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Die Ukraine unter Präsident Selenskyj

Entwicklung hin zum »populistischen Autoritarismus«?

SWP-Aktuell 2022/A 09, 04.02.2022, 8 Seiten

doi:10.18449/2022A09

Forschungsgebiete

Ende 2021 hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Hälfte seiner ersten Amtsperiode absolviert. Der klare Sieg bei der Präsidentschaftswahl 2019 und die absolute Parlamentsmehrheit seiner Partei »Diener des Volkes« hatten dem poli­tischen Quereinsteiger gute institutionelle Startbedingungen für seine ambitionierte Agenda verschafft. Zweieinhalb Jahre später hat sich das Bild indes stark gewandelt. Immer lauter wird die Kritik der Opposition, Selenskyj arbeite an einer autoritären »Machtvertikale«. Zugleich steht der Präsident in offener Konfrontation mit dem mächtigsten Oligarchen, der Justiz, einflussreichen Lokalfürsten und den Medien des Landes. Welche Grundzüge bestimmen Selenskyjs Herrschaft, und was bedeutet dies für das politische System? Selenskyj hat seine eigene Unerfahrenheit und die Komplexität des Systems unterschätzt. Zwar droht der Ukraine dadurch kein Rück­fall in den Autoritarismus. Doch gerade angesichts der außenpolitischen Lage ist die schnell wachsende innen­politische Instabilität besorgniserregend.

Wolodymyr Selenskyj gewann die Präsident­schaftswahl 2019 mit einer dezidiert gegen das politische »Establishment« gerichteten Kampagne. Er hatte verkündet, den Krieg in der Ost­ukraine zu beenden und vor allem die wirtschaftliche Erholung voranzutreiben sowie die Korruption zu bekämpfen. Diese Pläne sprachen die »schweigende Mehrheit« an, also diejenigen Ukrainer, die sich mit der Losung »Armee, Sprache, Glaube« des dama­ligen Präsidenten Petro Poroschenko nicht identifizieren konnten. Selenskyjs Absichten trugen ihm allerdings auch die Fundamentalkritik eines Teils der ukrainischen Gesellschaft ein. Dabei handelt es sich um eine heterogene Allianz aus demo­kratisch-progressiven Vertretern der Zivil­gesellschaft, patriotischen Intellektuellen und Kulturschaffenden sowie Nationalisten. Dieses nur auf der Ablehnung Selenskyjs beruhende Bündnis wird als »die 25%« bezeichnet, was ungefähr dem Anteil der Stimmen entsprach, die im zweiten Wahl­gang gegen Selenskyj abgegeben wurden. Dass diese »25%« deutlich besser organisiert sind als die »schweigende Mehrheit«, bekam der neue Präsident schnell zu spüren, als er öffentlichen Protest und teils harsche Kritik aus den Medien erntete.

Außergewöhnlich gut für den neuen Präsi­denten waren aber zunächst die insti­tutio­nellen Voraussetzungen. Selenskyj ließ die Parlamentswahl in den Juli 2019 vor­verlegen, und die von ihm gegründete Par­tei »Diener des Volkes« errang einen über­wältigenden Sieg. Deshalb schien es, als würde Selenskyj kaum Gegenwehr bei der Umsetzung seines Programms zu erwarten haben. Die neue Einparteienmehrheit machte sich daran, im Eilverfahren (»Turbo­regime«, wie es in Regierungskreisen hieß) zahlreiche wichtige Gesetze zu verabschieden. Daneben stieß vor allem der neue, direkte Kommunikationsstil des Präsidenten, der die traditionellen Medien umgehen und sich eine selbst gesteuerte Öffentlichkeit schaffen wollte, auf Widerhall in der Bevölkerung.

