Die russischen Streitkräfte befinden sich in einem kritischen
Zustand. Das betrifft ihre innere Verfassung, Moral, Ausbildung, Ausrüstung
und Kampfbereitschaft. Die Armee ist von Korruption und Kriminalität
durchsetzt. Gewalt ist an der Tagesordnung. Die Streitkräfte sind
immer noch auf einen großen konventionellen Krieg mit der NATO
ausgerichtet. Ihr Charakter als eine mehr als eine Million Mann umfassende
Massenarmee hat sich nicht geändert. Die Einsatzpläne des
Kalten Krieges liegen immer noch griffbereit in den Schubladen des Generalstabs.
Gebraucht werden heute schnell einsatzfähige, mobile und flexible
Kräfte. Über derartige Kräfte verfügt Rußland
jedoch nicht.
Schließlich beleuchtet der nicht enden wollende Konflikt in Tschetschenien
einerseits den desolaten Zustand der Streitkräfte und Sondertruppen,
andererseits verschärft er die kritische Situation.
Präsident Putin hat die Notwendigkeit grundlegender Reformen im
Militärwesen erkannt. Er will Streitkräfte, die "kompakt,
modern und gut bezahlt sind". Er hat sich für drastische Personalkürzungen
stark gemacht und will eine Berufsarmee einführen. Putin hat sogar
einer "Demilitarisierung des öffentlichen Lebens" das
Wort geredet. Anders als in internationalen militärischen und sicherheitspolitischen
Fragen wie Raketenabwehr, NATO-Ost-Erweiterung und amerikanische Militärpräsenz
in Zentralasien sowie im Kaukasus hat er sich bei den internen russischen
Militärfragen jedoch nicht durchsetzen können. Er hat praktisch
die Kontrolle über die in Tschetschenien eingesetzten bewaffneten
Kräfte verloren. Eine Militärreform bleibt infolgedessen eine
ungelöstes Problem sowohl der russischen Politik als auch des Verhältnisses
zwischen Rußland und dem Westen.