Reformvorschlags sorgfältig abzuwägen. Eine Unterstützung des Reform­pakets lässt sich nur rechtfertigen, wenn die von der Kommission angestrebte Kopp­lung restriktiver und schutzorientierter Elemente in den zwischenstaatlichen Ver­handlungen beibehalten wird.

Seit der großen Flüchtlingszuwanderung im Jahr 2015 sind die Fronten in der EU ver­härtet: Die Asylsysteme der Länder an den südlichen EU-Außengrenzen – allen voran Griechenlands – sind chronisch überlastet; die Regierungen fordern daher eine solida­rische Verteilung der Neuankömmlinge in der EU. Dagegen lehnen die vier osteuro­päischen Visegrád-Staaten ebenso wie Öster­reich eine verpflichtende Verteilung von Asylsuchenden oder anerkannten Flücht­lingen kategorisch ab. Die Regierungen der übrigen EU-Mitgliedstaaten stehen innen­politisch unter Druck und beharren daher auf einer gesamteuropäischen Verteilung, um eine langfristig tragfähige Lösung zu erreichen. Die verheerenden Folgen dieser Blockadesituation sind wohlbekannt: Im Jahr 2020 kam es zu einem temporären Aussetzen des griechischen Asylrechts, zu rechtswidrigen Pushbacks auf offener See und einer so drastischen Unterschreitung humanitärer Standards in griechischen Erst­aufnahmelagern, dass der Brand in Moria wie eine unvermeidbare Konsequenz wirkte.

Dieser dysfunktionalen Gemengelage ver­sucht die Kommission mit einem »großen Wurf« zu begegnen. Ihr Reformvorschlag umfasst ein umfangreiches, komplexes Bün­del an Mitteilungen und Gesetzesvorschlägen, an dem das Bemühen zu erkennen ist, weit auseinanderklaffende Positionen zu berücksichtigen. Die Kommission zeichnet dabei das Bild eines dreistufigen Gebäudes, wobei eine weitergehende Kooperation mit Drittstaaten und eine verstärkte EU-Außen­grenzsicherung das Volumen an Asylgesuchen verringern und damit eine Lösung der bislang schwierigsten Frage erleichtern soll: der Verteilung von Asylsuchenden und an­erkannten Flüchtlingen innerhalb der EU. Politisch zentral ist ein neuer Interessen­ausgleich, mit dem das vermeintlich Un­vereinbare zusammengebracht werden soll: Angestrebt wird eine gemeinschaftliche Verpflichtung aller Mitgliedstaaten, die gleichzeitig die Erstaufnahmeländer phy­sisch entlastet und den Visegrád-Staaten garantiert, dass sie keine Flüchtlinge aus anderen EU-Mitgliedsländern aufnehmen müssen. Schlüssel hierzu ist die Umdeutung der Rückführung abgelehnter Asyl­bewerber und irregulärer Migranten in einen Akt europäischer Solidarität. Alle Details des umfangreichen Reformpakets ordnen sich dem Anliegen unter, die Gesamtlast der Asylgesuche schon an den Außengrenzen zu reduzieren und die Beteiligung an der Bewältigung des Restaufkommens so zu gestalten, dass jede Regierung innerhalb der EU ihren Beitrag mit ihren politischen Grund­überzeugungen vereinbaren kann.

Kernelemente dieses Ansatzes sind (1) die Vorprüfung von Asylgesuchen an den EU-Außengrenzen, (2) die Einführung eines mehr­stufigen Solidaritätsmechanismus, der unterschiedliche Belastungssituationen be­rücksichtigt, und (3) die Europäisierung von Rückführungen inklusive des Aufbaus einer komplexen institutionellen Infrastruktur.