Trotz einiger Anfangserfolge wie der schnell beschlossenen Bodenmarktreform wurde bald offensichtlich, dass weder Popu­larität noch Mehrheiten ausreichten, um die versprochenen radikalen Änderungen zu bewirken – also den Krieg zu beenden, die Wirtschaft anzukurbeln und die Korrup­tion zu bekämpfen. Vielmehr traf Selenskyj auf Widerstand von Teilen der Justiz, von Seiten mächtiger informeller Akteu­re des Systems und sogar aus seiner eigenen Parla­mentsfraktion. In der Außenpolitik musste Selenskyj rasch lernen, dass der Schlüssel für Frieden im Donbas nicht in seinen Hän­den lag. So war der Zauber des kometen­haf­ten Aufstiegs schnell verflogen. Vor allem ab Februar 2021 irritierte der Präsident viele Beobachter, indem er andere Verfassungsorgane und auch den Vorrang des Rechts bei wichtigen Entscheidungen ignorierte. Nur acht Jahre nach der »Revo­lution der Würde«, auch als »Euro­maidan« bekannt, werfen daher ukrainische Oppositionelle und Experten Selenskyj einen »populistischen Autoritarismus« vor. Demnach wolle der Präsident seine bei vielen Ukrainerinnen und Ukrainern ungebrochene Popularität und die gefestigte direkte Kommunikation mit dem Wahlvolk nutzen, um den Pluralis­mus im Land einzuschränken und eine präsidentielle Machtvertikale zu etablieren.

Welches System Selenskyj erbte

Postsowjetische politische Systeme bauen zwar formal in aller Regel auf dem Prinzip der Gewaltenteilung auf. Doch in ihrer Ver­fassungswirklichkeit ist der Pluralismus oft stark eingeschränkt. Neben fehlender Un­abhängigkeit der Justiz, schwach entwickeltem Parlamentarismus und »Defekten« in anderen Bereichen der Demokratie ist die zu enge Verbindung zwischen politischer und ökonomischer beziehungsweise forma­ler und informeller Macht ein Grund dafür, dass autoritäre Tendenzen fortbestehen. Informelle Veto-Akteure wie die sogenannten Oligarchen schwächen die demokratisch gewählten Institutionen und können sie im Extremfall vollständig ersetzen. Für solche Systeme, die in der Transformation zwischen Autokratie und Demokratie ver­harren, hat sich der etwas unscharfe Begriff »hybrides System« eingebürgert.

In der Ukraine konnte die traditionell starke Spaltung des politischen Systems in formale und informelle Bestandteile auch durch die »Revolution der Würde« von 2014 nicht überwunden werden. Neben den ver­fassungsmäßigen Institutionen existieren in dem Land mächtige Akteure, die keiner demokratischen Verantwortlichkeit unter­worfen sind, aber Verfügungsgewalt über Politikbereiche haben. Dazu zählen nicht nur Oligarchen, sondern auch politisch-ökonomische Netzwerke, die lokal und regional verankert sind und oft unabhängig vom Zentralstaat agieren, und sogar Perso­nenkreise innerhalb der Justiz. All diese Akteure begrenzen den Handlungsspielraum der Präsidentschaft und durchdringen das Parlament. So konnte sich die in der Verfassung formal stark angelegte Position des Präsidenten stets nur dann entfalten, wenn der Amtsinhaber das informelle Spiel des Austarierens und Kooptierens von Olig­archen und anderen politisch und ökonomisch relevanten Akteuren beherrschte. Kon­sequenz dieses Systems war und ist aber ein »zufälliger Pluralismus«, da die Streuung der Macht im Land verhinderte, dass eine autoritäre Machtvertikale wie in anderen postsowjetischen Ländern gebildet wurde.

Selenskyjs Amtsvorgänger Petro Poroschenko (2014–2019) beherrschte das kom­plexe Spiel mit den formalen und informellen Aspekten des Systems – auch aufgrund seiner langen politischen Erfahrung – sehr gut. So war er in der Lage, die politisch äußerst instabile, aber auch von hohem Reformeifer und zivilgesellschaftlichem Druck auf die Eliten geprägte postrevolutio­näre Phase seiner Amtszeit ab etwa Mitte 2016 in eine stabilere Konstellation zu über­führen. Das entsprach auch seinen persön­lichen politischen und ökonomischen Inter­essen. Dieses Regime lässt sich als »semi-managed democracy« bezeichnen. Charakteristisch dafür waren eine Re-Konsolidie­rung präsidentieller Macht, funktionierende in­formelle Allianzen zwischen Zentralmacht und starken regionalen Netzwerken sowie die Dominanz einer »Status-quo-Koali­tion« in den Institutionen, die progres­sive Kräfte ausbremste und eine nur noch selektive Reformpolitik betrieb. Bei Amts­übergabe im Jahre 2019 war das politische System der Ukraine daher den »limitierten Demokratien« zuzuordnen, die wiederum zu den hybriden Systemen gezählt werden können. Das heißt, dass die Ukraine zwar wesentliche elektorale und konstitutionelle Minimalanforderungen an Demokratien erfüllte, aber aufgrund ihrer politisierten Justiz und des großen Einflusses mächtiger in­formeller Akteure im politischen System nicht als »liberale Demokratie« gelten konnte.

