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Einsatzbereit in der Krise?

Entscheidungsstrukturen der deutschen Sicherheitspolitik auf dem Prüfstand

SWP-Studie 2002/S 34, 15.10.2002, 21 Seiten Forschungsgebiete

Eine hinreichende Einsatzfähigkeit der deutschen Bundeswehr im gesamten Spektrum der Möglichkeiten - von »Heimatschutz« über Krisenprävention und Krisenbewältigung bis hin zu Kampfeinsätzen im Rahmen kollektiver Verteidigung - ist Voraussetzung für eine erfolgreiche bundesdeutsche Sicherheitspolitik unter qualitativ veränderten Bedingungen. Dies hat Konsequenzen für viele Bereiche, insbesondere auch für das Fähigkeitsprofil der Streitkräfte und der nicht-militärischen Einsatzkräfte. Im Mittelpunkt steht jedoch die Frage nach der Handlungsfähigkeit der obersten politischen Ebene: Ist Deutschland in seinen nationalen Entscheidungs- und Planungsstrukturen auf die neuen Herausforderungen der inneren und äußeren Sicherheit vorbereitet? Gestatten diese Instrumente ausreichend schnelle, koordinierte und kohärente Reaktionen im Krisenfall? Drei Bereiche nationaler »Hausaufgaben« wurden für diese Untersuchung ausgewählt:

(1) Politisch-verfassungsrechtlicher Rahmen: Reform des Parlamentsvorbehalts zum Streitkräfteeinsatz
Der neuen »Normalität« internationaler Kriseneinsätze mit deutscher Beteiligung steht ein noch immer weitgehend statischer Umgang mit dem Zustimmungsverfahren im Deutschen Bundestag gegenüber. Der Handlungsspielraum der Exekutive wird dadurch empfindlich eingeengt. Dies ist keineswegs vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von 1994 so festgelegt worden, sondern allein Ergebnis der politischen Praxis seither. Vordringliche Aufgabe ist es daher, das Verfahren in einer für Parlament und Regierung akzeptablen Weise an die politische Realität anzupassen.

Es wird empfohlen, das Zustimmungsverfahren zu Auslandseinsätzen der Streitkräfte zu flexibilisieren und je nach politischer Bedeutung der Entscheidung für Regierung und Parlament so weit wie möglich zu vereinfachen. Mit Hilfe eines »Entsende-» oder »Mitwirkungsgesetzes« sollte definitorisch geklärt werden, welche Formen des bewaffnetes Einsatzes auch künftig als zustimmungspflichtig angesehen werden sollen (und welche nicht). Ein Bundestags-Spezialausschuss »Auslandseinsätze« sollte eingerichtet und mit zusätzlicher Kompetenz im Rahmen eines vereinfachten Zustimmungsverfahrens ausgestattet werden. Der Bundestag sollte ein spezifisches Rückholrecht erhalten. Diese Maßnahmen sollten in eine grundsätzliche Neuregelung des Verfahrens zu Einsätzen im Ausland und im Inland (sofern erforderliche Mehrheit für Grundgesetzänderung erreichbar) eingebettet werden.

(2) Vernetzung der Akteure: Neugestaltung des Bundessicherheitsrats
Der Kreis sicherheitspolitisch relevanter Akteure hat sich nach Maßgabe eines weiten Verständnisses von Sicherheit über das traditionelle Verständnis hinaus erweitert; Streitkräfte agieren im Verbund mit zivilen Akteuren. Damit alle relevanten Akteure im Krisenfall reibungslos miteinander kooperieren können, müssen Aufgaben und Verantwortlichkeiten klar zugeordnet werden. Dafür fehlt es in Deutschland vor allem auf der oberen Ebene an koordinierenden Strukturen. Das einzige ressortübergreifende Sicherheitsorgan, der Bundessicherheitsrat, ist heute nur ein Schatten seiner prinzipiellen Möglichkeiten.

Es wird daher empfohlen, die sicherheitspolitische Vernetzungsrolle des Bundessicherheitsrats neu zu gestalten und durch angemessenen personellen und materiellen Ausbau zu stärken. Den sicherheitspolitischen Schlüsselressorts Auswärtiges Amt, Bundesverteidigungsministerium und Bundesinnenministerium sollten im Sicherheitsrat koordinierende Teilaufgaben in Unterausschüssen zugewiesen und deren Personal regelmäßig in die Arbeit des Bundessicherheitsrates eingebunden werden. Weiterhin wird empfohlen, den Bundessicherheitsrat um die Ressorts für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU), für Gesundheit (BMG) und für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (BMVEL) zu erweitern. Der Geheimhaltungsgrad der Sitzungen sollte flexibilisiert werden. Bei anderen Akteuren, insbesondere in den Bundesländern, sollten sicherheitsspezifische Relais-Stellen geschaffen werden. Die Kooperation zwischen allen relevanten Akteuren, insbesondere im zivil-militärischen Bereich, sollte regelmäßig geübt werden.

(3) Strategie und Entscheidungskriterien: Leitlinien der Einsatzbereitschaft
Deutschland ist heute prinzipiell ein aktiver Partner im gesamten Spektrum internationaler Einsatzformen. Auch Kampfeinsätze weit jenseits der Grenzen Europas sind zumindest kein Tabu mehr (Afghanistan). Daraus ergeben sich neue Handlungsmöglichkeiten, vor allem aber auch potentielle Entscheidungszwänge. Um diesen gerecht zu werden, bedarf es eines klaren Verständnisses der eigenen Rolle, von den Möglichkeiten und Grenzen der Einsatzfähigkeit. Bislang fehlt den relevanten Akteuren in Deutschland eine gemeinsame Sicht auf langfristige Zielvorgaben und grundsätzliche Entscheidungskriterien. Diese wird aber benötigt, wenn Einsatzentscheidungen nicht ad hoc, sondern geregelt und in sich kohärent getroffen werden sollen. Auch die konkreten Fähigkeiten der Einsatzkräfte, besonders der Bundeswehr, müssen daran ausgerichtet werden.

Es wird daher empfohlen, einen breiten politischen Konsens zur grundsätzlichen Strategie und den Einsatzkriterien für eine deutsche Beteiligung im internationalen Rahmen herbeizuführen. Das Auswärtige Amt und das Bundesverteidigungsministerium sollten damit beauftragt werden, »Leitlinien der Einsatzbereitschaft« mit allen relevanten Akteuren (möglichst im Rahmen eines neugestalteten Bundessicherheitsrats) abzustimmen und dem Deutschen Bundestag zur Zustimmung vorzulegen. Anhand dieser Leitlinien sollten die Fähigkeitsprofile militärischer und ziviler Einsatzkräfte überprüft und etwaige Fähigkeitslücken geschlossen werden.