Vorprüfung und Beschleunigung von Asylanträgen

Die EU-Kommission will Verhältnisse wie im Lager von Moria durch eine massive Beschleunigung aller Verfahren vermeiden. Alle Asylsuchenden und irregulären Migran­ten sollen laut dem Vorschlag einer so­genannten »Screening«-Verordnung binnen fünf Tagen registriert und medizinisch un­ter­sucht werden. Zusätzlich soll durch den Ausbau europäischer Datenbanken (insbe­son­dere von EURODAC) die Identifizierung von Einreisenden verbessert werden. Zu­gleich ist eine Vorsortierung in aussichts­reiche und wenig aussichtsreiche Asylanträge geplant. Für Asylsuchende aus Herkunftsländern, deren Asylanerkennungsraten un­ter 20 Prozent liegen, sollen beschleu­nigte Verfahren verpflichtend sein und in maxi­mal 12 Wochen abgeschlossen werden. Bis dahin wird die Einreise verweigert, was im Falle einer Ablehnung zu einer zeitnahen Rückführung binnen weiterer 12 Wochen führen soll.

Die Kommission überlässt es den Mitgliedstaaten, ob sie Asylsuchende während des Screenings, des beschleunigten Asyl­verfahrens und vor der Rückführung in geschlossenen Lagern unterbringen. Insge­samt können sich dabei Aufenthaltszeiten von bis zu einem halben Jahr ergeben. Daher ist die Sorge berechtigt, dass – wie derzeit auf den griechischen Inseln – neue große und auf langfristigen Aufenthalt angelegte Lager entstehen könnten, mit allen bekann­ten Herausforderungen für die Wahrung der Menschenrechte der Betroffenen. Zu­sätzlich bestehen starke Zweifel, ob rechts­staatliche Prinzipien in beschleunigten Grenzverfahren gewährleistet werden kön­nen, etwa das Recht, gegen Asylbescheide effektive Rechtsmittel einzulegen. Zumindest schlägt die EU-Kommission aber als Element der Screening-Verordnung einen unabhängigen »Monitoring-Mechanismus« in den jeweiligen Mitgliedstaaten vor, mit dem die Einhaltung von Grundrechten bei diesem Verfahren überwacht werden soll. Zudem sollen besonders schutzbedürftige Personen wie unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Regel von dem Verfahren ausgenommen werden.

Neuer Verteilungsmechanismus

Die seit Jahren umstrittene und dysfunktio­nale Dublin-Verordnung, die die Zuständig­keit für Asylverfahren regelt, soll abgeschafft werden. An ihrer Stelle ist eine um­fas­sende neue Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement geplant, die nicht nur die Zuständigkeit für Asylverfahren regelt, sondern auch einen neuen Solidaritäts­mechanismus vorsieht.

Dabei sollen nach wie vor die Staaten an den EU-Außengrenzen primär für die Be­arbeitung der Asylgesuche verantwortlich sein, wie schon in der Dublin-Verordnung. Entsprechende Zuständigkeitsfristen will man verlängern, die Definition der Fami­lienzugehörigkeit, nach der schon jetzt ein anderes Land zuständig ist als das Erst­ankunftsland, soll nun auf Geschwister ausgeweitet werden.

Der neue Kommissionsvorschlag zielt im Kern auf ein komplexes System der Lasten­teilung, an der sich je nach Ankunftszahlen die Mitgliedstaaten in unterschiedlicher Weise beteiligen können oder müssen. Für den »Normalzustand« plant die Kom­mission auf jährlicher Basis mit einem frei­willigen Kontingent von Plätzen zur inner­europäischen Verteilung, das primär See­not­rettungsfällen vorbehalten werden soll. Stehen einzelne Ankunftsstaaten unter »erhöhtem Druck«, sollen sich alle anderen Mitgliedstaaten nach einem EU-weiten Schlüssel (der die Größe der Bevölkerung und des Bruttoinlandsprodukts der Länder berücksichtigt) mit unterschiedlichen Bei­trägen beteiligen, wobei gewisse Unterschreitungen dieser Quote erlaubt werden. Wer keine voraussichtlich Schutzberechtigten oder anerkannten Flüchtlinge aufnimmt, kann Leistungen zur Unterstützung von Rückführungen (»Rückführungspatenschaf­ten«, siehe unten) oder andere Sachhilfen zum Migrationsmanagement beisteuern.