Nach 2014 hat die Komplexität des poli­tischen Systems noch einmal zugenommen. Da die Ukraine sicherheitspolitisch wie wirtschaftlich von der westlichen Staatengemeinschaft abhängig ist, hat diese sich mittel­bar zu einem weiteren wichtigen Akteur in dem Land entwickelt. So haben etwa der Internationale Währungsfonds und die EU, aber auch die USA und einige EU-Staaten Hebel in der Hand, um die Regie­rung in Kyjiw zu bewegen, eine ambitionierte Reformagenda umzusetzen. Hinzu kommt, dass sich die Dezentralisierung des Landes gravierend auf die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie auswirkt. Für die ukrainische Politik sind diese ein sensibles Thema. So zeigt der Konflikt um die Einsetzung sogenannter Präfekten, dass hier die Gefahr eines dauerhaft nicht aus­balancierten Staatsaufbaus besteht.

Die Machttechniken des Präsidenten

Die Einstellung des neuen Präsidenten zum politischen System speist sich aus seinem klaren Wahlsieg und seiner hohen öffentlichen Popularität. Verfassungspolitisch kreatives »institutional engineering« betrieb Selenskyj von Anfang an. Schon die Vorverlegung der Parlamentswahlen auf den Sommer 2019 wurde nur durch ein fragwürdiges und folgenreiches Zusammen­wirken mit dem Verfassungsgericht mög­lich. Schlüsselmomente für Selenskyjs Sicht auf seinen systembedingten Handlungsspielraum waren aber die Lokalwahlen im Herbst 2020 und der zum selben Zeitpunkt aus­gebrochene Konflikt mit Teilen des Ver­fas­sungsgerichts. Beide Vorgänge müssen dem Präsidenten vor Augen geführt haben, dass er die Bedeutung von eigenem Wahl­erfolg, persönlicher Popularität und Parla­mentsmehrheit überschätzt hatte. Die Lokal­wahlen hatten regionale Machtnetzwerke ge­stärkt, die einem Ausbau der Zentralmacht skeptisch gegenüberstanden. Außer­dem war die Entscheidung der Verfassungsrichter, Teile der Antikorruptionsgesetz­gebung für nicht verfassungskonform zu erklären, ein deutliches Zeichen für den faktischen Machtanspruch von Reformgegnern im Justizsystem.

Im Laufe des letzten Jahres wurde immer deutlicher, wie der Präsident mit diesen Einschränkungen seiner Macht umzugehen gedenkt. So wurde die Präsidialadminis­tration – eine Struktur, die das Staats­oberhaupt nur unterstützen soll –, zum faktischen Zentrum von Politikgestaltung und Entscheidung. Diese Entwicklung geht zu Lasten des Ministerkabinetts und des Parlaments, von denen Selenskyj Gefolgschaft fordert. Eine Sonderrolle spielt zu­dem der Sicherheitsrat. Dieses nicht ge­wählte und dem Präsidenten untergeord­nete Gremium wurde von Selenskyj eben­falls aufgewertet. Auf diese Weise kann der Präsident seine Politik zeitweise von Wider­ständen abschirmen, die aus anderen Insti­tutionen kommen, etwa von ihm nicht wohl­gesinnten Richterinnen und Richtern. Zugleich kann er seine Politik mit »Zustim­mung« der wichtigsten politischen Amts­träger legitimieren. Doch der Rat segnet in der Regel ohne weitere Diskussion ab, was vorher in der Präsidialadministration ent­schieden wurde – seien es Sanktionen oder weitreichende Gesetzesentwürfe.

