Legitimation in der EU in Zeiten der Wirtschafts- und Schuldenkrise
Die 7. Legislaturperiode des Europäischen Parlaments (2009–2014) war geprägt von einem zentralen Thema – dem Kampf gegen die Schulden- und Wirtschaftskrise in der Eurozone. Öffentlich höchst umstritten, haben die Eurostaaten dabei auf der einen Seite massive Summen in Form von Hilfskrediten für die Krisenstaaten und Garantien für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) bereitgestellt. Auf der anderen Seite mussten sich die Programmländer zu Souveränitätseingriffen in ihre Wirtschafts- und Sozialpolitiken in bisher ungekanntem Ausmaß bereiterklären. Beide Entwicklungen haben eine der Grundfragen der europäischen Integration verschärft auf die Agenda gebracht: Wie können europapolitische Entscheidungen mit direkten und weitreichenden Konsequenzen für die Bürgerinnen und Bürger demokratisch legitimiert werden?
Das Europäische Parlament nimmt in allen Debatten über die demokratische Legitimation der EU eine zentrale Rolle ein. Als einzig direkt und repräsentativ gewähltes Organ der EU soll das Parlament eine direkte Input-Legitimation durch Repräsentation der Bürgerinnen und Bürger in der Union garantieren. In diesem Sinne gestalten die Parlamentarier die Gesetzgebung der EU nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren voll mit, wie dies etwa bei den Beschlüssen zur Bankenunion, zur haushaltspolitischen Überwachung in der EU oder zu den Grundlagen des EU-Haushalts der Fall war. Mit Debatten wie zum geplanten Freihandelsabkommen mit den USA oder zur Reform der Grenzsicherung innerhalb des Schengenraums in der EU schafft das Parlament zudem Transparenz für die europäische Öffentlichkeit. Gleichwohl ist das Europäische Parlament nicht die einzige Quelle demokratischer Legitimation in der EU: Im Ministerrat sind die national gewählten Regierungen direkt vertreten. Seit dem Vertrag von Lissabon sind auch die nationalen Parlamente direkter in die EU-Gesetzgebung eingebunden. Und schließlich ermöglicht die europäische Bürgerinitiative es einer Million EU-Bürger, die Kommission zu neuen Gesetzgebungsinitiativen aufzufordern. Das Europäische Parlament ist in diesem Institutionengefüge zu einem gewichtigen Machtfaktor in Brüssel geworden, der sich stets auf seine direkte europäische demokratische Legitimation beruft, aber teilweise auch in Konkurrenz zu nationalen Regierungen oder sogar Parlamenten steht.
Gerade während der Wirtschafts- und Schuldenkrise sind zudem Zweifel an der Legitimationskraft des Europäischen Parlaments laut geworden. Vier grundsätzliche Kritikpunkte stehen dabei erneut im Vordergrund: Erstens stagniert die Wahlbeteiligung zu den Europawahlen trotz des formalen Einflussgewinns des Parlaments seit 2004 bei 43 bis 45 Prozent. Bei der diesjährigen Wahl beteiligten sich in einzelnen Mitgliedstaaten zum Teil weniger als 20 Prozent der Wahlberechtigten. Zweitens fehlt dem Europäischen Parlament weiterhin eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit, in der die parlamentarische Arbeit kritisch reflektiert wird. Drittens ist das Parlament nicht vollständig repräsentativ aufgebaut, da zur Sicherstellung der Vertretung aller Mitgliedstaaten bei maximal 751 Abgeordneten kleine EU-Staaten wie z.B. Malta (sechs Abgeordnete) im Vergleich zu großen Mitgliedstaaten wie Deutschland (96 Abgeordnete) überrepräsentiert sind. Nicht zuletzt fehlen dem Europäischen Parlament gerade in Bereichen, die für die Wirtschaftspolitik von Bedeutung sind, weiterhin Mitsprachekompetenzen. So konnte es etwa über entscheidende Weichenstellungen in der Eurokrise – die Hilfskredite, den ESM oder den Fiskalpakt – nicht mitbestimmen. In der kommenden Legislaturperiode wird daher weiter darüber diskutiert werden müssen, wie die demokratische Legitimation der EU verbessert werden kann. In welchen Fragen sollten die Kompetenzen des Europäischen Parlaments ausgebaut werden? Wie können das EP und die nationalen Parlamente besser zusammenarbeiten? Sollten nationale Parlamente weiter gestärkt werden? Wie kann die Legitimation spezifisch in der Eurozone verbessert werden?
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