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USA: Zwischen Rechtsschutz und Staatsschutz

Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte

SWP-Studie 2003/S 05, 15.02.2003, 32 Seiten Forschungsgebiete

 

 

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gewinnt in den Vereinigten Staaten der Schutz des Staates an Bedeutung gegenüber dem Schutz der individuellen Freiheit. Eine Untersuchung der veränderten innenpolitischen Rahmenbedingungen und einzelner Problembereiche - der Status der gefangenen Taliban- und Al-Qaida-Kämpfer, die Einrichtung von Militärtribunalen, die Festnahme verdächtiger Ausländer und deren »Vorbeugehaft« sowie die Verschärfung der Einreisebestimmungen und die allgemeine Stigmatisierung ausländischer Studenten muslimischer Herkunft - liefert zahlreiche Indizien dafür, daß sich auf amerikanischer Seite ein problematisches nationales wie internationales Rechtsverständnis herausbildet.

 

 

 

 

Ungeachtet der verfassungsrechtlichen due process- bzw. equal protection-Bestimmungen, nach denen die individuellen Freiheitsrechte »jeder Person« zu schützen sind, genießen die sich in den Vereinigten Staaten aufhaltenden Ausländer nach Meinung der Bush-Administration grundsätzlich nicht den gleichen Rechtsschutz wie die amerikanischen Staatsbürger. Wenn sie als mutmaßliche Terroristen taxiert sind, haben sie zudem auch noch diesen »minderen Anspruch« verwirkt. Die Entscheidung, wer welche Rechte »verdient«, wird a priori von der Exekutive getroffen, eine Ex-post-Überprüfung durch eine juristische Kontrollinstanz ist nicht möglich. Nicht wenige Beobachter sehen darin von der verfassungsrechtlichen Warte aus einen gewagten Balanceakt, der die im politischen System der Vereinigten Staaten fest verankerten Prinzipien der checks and balances auszuhebeln droht.

 

 

 

 

Neben zahlreichen spezifischen Verfassungsprinzipien hat das Grundprinzip der konkurrierenden, sich gegenseitig kontrollierenden Staatsgewalten eine besondere Bedeutung für die Sicherung individueller Freiheitsrechte. Das Vorliegen einer nationalen Bedrohung verschafft dem Präsidenten jedoch sowohl gegenüber dem institutionellen Gegenspieler Kongreß als auch gegenüber der Judikative einen Machtzugewinn. In dieser Situation kommt dem Kongreß, mehr noch als der richterlichen Gewalt, eine besondere Verantwortung zu. Er muß dafür Sorge tragen, daß auch in Zeiten nationaler Unsicherheit individuelle Freiheiten nicht vom kollektiven Schutzbedürfnis unterdrückt werden - zumal, wie die bisherige Erfahrung gezeigt hat, die richterliche Kontrolle in Kriegszeiten eher schwach ausgeprägt ist.

 

 

 

 

Die entscheidende Frage ist, ob gesellschaftlicher Druck - nicht zuletzt motiviert durch kritische Medienberichterstattung und politische Prinzipientreue, wie schon so oft in der amerikanischen Geschichte - einen Gegenimpuls auslöst, der das Pendel wieder stärker in Richtung persönliche Freiheitsrechte ausschlagen läßt. Doch zunächst bewirkt die kollektive Unsicherheit die Priorität des Staatsschutzes.

 

 

 

 

Die Kongreßwahlen vom 5. November 2002 verdeutlichten erneut Ausmaß und Folgewirkungen der Verunsicherung durch die Anschläge des 11. September 2001. Der Kampf gegen den Terrorismus im Interesse der nationalen Sicherheit stand ganz oben auf der Prioritätenliste der Wähler. In Umfragen wurde zudem offensichtlich, daß die Amerikaner der Partei des Präsidenten die »notwendige Härte« in diesem Kampf zutrauten, während den Demokraten diese Eigenschaft abgesprochen wurde. Die nationale Sicherheitsbedrohung bot dem Präsidenten in seiner Rolle als Oberster Befehlshaber (commander in chief) eine historische Gelegenheit, auch im Kongreßwahlkampf für die Unterstützung seiner Politik gegen den Terrorismus zu werben. Obwohl das Amt des Präsidenten nicht zur Wahl stand, gilt George W. Bush als der Sieger der Zwischenwahlen. Vor allem in den besonders umkämpften Staaten und Wahlbezirken vermochte Präsident Bush die Wähler zu überzeugen, daß eine republikanische Mehrheit im Kongreß ein united government hervorbringen würde, mit dem das Heimatland besser verteidigt werden könne.

 

 

 

 

In der aktuellen Phase bleibt abzuwarten, inwiefern das allgemeine Kriegsbewußtsein und Schutzbedürfnis durch weitere Anschläge oder Warnungen verstärkt wird. Bis auf weiteres besteht die Gefahr, daß der amerikanische Rechtsstaat zum Sicherheitsstaat mutiert. Diese Entwicklung ist um so prekärer, als die Praxis der als Vorbild geltenden freiheitlich verfaßten offenen Gesellschaft Amerikas auch die weltweite Perzeption von demokratischer Rechtsstaatlichkeit und die internationalen Rechts- und Ordnungsvorstellungen beeinflussen wird.