Worauf diese Maßnahmen aus Sicht ein­flussreicher Selenskyj-Unterstützer idealer­weise hinausliefen, hat der Vorsitzende des Sicherheitsrates, Oleksyj Danilow, im Herbst 2021 geäußert: »Ich bin für eine präsiden­tielle Form der Republik.« Dieses Statement wurde viel diskutiert und zumindest nicht dementiert. Es belegt, dass Selenskyj schwer akzeptieren kann, auf vielfältigen Wider­stand zu stoßen und sich mit seiner Agenda nicht wie erwartet durchsetzen zu können – trotz gleichlaufender Mehrheiten infolge der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen.

Kaderpolitik: Die Personalie Jermak und Rochaden als Allheilmittel

Neben dem »institutional engineering« ist es vor allem die wenig austarierte Personalpolitik, die Selenskyjs Politikstil kennzeichnet. Der Präsident bewegt sich hier zwischen zwei Extremen: Loyalität und Machtfülle für einen engen Personenkreis, besonders in der Präsidialadministration, und häufige Rochaden, vor allem auf Ministerposten. Eine ungewöhnliche starke Position nimmt Andrij Jermak ein, Leiter der Präsidial­administration unter Selenskyj. Anders als frühere Chefs der Administration, die als politische Blitzableiter galten, ist Jermak zum zweitmächtigsten Mann im gegen­wärtigen politischen System der Ukraine avanciert. Es überrascht, dass Jermak eine derart zentrale Rolle in innen- und außen­politischen Fragen spielt sowie medial äußerst präsent ist. Zuletzt zeigte Jermaks Verwicklung in die sogenannte Wagner­gate-Affäre (eine gescheiterte Geheimdienstoperation gegen russische Söldner, die einst im Donbas kämpften), dass zwischen dem Administrationsleiter und dem Präsi­denten eine hohe politische Abhängigkeit ent­stan­den ist. Oft erscheint Jermak wie der eigent­liche Impulsgeber der ukrainischen Politik, wobei sein meist undurchsichtiges Vor­gehen sich jeder institutionellen Kontrolle entzieht. Zudem wurde Jermaks Position weiter gestärkt, nachdem der einflussreiche Innen­minister Arsen Awakow zurück­getreten war.

In eine andere Richtung geht Selenskyjs Personalpolitik, wenn es um die Besetzung von Ministerien und Spitzenposten in wei­teren Institutionen geht, die der Präsi­dent unmittelbar oder mittelbar kontrolliert. Hier ist der häufige Austausch von Kadern, die teilweise nur wenige Monate im Amt bleiben, zur Gewohnheit geworden. Einige Ministerposten wie beispiels­weise der des Wirtschafts- oder des Gesundheitsministers wurden schon dreimal neu besetzt. Im Juli 2021 wechselte der Präsident auf einen Schlag einen Großteil des Spitzenpersonals sicherheitsrelevanter Institutionen aus. Ein Grund für die Personalrochaden ist der popu­listische Reflex, andere für das Aus­bleiben schneller Resultate oder effektiver Strategien verantwortlich zu machen und auf diese Weise die eigene Reputation zu schützen. Zudem berichten Beobachter von einer tiefen Frustration des Präsidenten angesichts eines seiner Auffassung nach reform- und modernisierungsresistenten »deep state«, der in mächtigen Ministerien wie dem Verteidigungsministerium vor­herrsche.

Hier zeigt sich am deutlichsten, dass Selenskyj trotz seiner Wahl ins höchste Staatsamt ein Außenseiter der ukrainischen Politik geblieben ist. Der einstige TV-Star verfügt schlicht über zu wenige Verbindun­gen und keine größere »Seilschaft«, als dass er mit Hilfe einer für frühere Präsidenten typischen institutionenübergreifenden »Partei der Macht« echte Führung ausüben könnte. Stattdessen versucht Selenskyj nun, das Land mit einem kleinen Team seines Vertrauens in der Präsidialadministration und engen Freunden wie etwa dem Chef des Inlandsgeheimdienstes SBU, Iwan Baka­now, zu regieren.

