Neue Perspektiven für den europäischen Einigungsprozess
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Die europäische Wirtschafts-, Finanz- und Schuldenkrise hat neue Perspektiven für den europäischen Einigungsprozess, aber auch Gefahren im Hinblick auf eine Desintegration der EU oder eine Renationalisierung bereits integrierter Politiken verdeutlicht. Angetrieben von dem andauernden Druck von Finanzmarktakteuren auf die Schuldenstaaten und die begrenzten Handlungsmöglichkeiten der europäischen Institutionen steht dabei nach den Beschlüssen zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und dem Fiskalpakt eine weitergehende Integration nicht nur zwischen den Eurostaaten auf der Agenda. Knapp zwei Jahre nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon stehen die EU und ihre Mitgliedstaaten somit vor der Perspektive schwieriger Vertragsverhandlungen und möglicherweise Ratifikationen über die Zukunft des europäischen Projekts. Gleichzeitig stellt sich angesichts der Beschlüsse über Rettungspakete in Milliardenhöhe sowie tiefgreifender Spar- und Restrukturierungsprogramme die Frage nach der demokratischen Legitimation von Entscheidungen, die außerhalb des EU-Vertragsrahmens beraten und gefällt werden, oder falls weitere Kompetenzen auf die EU-Ebene verlagert werden sollen.
In verschiedenen Facetten stehen dabei drei grundsätzliche Entwicklungsmöglichkeiten zur Debatte. Zum einen werden Perspektiven einer umfassenden Reform der EU hin zu der bereits im Maastrichter Vertrag postulierten "politischen Union" diskutiert, für welche die europäischen Verträge grundsätzlich reformiert werden müssten. Die Schuldenkrise sollte nach diesem Modell überwunden werden, in dem die Mitgliedstaaten weit reichende Kompetenzen in der EU gemeinsam ausüben, etwa in Form von gemeinsamen Anleihen (Eurobonds) und deutlich weiter integrierten Entscheidungsbefugnissen der EU-Organe in den Bereichen der Wirtschafts-, Kapitalverkehrs- und Fiskalpolitik. Die demokratische Legitimation der EU könnte in diesem Zusammenhang gestärkt werden, indem etwa die gesetzgeberischen und kontrollierenden Kompetenzen des Europäischen Parlaments weiter ausgebaut, die Kompetenzen der nationalen Parlamente jenseits der ihnen im Lissabonner Vertrag zugestandenen, eher obstruktiv angelegten Rechte geschärft oder weitere Verfahren der direkten Beteiligung der Bürger geschaffen werden.
Offen ist, welches Ziel die Protagonisten von Vorschlägen wie etwa der Weiterentwicklung der Kommission zu einer "europäischen Regierung" und/oder der Direktwahl des Kommissionspräsidenten verfolgen. Denn "Regierungsfunktionen" übt die Kommission längst - seit 1952 und seitdem in immer mehr Bereichen - gemeinsam bzw. konkurrierend mit dem Ministerrat und dem Europäischen Rat aus. Fraglich ist somit, ob die Staats- und Regierungschefs ihre Funktionen in der "Ko-Gubernative" der EU ernsthaft zu ihren Lasten auf die Kommission übertragen wollen oder ob es sich bei entsprechenden Vorschlägen nicht eher um den Versuch handelt, die Exekutivfunktionen der Kommission zu akzentuieren und hierbei aber gleichzeitig einen Ausbau der faktischen "Gubernativfunktionen" des Europäischen Rates voranzutreiben. Im Ergebnis bestünde dann die Gefahr oder Chance, die "Regierungsfunktionen" der Kommission analog zum französischen Modell eines präsidentiellen Systems zu etablieren, in der nicht die Kommission, sondern der Europäische Rat - sozusagen als kollektiv agierender "Präsident" - über das erste und das letzte Wort im Integrationsgefüge verfügen würde. Ähnlich zieloffen ist daher auch die Idee der Direktwahl des Kommissionspräsidenten. Denn dessen Legitimationsleistung hängt nicht alleine vom Modus seiner Bestellung, sondern von den Funktionszuschreibungen und Rechten der Kommission im Verhältnis zu den anderen Organen ab. Das enge Verantwortungsgeflecht, dass das Parlament mit der Kommission im Zuge ihrer Investitur nach den geltenden Vertragsbestimmungen schließt, würde jedenfalls in Frage gestellt, wenn sich ein Kommissionspräsident auf sein unmittelbares "Rendez-Vous mit den Bürgern der EU" zurückziehen könnte, ohne auf die Zustimmung des Parlaments angewiesen zu sein. Ebenfalls fragwürdig ist der effektive Mehrwert einer Direktwahl des Kommissionspräsidenten, wenn das von ihm geführte Kollegium auf die Rolle eines ausführenden Exekutivgremiums unter der Führung des Europäischen Rates zurechtgestutzt würde.