Die Kommission soll sicherstellen, dass länderübergreifend die jeweils erforderliche Mischung an Unterstützungsmaßnahmen gewährleistet ist. Allerdings werden erst in der dritten Stufe einer systemischen Krise wie im Jahr 2015 alle Mitgliedstaaten ver­pflichtet, an der Umverteilung oder Rück­führung mitzuwirken. Letztlich ist es ein politischer Entschluss, eine solche Krise festzustellen, wie das auch die nie genutzte alte »Massenzustromrichtlinie« (2001/55/EG) vorsah, die nun ersetzt werden soll.

Dieses komplexe Modell soll eine sowohl »permanente« als auch »flexible« Solidarität garantieren. Die Annahme, dass sich das praktisch umsetzen lässt und von den Mit­gliedstaaten unterstützt wird, beruht bisher aber nur auf der Hypothese, dass alle Betei­ligten an einem Kompromiss interessiert sein sollten, weil sämtliche anderen Ansätze zur regelmäßigen Lastenteilung gescheitert sind.

Europäisierung der Rückführung

Seit der Covid-19-Krise und angesichts der jüngsten Ereignisse in Moria hat die Bereit­schaft vieler EU-Mitgliedstaaten nochmals nachgelassen, sich für eine Übernahme von Flüchtlingen aus den Außengrenzstaaten zu engagieren. Dies erklärt auch, warum sogenannte »Rückführungspatenschaften« als neues Instrument eingeführt werden sollen. Hierbei sollen sich Mitgliedstaaten ver­pflichten, die Verantwortung für kon­krete Personen zu übernehmen, die in belas­teten Erstankunftsstaaten einen rechtsgülti­gen Ausweisungsbescheid erhalten haben. Entscheiden sich Staaten für diese Art der Beteiligung, übernehmen sie damit Ver­antwortung für die Koordination mit den Herkunftsstaaten.

In diesem Kontext sind die Mitglied­staaten aufgefordert, ihre bilateralen Ein­fluss­möglichkeiten zu nutzen, um Dritt­staaten zu Vereinbarungen über eine ver­bes­serte Rückübernahmekooperation mit allen EU-Mitgliedstaaten zu bewegen. Das würde auch Maßnahmen ermöglichen, die in natio­nale Zuständigkeit fallen. Zusätzlich will die EU-Kommission einen »Koordinator für Rückführungen« bestellen. Sollte die Rück­führung von Personen ohne Aufenthalts­recht binnen acht Monaten (in Krisensitua­tionen sechs Monaten) nicht gelingen, ist der Mitgliedstaat verpflichtet, diese Person aufzunehmen – was letztlich einer Umver­teilung »durch die Hintertür« gleichkommt.

Unklar ist, wie mit Personen verfahren werden soll, deren Identität sich nicht klä­ren lässt, und welche Methoden einzelne Mitgliedstaaten anwenden werden, um Herkunftsländer zu bewegen, bei der Rück­übernahme ihrer Staatsangehörigen zu kooperieren. Ein noch härteres Vorgehen als bisher könnte die Wirksamkeit, Legiti­mität und Nach­haltigkeit der EU-Migra­tionsaußenpolitik erheblich beschädigen.

Die Zukunft des Reformpakets

Nach ersten kritischen Stellungnahmen der Visegrád-Staaten ist ein gesamteuropäisches Stimmungsbild zu den geplanten Reformen am 8. Oktober 2020 beim Treffen des Rats der EU-Innen- und Justizminister zu erwar­ten. Parallel zu den Verhandlungen über das Paket verfolgt die EU-Kommission ein Pilotprojekt, das die Vorzüge des geplanten Ansatzes illustrieren und Zweifel an seiner Machbarkeit zerstreuen soll: Sie hat die Bildung einer Task Force angekündigt, die gemeinsam mit der griechischen Regierung eine stärker gemeinschaftlich geführte Erst­aufnahmeeinrichtung auf Lesbos aufbauen soll. Sie soll das abgebrannte Lager in Moria ersetzen und eine adäquate Unterbringung und Registrierung von Asylsuchenden gewährleisten.