Konfrontation: Selenskyj und die anderen Gewalten

Um zu überprüfen, inwiefern die These vom populistischen Autoritarismus Selen­skyjs zutrifft, müssen dessen Beziehungen zu den anderen Gewalten und den für die Ukraine wichtigen informellen Veto-Akteu­ren untersucht werden. Für die Gewaltenteilung maßgeblich ist das Verhältnis der Präsidentschaft zum Justizsystem, vor allem zum Verfassungsgericht. Seit dem Frühjahr 2019, als das Verfassungsgericht den Weg für die von Selenskyj angestrebte Vorverlegung der Parlamentswahlen freimachte, hat sich seine Beziehung zu Teilen des Gerichts entscheidend gewandelt. Gründe hierfür sind, dass der Präsident und sein Team unter­schätzten, wie vehement zahlreiche Richterinnen und Richter die geplanten Justizreformen ablehnen und was der Groß­teil des ukrainischen Justizsystems unter »Unabhängigkeit« versteht. Hier verschwim­men in sowjetischer Tradition noch oft die Grenzen zwischen den Gewalten. Einerseits lassen sich Richter und Staatsanwälte immer noch politisch instrumentalisieren, vor allem wenn sie davon karrieremäßig oder anderweitig persönlich profitieren und die Entscheidungen in der Bevölkerung populär sind. Andererseits scheuen sie nicht vor Eingriffen in legislative Belange zurück, besonders wenn diese ihre Stellung als solche gefährden. So erwarteten Teile des Ver­fassungsgerichts im Herbst 2020 offen­bar, dass Selenskyj sich in einem zeitweiligen, für die Ukraine nicht seltenen »infor­mellen Zusammenwirken« zwischen den Institutionen für das Wahlvotum des Gerichts im Vorjahr erkenntlich zeigt. Das Verfassungsgericht hatte der Auflösung des Parlaments mit der umstrittenen Begründung zugestimmt, nur die Wähler könnten den damaligen Konflikt zwischen Selenskyj und dem Parlament klären. Deshalb hofften die Richter anscheinend, dass sie im Gegen­zug das Antikorruptionssystem zumindest punktuell ungestört sabotieren können. Selenskyj jedoch, der sich gerade im Bereich Rechts­staatlichkeit hohem Druck inter­nationaler Partner und der ukrainischen Öffentlichkeit ausgesetzt sieht, ging auf Konfrontationskurs und versuchte, zwei der betreffenden Richter auszutauschen – was aber nicht verfassungskonform ist. Eine ähnliche Situation ergab sich im Jahr 2021: Der Rat der Richter der Ukraine, eine Hochburg reformfeindlicher Richterinnen und Richter, blockierte die Einrichtung einer Ethikkommission, trotz intensiver Bemühungen der Präsidialadministration um dieses Schlüsselprojekt der Justiz­reform. Daher konnte das neue Gremium nur aufgrund einer Automatismus-Rege­lung besetzt werden, die ihm die Arbeitsaufnahme erlaubt. Das Zerwürfnis mit den reformfeindlichen Richterinnen und Richtern ist ein wesentlicher Grund dafür, dass der Präsident systematisch auf den Sicherheitsrat setzt, wenn etwa Sanktionen gegen prorussische Oligarchen und deren Medien verhängt werden sollen, und so die Gerichte zeitweise umgeht.

Zentral für die Gewaltenteilung ist auch die Beziehung des Präsidenten zum Parla­ment, der Werchowna Rada. Zunächst ist festzuhalten, dass das Regierungssystem der Ukraine seit 2014 formal dem parlamentarisch-präsidentiellen Typ entspricht. Aller­dings hat die schwach entwickelte Parteien­landschaft dazu geführt, dass stabile Koa­litionen nur selten entstehen und die Rada ihre verfassungsmäßig vorgesehene Rolle nie voll entfalten konnte. Nach der Parla­mentswahl 2019 kam es außerdem zu einem Novum: In Gestalt von Selenskyjs Partei »Diener des Volkes« gewann erstmals eine Partei die absolute Mehrheit. Das bescherte dem Präsidenten gleichlaufende Mehrheiten und sollte daher oberflächlich betrachtet ein Durchregieren erlauben. Tatsächlich zeigen Statistiken, dass das Parlament seit­dem in einer Art »Turboregime« und unter Manipulation der Geschäftsordnung sehr schnell Gesetze beschließt. Doch schon von Anfang der Legislatur an wurde deutlich, dass die »Diener des Volkes«-Fraktion intern heterogener war als vermutet und häufiger diszipliniert werden musste. Oft erschien der Präsident selbst im Parlament, um für bestimmte Gesetzgebungsvorhaben zu werben. Im Laufe des Jahres 2021 machte sich in der Mehrheitsfraktion dann zuneh­mend Unmut über Selenskyjs Missachtung des Parlaments breit. Im Herbst kam es zum Eklat, als der lange mit Selenskyj verbunde­ne Parlamentssprecher Dmytro Rasumkow har­sche Kritik am Regierungsstil des Präsi­denten übte, anschließend auf dessen Betrei­ben von seinem Posten abgewählt wurde und die Gründung einer eigenen parlamentarischen Gruppe ankündigte. Die beständig sinkenden Umfragewerte für die Präsidentenpartei verstärken die Auseinandersetzungen innerhalb der Fraktion, deren Ver­treter das »Turboregime« beenden wollen.