Der EU-Vertrag und die nationalen Rechtsordnungen sehen für solch umfangreiche Reformen hohe Hürden vor. Nach Beratungen in einem Konvent müssten alle der 27 bzw. bald 28 Mitgliedstaaten den Vertragsänderungen zustimmen und den Vertrag national ratifizieren. Die Erfahrungen der 2000er-Jahre bei den Verhandlungen und den Ratifikationen des Verfassungsvertrags sowie des Lissabonner Vertrags zeigen auf, dass ein solcher Prozess nicht nur mehrere Jahre in Anspruch nehmen dürfte, sondern eine Zustimmung und Ratifikation aller Mitgliedstaaten mehr als ungewiss ist. Nicht zuletzt in Deutschland müssten hierfür verfassungsrechtliche Fragen geklärt werden, die je nach Ausgestaltung der Reformen nur über Verfassungsänderungen und Zustimmung der Bevölkerung in Referenden aufgelöst werden können.
Mittelfristig wird eine umfassende Vertragsänderung mit allen 27 Mitgliedstaaten daher schwer zu erreichen sein. Bereits der Fiskalpakt wurde deswegen als völkerrechtlicher Vertrag zwischen 25 EU-Staaten geschlossen, nachdem Großbritannien im Dezember 2011 eine Vertragsänderung ohne zusätzliche Garantien ablehnte und die Staats- und Regierungschefs nicht bereit waren, den bereits 1986 praktizierten Weg der Einberufung einer Regierungskonferenz mit einfacher Mehrheit (seinerzeit gegen die Stimmen Dänemarks, Griechenlands und Großbritanniens) zu beschreiten. In der Folge stellt die differenzierte Integration, also ein Voranschreiten nur einer Gruppe von Mitgliedstaaten, eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung der EU bzw. der Eurozone dar. Über Opt-outs wie im Falle Großbritanniens und Dänemarks aus dem Euro, der Nutzung des Instrumentes der verstärkten Zusammenarbeit wie beim EU-Patent oder völkerrechtliche Verträge jenseits des EU-Vertragsrechts wie beim Schengener und Prümer Vertrag oder zuletzt dem Fiskalpakt stehen den Mitgliedstaaten hier verschiedene Möglichkeiten offen. Die politischen Entscheidungsträger müssen jedoch zwischen den Vorteilen einer Aufhebung politischer Blockaden durch das Voranschreiten einer selbsterklärten Avantgarde und den negativen Konsequenzen einer potentiellen Spaltung der EU abwägen.
Zuletzt bleibt drittens die Möglichkeit, auf Basis der bestehenden Verträge durch begrenzte Vertragsänderungen oder sekundärrechtliche Beschlüsse das politische Fundament der EU bzw. der Eurozone zu vertiefen. Konfrontiert mit den hohen politischen Kosten einer großen Vertragsänderung haben die politischen Entscheidungsträger bislang vornehmlich diesen Weg verfolgt. So wurde der Stabilitäts- und Wachstumspakt sekundärrechtlich verschärft, mit dem Europäischen Semester eine stärkere haushaltspolitische Koordinierung eingeführt und ein System von europäischen Finanzmarktregulierungsagenturen aufgebaut. Über das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren wurde die rechtliche Basis für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) eingeführt, in dem Art. 136 EUV erweitert wurde. Auch zu vereinfachten Vertragsänderungen müssen aber alle Mitgliedstaaten zustimmen und die Änderung ratifizieren. Vor allem aber ist die mögliche Reichweite von Reformen auf dem bestehenden Primärrecht durch europarechtliche und/oder nationale verfassungsrechtliche Vorgaben beschränkt.
Insgesamt steht die EU unter dem Druck der Schuldenkrise vor der Herausforderung, ihre fundamentalen Grundlagen reformieren und sowohl die politischen Entscheidungsträger in ihren Mitgliedstaaten als auch die Unionsbürger von den Reformen überzeugen zu müssen.