Ob dies ausreicht, um die Unterstützung der Mitgliedstaaten für eine umfassende Umsetzung des Reformpakets zu gewinnen, bleibt zweifelhaft: Die Gefahr ist groß, dass sie sich wie in der Vergangenheit ausschließlich auf restriktive Maßnahmen einigen. In diesem Falle würde sich die gemeinsame Politik letztlich auf weitere Verschärfungen der Außengrenzkontrollen und eine zusätz­liche Reduzierung der irregulären Migra­tion beschränken. Damit wäre der Status quo zementiert. Bestenfalls würde sich wie zuvor eine kleine Koalition »williger« Mit­gliedstaaten im minilateralen oder bilate­ralen Rahmen darum bemühen, die huma­nitäre Katastrophe auf den griechischen Inseln, auf dem dortigen Festland und in den zahlreichen anderen Aufnahmelagern entlang der Balkanroute zu lindern und die Erstaufnahmeländer außerhalb der EU, ins­besondere die Türkei, angemessen zu unter­stützen. Dies dürfte dann Deutschland in besonderer Weise fordern.

Das Potential des Kommissionsvorschlags liegt daher explizit in seinem Charakter als Paketlösung, in der restriktive und schutz­orientierte Elemente aneinander gekoppelt sind. Dies führt zwar zu einer ungemein komplexen Gesamtkonstellation, deren Ver­handlung ebenso eine politische und insti­tutionelle Mammutaufgabe ist wie die Um­setzung der vorgesehenen Maßnahmen. Letztlich bietet dies derzeit aber die einzige Hoff­nung auf einen substanziellen Fort­schritt in der europäischen Asyl- und Migra­tionspolitik, bei dem sich Pragmatismus und Werteorientierung die Waage halten. Angesichts dessen sollte ein »Aufschnüren« des Pakets unbedingt verhindert werden.

Gleichwohl bleiben zahlreiche Fragen offen: Wie lässt sich gewährleisten, dass die geplanten Asylvorprüfungen, Erstaufnahme­einrichtungen und Rückführungen men­schenrechtskonform gestaltet werden? Wel­che Instrumente hätte die Kommission nach Annahme der Gesetzesänderungen, Mitglied­staaten zu sanktionieren, die nicht umset­zungswillig sind? Wie kann sichergestellt werden, dass die für das kommende Jahr an­gekündigten Vorschläge zur Reform legaler Migration – die für eine Reduzierung der irregulären Migration und für echte Part­nerschaften mit Herkunfts- und Transitlän­der von überragender Bedeutung wären – nicht in den Hintergrund rücken?

Die dem Kommissionsvorschlag zugrundeliegende Absicht, eine Brücke zwischen den eher migrationsoffenen und den migra­tions­skeptischen Mitgliedstaaten zu schla­gen, ist zu begrüßen. Das gilt allerdings nur dann, wenn die von der Kommission an­gestrebte Kopplung restriktiver und schutzorientierter Elemente in den anste­henden zwischenstaatlichen Verhandlungen beibehalten wird. Nur so ließe sich eine ein­seitige Fokussierung auf Abschreckung ver­hindern, die zweifellos mit weiteren schwerwiegenden Grundrechtsverletzungen einherginge.

Dr. Steffen Angenendt ist Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen, Nadine Biehler und Dr. Anne Koch sind Wissenschaftlerinnen, David Kipp Wissenschaftler dieser Forschungsgruppe. Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler der For­schungsgruppe EU / Europa. Das Aktuell wurde verfasst im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam­menarbeit und Entwicklung geförderten Projekts »Flucht, Migration und Entwicklung – Herausforderungen und Hand­lungsmöglichkeiten für deutsche und europäische Politik«.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364