Ganz anders als viele Beobachter annah­men hat sich auch die Beziehung des Präsi­denten zu den Oligarchen als wichtigsten informellen Akteuren und zu deren Wirt­schafts- und Medienimperien entwickelt. Noch vor Amtsantritt war erwartet worden, dass Selenskyj wegen seiner engen geschäft­lichen Verbindung zu Ihor Kolomojskyj, dem ehemaligen Besitzer der »Privatbank«, als Instrument des Oligarchen fungieren würde. Zu Beginn seiner Amtszeit strebte der neue Präsident eine pragmatische Zu­sammenarbeit zum Wohle aller an, indem er sich wie seine Vorgänger regelmäßig mit den wichtigsten Oligarchen traf. Diese Kooperation wurde aber schnell brüchig. Auch infolge internationalen Drucks er­klärte Selenskyj, er werde ein Gesetz unter­stützen, das eine Rückgabe der »Privatbank« an Kolomojskyj unmöglich mache. Darauf­hin begann die Präsidialadministration, ein Anti-Oligarchen-Gesetz zu erarbeiten, das scharfe Sanktionen für die illegale Konzen­tration von Medien- und Wirtschaftsmacht in den Händen einzelner vorsah. Damit sollte der entscheidende Schlag gegen die Ver­mischung ökonomischer und politischer Macht geführt werden. Schon in der Ent­stehungsphase wurde das Gesetzesvorhaben aber mit einigem Recht als politisch moti­vierter, vor allem gegen Selenskyjs Intim­feind Poroschenko gerichteter populistischer Akt kritisiert, zumal einschlägige rechtliche Instrumente bereits existierten. In den von Oligarchen kontrollierten Medien wurde überdies vermutet, dass sich das Gesetz speziell gegen sie richte und der Präsident mehr Kontrolle über die Fernsehsender anstrebe. Jenseits der Diskussion, wie ernst es Selenskyj persönlich mit dem Kampf gegen die Oligarchie ist, läuft die Verabschiedung des Gesetzes und konkre­tisierender Folgegesetze zurzeit darauf hinaus, sowohl die Rolle der Olig­archen als Veto-Spieler im politischen Ent­schei­dungs­prozess zu begrenzen als auch deren Einnahmequellen auszutrocknen. Auch deshalb befindet sich Selenskyj seit Herbst 2021 in einem für die Ukraine seltenen offenen Konflikt zwischen Präsidentschaft und Oligarchie, nämlich mit deren wichtig­stem Vertreter Rinat Achmetow. Gemäß der neuen Gesetzgebung droht diesem der Verlust enormer Einkünfte aus Energie­geschäften.

Selenskyj geht es indes nicht nur darum, die Macht von Veto-Akteuren zu beschneiden. Allgemein ist sein Politikstil konfrontativ und wenig diplomatisch. Das belegen auch die Auseinandersetzungen des Präsi­denten mit »Lokalfürsten« wie etwa den Bürgermeistern Vitali Klitschko (Kyjiw) und Borys Filatow (Dnipro) oder offen ausgetragene Fehden mit einflussreichen Medienvertretern. Das Vorgehen des Präsidenten geht dabei auf dessen Überzeugung zurück, ein in dieser Klarheit nie dagewesenes Mandat der Bevölkerung für seine Politik erhalten zu haben und daher keine Kom­promisse mit anderen Akteuren schließen zu müssen. Aufgrund des komplexen poli­tischen Systems ist es jedoch notwendig, den Grundsatz »Teile und herrsche« zu berücksichtigen und politische Allianzen zu bilden. Für beides fehlt Selenskyj die politische Erfahrung.

