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Europäische Streitkräfte unter dem Zwang der Bescheidung

Partner der USA nur bei friedenssichernden Einsätzen

SWP-Studie 2003/S 08, 15.03.2003, 35 Seiten Forschungsgebiete

Die wachsende Fähigkeits- und Technologielücke zwischen den europäischen und amerikanischen Streitkräften erschwert deutlich eine gemeinsame amerikanisch-europäische Führung eines »high-intensity conflict«, macht diese teilweise sogar unmöglich. Zur eigenständigen Durchführung komplexer Operationen im oberen Aufgabenspektrum fehlen den Europäern ganze Fähigkeitsbereiche.

Der Fokus der bisherigen Diskussion über die Fähigkeitslücke richtete sich auf technische Aspekte bzw. auf die Notwendigkeit, Fähigkeiten in ihrer gesamten Breite zu erwerben. Dies ist jedoch nur eine Dimension des Problems. Stellt man eine Analyse der Kernelemente der amerikanischen Kriegführung in Afghanistan in einen Kontext mit Erfahrungen aus dem Golfkrieg und dem Kosovo-Konflikt, wird deutlich, wohin sich zeitgemäße Kriegführung entwickelt hat oder noch entwickeln wird. Diese Trends setzen aufgrund der weit gesteckten europäischen Ambitionen Maßstäbe für die Streitkräfte der Europäer. Besondere Bedeutung kommt der Frage nach der Durchhaltefähigkeit zu. Dieser zweiten Dimension der Fähigkeitslücke, der Tiefe der erforderlichen Fähigkeiten, wurde bislang nur wenig Beachtung geschenkt.

Es stellt sich somit die Frage, welche militärischen Fähigkeiten unter Beachtung beider Dimensionen, Breite und Tiefe der Fähigkeiten, von den Europäern erworben werden sollten. Innerhalb der gegenwärtigen strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen sind die europäischen Streitkräfte nicht in der Lage, weder in der erforderlichen Breite noch in der gebotenen Tiefe, alle benötigten Fähigkeiten zu erwerben. Viele namhafte Beobachter bezweifeln, daß die bislang eingeleiteten Reformschritte ausreichen, die gravierenden Lücken der militärischen Ausstattung zu schließen. Danach wird sich der notwendige Ausbau der militärischen Fähigkeiten nur mit mehr Geld bewerkstelligen lassen. Weitere deutliche Steigerungen der Verteidigungsbudgets der europäischen Nationen sind jedoch aufgrund angespannter Haushalte nicht zu erwarten. Einsparungen, wie sie mit einer konsequenten Bündelung der europäischen Fähigkeiten erzielbar wären, werden erst langfristig möglich, nach einer Vergemeinschaftung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Damit ist die Streitkräfteplanung der Europäer kurz- und mittelfristig in eine Sackgasse geraten!

Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, muß Europa sich von der für eine ausgewogene Streitkräftestruktur grundsätzlich erforderlichen Breite von Fähigkeiten trennen. Unter den heutigen Rahmenbedingungen wäre ansonsten nur ein Flickenteppich an Fähigkeiten zu erwerben. Damit stellt sich die Frage, wie die Schwerpunkte zu setzen sind, in welche Richtung der Wandel vollzogen werden muß. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, daß für europäische Streitkräfte eine neue Balance zwischen den Fähigkeiten für friedenserzwingende und friedenserhaltende Aufgaben anzustreben ist, ohne daß es zu einer dauerhaften Festschreibung einer internationalen Arbeitsteilung kommt.

Ein erster Schritt hin zu modernen, einsatzbereiten Streitkräften der europäischen Nationen sollte eine Verbesserung der Fähigkeiten sein, die für Operationen unterhalb der Friedenserzwingung erforderlich sind. Die Führung eines »high-intensity conflict« wird damit kurz- und mittelfristig nur in einer Allianz mit den USA möglich sein. Auf diese Weise dürfte es aber gelingen, ein solides Fundament für die weitere Entwicklung der Streitkräfte zu legen.

Damit europäische Streitkräfte nicht gänzlich in die Rolle des »Peacekeepers« gedrängt werden und um die Gefahr einer Abkopplung von den USA zu bannen, sollten bei der Weiterentwicklung der Streitkräfte auch Fähigkeiten zu solchen friedenserzwingenden Maßnahmen einbezogen werden, für die die Europäer bereits über signifikantes Potential vorfügen. Dieses Vorgehen ermöglicht nicht nur eine umfassendere Einbindung der Europäer in amerikanische Operationen und damit eine Stärkung der amerikanischen Durchhaltefähigkeit, sondern trägt auch dazu bei, eine Grundlage für künftige eigenständige friedenserzwingende Operationen der Europäer zu schaffen.

Ein Scheitern der Reformbemühungen würde die Entwicklung einer von allen EU-Mitgliedsstaaten gewollten, in zahlreichen Verträgen und Erklärungen fixierten effektiven Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in Frage stellen und nationale Alleingänge fördern. Dies hätte sowohl auf die Rolle der EU als globaler Akteur mit weltweiten Interessen als auch - aufgrund der identitätsbildenden Wirkung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik - auf den europäischen Einigungsprozeß negative Auswirkungen und würde einer langfristig tragfähigen transatlantischen Partnerschaft im Wege stehen. Europa kommt nicht umhin, aus seinen strategischen Interessen ein gemeinsames Konzept für militärische Interventionen abzuleiten. Über das Tabu gemeinsamer Finanzierung von Verteidigung muß genauso intensiv gesprochen werden wie über das langfristige Ziel des Aufbaus einer europäischen Armee. Bis dahin wird Europa auf eine internationale Aufgaben- und Verantwortungsteilung angewiesen sein. Mit der Konzentration auf Aufgaben unterhalb der Friedenserzwingung und der Bereitstellung einzelner ausgewählter Fähigkeiten zur Führung eines »high-intensity conflict« (z.B. im Rahmen der NATO Response Force) sowie zur Reaktion auf »neue« Bedrohungen trägt Europa zur gemeinsamen transatlantischen Sicherheit substantiell bei. Vorhandene, wenn auch im Vergleich zu den USA nicht besonders stark ausgeprägte, europäische Fähigkeiten zur Führung eines »high-intensity conflict« sind vor dem Hintergrund des heutigen sicherheits- und militärpolitischen Umfelds für die Aufgabe der klassischen Landes- und Bündnisverteidigung hinreichend.