Trotz massiver Proteste hat das israelische Parlament ein Kernelement der Justizreform verabschiedet, das die Macht des Obersten Gerichtshofs deutlich einschränkt. Es ist der erste Schritt auf dem Weg zu einer illiberalen Demokratie, meint Peter Lintl.
Die israelische Regierung hat im Rahmen der umstrittenen Justizreform ein Gesetz verabschiedet, das dem Obersten Gericht künftig untersagt, Entscheidungen der Regierung oder einzelner Minister auf ihre »Angemessenheit« hin zu überprüfen. Dies ist ein erster Schritt in einem umfassenderen Versuch, die Kontrollfunktion der Justiz gegenüber Regierung und Parlament sukzessive abzuschaffen.
Anders als in Deutschland ist die Überprüfung der Angemessenheit von Regierungs- und Verwaltungshandeln nicht gesetzlich verankert. Vielmehr hat sich dieser Mechanismus durch die Rechtsprechung der Gerichte selbst herausgebildet, wie es in für Common-Law-Traditionen wie Israel üblich ist.
Die Angemessenheitsprüfung bezieht sich nicht auf konkrete Gesetzesverstöße, sondern darauf, ob alle entscheidungsrelevanten Faktoren berücksichtigt und im Sinne einer Güterabwägung angemessen gewichtet wurden: Dazu zählen die Abwägung von Rechtsnormen, Individual- und Menschenrechten, aber auch Fragen des Gemeinwohls und des öffentlichen Interesses. Dabei erkennt diese Prüfung an, dass es eine Bandbreite unterschiedlicher legitimer Meinungen geben kann, und das Gericht interveniert nur, wenn es eine Entscheidung für »extrem unangemessen« hält.
Diese Prüfung kann sich auf sehr unterschiedliche Sachverhalte beziehen. So hat das Gericht beispielsweise die Regierung verpflichtet, alle Klassenzimmer einer von Raketenbeschuss bedrohten Schule raketensicher zu machen und nicht nur einige wenige aus finanziellen Gründen. In anderen Fällen hob es die Entscheidung eines ultraorthodoxen Ministers auf, der den Bau eines Fußballstadions in Jerusalem blockierte, wohl weil seine Wählerinnen und Wähler dies ablehnten. Auch die wiederholte Entscheidung verschiedener Verteidigungsminister, eine gemeinsame israelisch-palästinensische Veranstaltung an einem israelischen Gedenktag aus Sicherheitsgründen zu untersagen, wurde vom Gericht wiederholt als unangemessen aufgehoben.
Die Angemessenheitsprüfung erstreckt sich aber noch auf einen weiteren Bereich, nämlich auf Personalentscheidungen der Exekutive. In der Vergangenheit hat der Gerichtshof wiederholt Ernennungen von Amtsträgern für ungültig erklärt, wenn diese in laufende Korruptionsverfahren verwickelt waren, bereits verurteilt worden waren oder Disziplinarstrafen wegen gravierender Verstöße erhalten hatten, die sie aus Sicht des Gerichts für entsprechende Ämter disqualifizierten. Dies reichte bis auf die Ministerebene, wo das Gericht verschiedentlich ernannte Minister wegen laufender Verfahren oder Verurteilungen ausschloss, etwa mehrfach den Vorsitzenden der ultraorthodoxen Schass-Partei, Arye Deri, wegen unterschiedlicher Korruptionsvergehen.
In Israel gab es durchaus Diskussionen, ob der Angemessenheitsstandard nicht zu weit gefasst sei, insbesondere in Bezug auf die Anwendung auf Ernennung von Ministern. Kritiker führten an, dass dies einen zu großen Eingriff in die Kompetenzen der Regierung darstelle. Befürworter argumentieren dagegen, dass dies notwendig sei, weil in Israel Korruption von Politikern kaum von den Wählern bestraft werde und das Gericht als Korrektiv fungieren müsse.
Dass der Versuch, die Angemessenheit gänzlich abzuschaffen, weit über das Ziel hinausschießt, darüber sind sich allerdings auch die meisten Kritiker einig. Denn die Angemessenheit ist zwar nicht die einzige, aber die wichtigste Rechtsnorm zur Kontrolle der Exekutive. Es bestehe die Gefahr, so etwa der konservative Rechtswissenschaftler Yoav Dotan, dass Regierungen weitgehend willkürliche Entscheidungen treffen könnten, deren Rechtmäßigkeit dann viel schwerer zu überprüfen wäre, etwa durch reine Klientelpolitik.
Hinzu kommt noch ein wichtiger Aspekt, der insbesondere bei dieser Regierung eine zentrale Rolle spielt: Auch wenn hier juristisches Neuland betreten, wird, so wird es nach Einschätzung vieler Expertinnen und Experten durch die Abschaffung des Angemessenheitskriteriums wesentlich einfacher sein, führende Staatsangestellte zu entlassen. Dazu gehören unter anderem die Generalstaatsanwältin, der Polizeichef oder der Oberbefehlshaber der israelischen Streitkräfte.
Mitglieder der Regierungskoalition haben bereits angekündigt, die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara nach der Aufhebung der Angemessenheit zu entlassen. Aber auch in anderen Positionen ist die aktuelle Regierung umstritten. So beschwerte sich der als rechtsextrem geltende Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, wiederholt darüber, dass die Polizei seinen Anweisungen zu härterem Durchgreifen nicht ausreichend nachkomme und kritisierte insbesondere Beamte in Führungspositionen. Die Liste ließe sich auf fast alle Bereiche der Exekutive ausdehnen, die in der einen oder anderen Form Ergebnisse hervorbrachten, die den Wünschen der Regierung nicht entsprachen, selbst wenn sie auf professionellen Standards fußten. Neben der Justiz, dem Militär und der Polizei gehörten dazu auch die Bank of Israel, das zentrale Statistikbüro, der öffentliche Rundfunk und sogar die Nationalbibliothek.
Selbst wenn die Regierung nicht so weit gehen sollte, leitende Beamte in unterschiedlichen Funktionen zu entlassen, schwebt über ihnen immer die Drohung, dass die Regierung es tun könnte. Diese Möglichkeit allein untergräbt bereits die Unabhängigkeit staatlicher Institutionen, die fachlich fundierte Entscheidungen in Sachfragen treffen müssen und nicht allein den parteipolitischen Präferenzen von Regierungsmitgliedern folgen sollten.
In all dem zeigt sich der majoritäre Charakter der Regierung: Nur Mehrheiten sollen gelten, Einschränkungen seien undemokratisch. Die Abschaffung der Rechtsnorm der Angemessenheit war ein erster Schritt, in liberalen Demokratien übliche Kontrollfunktionen der Regierung durch die Justiz abzuschaffen. Die Abschaffung oder starke Einschränkung weiterer richterlicher Kontrollfunktionen, etwa der Normenkontrolle von Gesetzen, wurden bereits angekündigt.
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doi:10.18449/2023A03