Auch wenn die Beziehung des gegenwärtigen Präsidenten zum politischen System stark zentralistische Züge trägt und Spiel­regeln – wie im Parlament oder bei der Aufwertung des Sicherheitsrates – sehr flexibel interpretiert werden, ist die Autori­tarismusthese bisher schwer zu belegen. So ist die zunehmende Marginalisierung von Verfassungsinstitutionen wie Kabinett und Parlament bei gleichlaufenden Mehrheiten von der Verfassung gedeckt. Dass Selenskyj in der Art von Ex-Präsidenten wie Leonid Kutschma oder Wiktor Janukowytsch gegen die freie Meinungsäußerung und andere Grundrechte vorginge, Wahlen unfair be­einflussen oder zivilgesellschaftliche Akteu­re mit Repressionen belegen würde, ist nicht systematisch zu beobachten. Letztlich hat das Vorgehen des Präsidenten effektiven Widerstand in anderen Institutionen aus­gelöst. Das lässt Selenskyj und sein Team in der Präsidialadministration immer iso­lierter wirken und unterstreicht den plura­li­sti­schen Charakter der ukrainischen Politik.

Ein Einwand ist immerhin angebracht: Das Handeln des Selenskyj unter­stehenden Sicherheitsrates bei der Sanktionierung des prorussischen Olig­archen Wiktor Medwed­tschuk und auch der Hochverratsprozess, der dem Ex-Präsidenten Poroschenko droht, setzen dessen Amtsnachfolger zumindest dem Ver­dacht aus, er schränke die Unab­hängigkeit der Justiz ein. Für diese These spricht, dass Selenskyj im ersten Fall den Rechts­vorrang negierte und Entscheidungen ordentlicher Gerichte hätte abwarten müssen. Im Falle von Poroschenkos an­geblicher Ko­operation mit terroristischen Organisationen – er soll während seiner Präsi­dentschaft den Ankauf von Kohle aus den besetzten Gebieten in der Ostukraine initiiert haben – sind Interventionen Selen­skyjs bisher schwer nachzuweisen. Allerdings ist bekannt, dass der Präsident seinen direk­ten Zugriff auf die General­staatsanwaltschaft bereits in anderen Fäl­len genutzt hat, um Verfahrensabläufe in seinem Sinn zu beeinflussen.

Gefahren der Destabilisierung

Auch nach der »Revolution der Würde« und einer im regionalen Vergleich weit voran­geschrittenen Demokratisierung ist das poli­tische System der Ukraine ein postsowje­tischer Hybrid geblieben, der formale und informelle Aspekte in einer komplexen Mischung vereint. Mit der invasiven Rolle westlicher Geberorganisationen und Part­ner­staaten sowie der Dezentralisierung des Staatsaufbaus kamen seit 2014 notwendige, aber die Komplexität weiter erhöhende Merkmale hinzu. Diese beeinträchtigen die Steuerungs­fähigkeit der Exekutive, erzeu­gen neue Interessenkonflikte und steigern die Zahl der Veto-Spieler. Als politischer Außenseiter, der nicht der alten Garde ukrainischer Politikerinnen und Politiker angehörte und aus der Medienszene kam, hatte Wolodymyr Selenskyj denkbar schlech­te Voraussetzungen, um sich erfolgreich durch das politische System zu navigieren, geschweige denn es zu reformieren. Zur Halbzeit seiner Präsidentschaft ist klar, dass Selenskyj ein Außen­seiter geblieben ist und weder persönliche Popularität noch Mehr­heiten Ersatz für politische Erfahrung, trag­fähige Netzwerke und diplomatisches Geschick sind. Die derzeitige Antwort des Präsidenten und seines Teams auf diesen Befund besteht darin, politische Entscheidungen zu zentralisieren und dabei ande­re Verfassungsinstitutionen zu umgehen, flankiert von einer erratischen Personal­politik mit hoher Fluktuation. Statt in den von seinen Gegnern befürchteten »populi­stischen Autoritarismus« zu münden, birgt Selenskyjs Politik eher das Risiko anhaltender Blockaden und einer Destabilisierung des politischen Systems. Neben der damit einhergehenden tatsächlichen Gefahr für die weitere Demokratisierung und die sich nur langsam erholende Ökonomie sind die internationalen Risiken beachtlich. Unter den westlichen Partnern gibt die Ukraine derzeit kein gutes Bild ab. Dass Kyjiw stän­dig die äußere Bedrohung durch Russland betont, passt nicht zu den innenpolitischen Dauerkonflikten und Skandalen. Eine aus Ernüchterung erwachsende Passi­vität etwa der EU-Partner könnte für die Ukraine ver­heerende Folgen haben und die russische Expansionspolitik begünstigen. Für Moskaus Propaganda ist Selenskyjs Regierungsstil eine ideale Steilvorlage, um den Ukrainern und ihren westlichen Unterstützern eine Art Doppelmoral vorzuwerfen: Während sich die Ukraine als demokratisch-liberaler Gegenentwurf zu Russland darstelle, greife der Westen hier faktisch einem ebenso autoritären Regime unter die Arme. Hinzu kommt schließlich, dass äußere Akteure die sichtbaren internen Konfliktlinien in­strumentalisieren und als Chancen zur Subversion mittels hybrider Bedrohungen nutzen könnten.

