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Frühtod eines Abkommens? Das EU-Mercosur-Abkommen droht an fehlendem Vertrauen zu scheitern

Kurz gesagt, 16.10.2020 Research Areas

Seit 20 Jahren verhandeln die EU und der südamerikanische Staatenbund Mercosur über ein Handelsabkommen. Nun ist der Aufbau der weltgrößten Freihandelszone zunächst einmal zurückgestellt. Es gäbe nur einen Weg, das Abkommen noch zu retten, meint Günther Maihold.

Es war eine Vereinbarung, die der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beim G20-Gipfel 2019 als historisch bezeichnete. Die EU und die Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay wollten die weltweit größte Freihandelszone mit rund 800 Millionen Einwohnern schaffen. Das bislang umfangreichste von der EU vereinbarte Abkommen sollte jährlich Zollabgaben in Höhe von vier Milliarden Euro einsparen. Nun wurde der Handelsvertrag nach 20 Jahren Verhandlungen zwischen der EU und dem südamerikanischen Staatenbund auf Eis gelegt. Das Europäische Parlament hat am 7. Oktober mit 345 zu 295 Stimmen deutlich gemacht, dass es das EU-Mercosur-Freihandelsabkommen in seiner jetzigen Fassung nicht für annahmefähig hält.

Ohnehin hat sich gegen den Vertrag mittlerweile eine breite Front gebildet: Neben die europäischen Agrarlobbyisten, die billige Konkurrenz aus Brasilien und Argentinien fürchten, sind die Verteidiger des Amazonas-Regenwalds getreten. Sie bemängeln die im Handelsvertrag fehlenden Sanktionen bei Verstößen gegen das Pariser Klimaabkommen und wollen eine Vertragsformulierung, die eine Aussetzung des Abkommens ermöglicht, wenn Umwelt- und Klimaregeln missachtet werden. Im Vertrag soll diese Schutzbestimmung der Achtung der Menschenrechte und der Wahrung der Demokratie rechtlich gleichgestellt werden.

Widerstand auf nationaler und europäischer Ebene

Daneben haben die Parlamente in Österreich, den Niederlanden und der belgischen Region Wallonie mit ihrer Ablehnung bereits Pflöcke eingerammt, die eine Ratifizierung durch die Parlamente der EU-Mitgliedstaaten wenig aussichtsreich erscheinen lassen. Auch die deutsche Bundeskanzlerin hat »ernste Zweifel« angemeldet, so dass davon auszugehen ist, dass der Vertrag in seiner jetzigen Fassung nicht nur im Europäischen Parlament, sondern auch bei den Mitgliedstaaten und im Europäischen Rat nicht mehrheitsfähig ist.

Im Zentrum der Kritik steht dabei insbesondere die Umweltpolitik des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, die zu massiven Bränden im Amazonas geführt hat. Die französische Regierung sprach sogar davon, dass es um die »Disziplinierung der Praktiken der Mercosur-Länder« gehe, um fortschreitende Entwaldung, die weitere Ausdehnung der Flächen für Rinderzucht sowie Verlust an Biodiversität und negative Klimafolgen zu verhindern. Brasilien beharrt derweil auf seine nationale Souveränität über den Amazonas. Hinter den Protesten gegen seine Politik vermutet Bolsonaro eine Verschwörung europäischer und brasilianischer NGOs. Nicht zuletzt würden sich dahinter protektionistische Interessen Europas, insbesondere der französischen Agrarlobby, verbergen.

Demgegenüber sind die Stimmen von Unterstützern des Handelsvertrages auf beiden Seiten des Atlantiks gegenwärtig kaum zu vernehmen. Vor allem Unternehmerverbände sowie die Regierungen Paraguays und Uruguays sprechen sich nach wie vor für die Vereinbarung aus, während Argentiniens Regierung angesichts der Verwerfungen der Corona-Krise und der leeren Staatskassen eine distanzierte Loyalität zum Vertragsentwurf zeigt, da sie eine Marktöffnung eher kritisch einschätzt. Doch reichen Verlautbarungen mit Unterstützungserklärungen nicht aus, wenn die weltweit größte Freihandelszone geschaffen werden soll.

Ein ernsthafter Dialog erfordert vertrauensbildende Maßnahmen

Heute stehen die Vertragsparteien vor der Alternative, entweder das Abkommen nachzuverhandeln oder ganz aufzugeben. Letzteres wäre sicherlich die schlechteste Option, da Europa ohne Abkommen noch weniger Einfluss auf die Umweltpolitik in den Mercosur-Staaten nehmen könnte. Zudem würde die Region vollkommen China als wichtigstem Handelspartner überlassen. Die EU würde sich damit in Lateinamerika insgesamt aus dem Spiel nehmen, nicht zuletzt auch mit Hinblick auf die gleichzeitig zur Ratifizierung vorliegende Modernisierung des Handelsabkommens mit Mexiko, bei der vergleichbare Vorbehalte hinsichtlich ungenügender Umsetzung von Rechtsstaats- und Umweltstandards zu erwarten sind.

Allerdings könnten als Rückfallposition bilaterale Einzelvereinbarungen mit den Partnerländern des Mercosur angestrebt werden. Der jetzt vorliegende Text des Vertrages könnte als Vorlage dienen, um schnell zu Vereinbarungen zu gelangen, die eine Inhaftnahme der Nachbarländer Brasiliens für Bolsonaros verfehlte Umweltpolitik vermeiden würden. Indes stehen dieser Option die bisherige Präferenz der EU-Kommission für einen regionalen Zuschnitt bei Freihandelsabkommen entgegen, wie auch Mercosur-interne Regelungen, die keine individuellen Freihandelsabkommen gestatten. Gegenwärtig scheint es keine Bereitschaft zu geben, diese Positionen aufzugeben und die bestehenden Hindernisse zu beseitigen.

So bleibt letztlich nur die Option, die Partner in Lateinamerika zu Zugeständnissen in den Umweltfragen zu bewegen – etwa in Anlehnung an die gemeinsame Erklärung, die die EU und Südkorea zur Ergänzung ihres Freihandelsabkommens mit Bezug auf arbeitsrechtliche Regelungen abgegeben haben. Indes scheint auch dieser Weg verstellt: Die Verlässlichkeit der Partner, dass vertragliche Regelungen eingehalten werden, steht in Frage, wenn diese nicht mit Sanktionen versehen sind. Den Regierungen in Buenos Aires, Brasilia, Paris und Berlin fehlt es an gegenseitigem Vertrauen. Daher sind sie gegenwärtig nicht bereit, politische Kosten für eine Verabschiedung des Abkommens zu übernehmen – oder befürchten einen Gesichtsverlust bei möglichen Nachverhandlungen einer verpflichtenden Umweltklausel. Notwendig sind daher von beiden Seiten vertrauensbildende Maßnahmen, die bestehende Animositäten ausräumen und Grundlagen für einen ernsthaften Dialog schaffen, bevor sich das politische Panorama mit den Wahlen in Deutschland (2021) und Frankreich (2022) wieder neu konstituiert. Es gibt nur ein kurzes Zeitfenster, das für politische Initiativen genutzt werden sollte.