Optionen für den Westen

Was kann westliche, vor allem deutsche und europäische Politik dazu beitragen, der innenpolitischen Destabilisierung der Ukraine Einhalt zu gebieten?

Die strukturellen Charakteristika des politischen Systems offenbaren ein weiteres Mal, wie dringlich etwa die Justizreformen sind, aber ebenfalls Maßnahmen gegen den politischen Einfluss mächtiger Wirtschaftsakteure und eine Stärkung der Institution des Parlaments in der Ukraine. Im Kontext ihrer Forderungen nach einer engeren An­bindung der Ukraine und der Gewährung weiterer Finanzhilfen muss die EU hier einer­seits der Rechtsstaatlichkeit Vorrang geben, sich andererseits aber auch einen Blick für das Zusammenspiel verschiedener Faktoren bewahren. Besonders den Kampf gegen die Oligarchie sollte die EU mit tech­nisch-ver­fahrensmäßiger Beratung eng begleiten, auch um Politisierungsversuchen von Re­gie­renden und Opposition entgegenzuwirken.

Die als problematisch angesehenen Aspekte in Selenskyjs Regierungsstil sollten bei hochrangigen Treffen mit Vertretern Deutschlands und der EU nachdrücklich angesprochen werden. Zu thematisieren wären vor allem die Sanktionspolitik des Sicherheitsrates, die den Rechtsvorrang negiert, sowie anhaltende Auseinander­setzungen des Präsidenten mit seinem Vor­gänger. Hier nämlich deutet sich an, dass die Justiz als Instrument gegen politische Kon­trahenten eingesetzt werden könnte, wie es schon früher der Fall war. All dies ist mit den Werten der »Revolution der Würde« unvereinbar und schadet dem internationalen Ansehen der Ukraine. Deutschland und die EU sollten unmissverständlich darlegen, dass die Einhaltung rechtsstaatlicher Prin­zipien auf allen Ebenen die Voraussetzung für internationale Unterstützung ist.

Die westliche Politik muss sich darüber klarwerden, dass die demokratische Ent­wicklung in der Ukraine nicht irreversibel, das Land aber die größte Hoffnung für die nachhaltige Entwicklung einer offenen Gesellschaft und pluralistischen Institutionenlandschaft im postsowjetischen Raum ist. Es existiert ein direkter Zusammenhang zwischen dem außenpolitischen Existenzkampf und der gegenwärtigen innenpolitischen Ordnung der Ukraine. Die bisherigen Errungenschaften bei der Unter­stützung der Transformation in einen funktionieren­den, demokratischen und der liberalen Ord­nung und ihren Ver­tretern wohlgesinnten Staat sind durch Russland unmittelbar ge­fährdet. Es liegt im Eigeninteresse Deutschlands und der EU, dass dieses Transforma­tionsprojekt erfolgreich ist. Daher sollten Berlin und Brüssel auch in die sicherheits­politische Resilienz der Ukraine investieren.

Dr. André Härtel ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

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