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Die Logik von Verteidigungshilfe für die Ukraine

Eine strategische Einschätzung

SWP-Aktuell 2021/A 54, 12.08.2021, 6 Seiten

doi:10.18449/2021A54

Forschungsgebiete

Die jüngste Debatte über eine mögliche Verteidigungshilfe Deutschlands für die Ukraine ist von Relevanz, was die Bemühungen angeht, den gegenwärtigen Stillstand im Minsker Prozess wie im Normandie-Format zu überwinden und einer Lösung im Konflikt um den Donbas näherzukommen. Sie betrifft aber auch weitergehende Fra­gen zur Rolle der Bundesrepublik in Europa und ganz allgemein in der internationalen Sicherheitspolitik. Dabei geht es um die Fähigkeit Deutschlands, sich auf Situa­tio­nen einzustellen, in denen andere Länder bereit sind, Konflikte militärisch zu lösen. In diesem Sinne passt die Diskussion auch zu den Überlegungen für eine stär­ker geo­politisch ausgerichtete EU. Der Bundesregierung bietet sich hier ein Weg, der gewalt­samen Veränderung bestehender Grenzen aktiver entgegenzutreten und so ihrem Engagement für die Sicherheit und Stabilität Europas mehr Nachdruck zu verleihen.

Für die politisch Verantwortlichen in Deutschland ist es immer wieder eine schwierige Entscheidung, ob Akteuren in Krisengebieten militärische Hilfe bereit­gestellt werden sollte. Diese und ähnliche Fragen werden sich bei zukünftigen Kon­flikten wahrscheinlich noch dringlicher stellen, denn im In- und Ausland steigen die Erwartungen an die Bundesrepublik, auf internationaler Bühne eine stärkere Rolle zu übernehmen. Deshalb sollte die jüngste Debatte über militärische Unterstüt­zung für die Ukraine nicht nur als Teil des aktuellen Wahlkampfs gesehen werden, sondern auch als Zeichen dafür, dass dieses Thema auf der politischen Tagesordnung bleiben wird. Der Fall Ukraine wirft eine ganze Reihe von Fragen auf, die im Zu­sammenhang mit einer breiter angelegten Außenpolitik Deutschlands und seinem möglichen Beitrag zur europäischen Sicher­heit stehen.

Deutschlands Ansatz zur Sicherheit der Ukraine

Bereits seit 2014 dauert der Krieg im Don­bas an, den Russland und seine Stellver­treter auf der einen und die Ukraine auf der anderen Seite führen. In dieser Zeit hat Deutschland auf vielfältige Weise zur Sicherheit der Ukraine beigetragen. Der sichtbarste Beitrag ist die Beteiligung am Normandie-Format, in dem sich Berlin und Paris im Austausch mit Moskau und Kyjiw darum bemühen, Lösungen für den Kon­flikt auszuhandeln und voranzubringen. Ebenso leistet Deutschland wichtige Unter­stützung im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe aus Ukraine, Russland und OSZE, die einen weiteren Bestandteil des Minsker Prozesses bildet und dafür zu­ständig ist, konkrete Maßnahmen zur Regu­lierung und Bewältigung des Konflikts zu vereinbaren. Darüber hinaus hat Deutschland schwer verwundete Soldaten der Ukraine medizinisch behandelt sowie die Special Monitoring Mission der OSZE im Donbas und in der ganzen Ukraine mit Per­sonal unterstützt. Zudem hat Berlin finan­zielle und andere Hilfe gewährt, um die Situation in jenen Teilen des Donbas zu ver­bessern, die noch unter ukrainischer Kon­trolle sind.

Aus verschiedenen Gründen hielt die Bundesregierung jedoch daran fest, der Ukraine keine Verteidigungshilfe zu gewäh­ren. Abgesehen von der pazifistischen Ein­stellung in Teilen der deutschen Politik und Gesellschaft geht es dabei vor allem um mögliche Negativfolgen für die Ent­wicklung des Konflikts. Maßgeblich ist die Sorge, es würde die Auseinandersetzung nur eskalieren lassen, sollten Waffen und andere militärische Ausrüstung in eine an­haltende Konfliktsituation geliefert werden. Die deutsche Politik hat den Schwerpunkt stets auf Deeskalation und das Bemühen um eine politische Lösung gelegt. Ihr An­satz zielt darauf, vor allem über politische, wirtschaftliche und humanitäre Mechanismen auf die Lage einzuwirken, während die militärische Komponente weitgehend außen vor bleibt. Im Wesentlichen ent­spricht dies der Herangehensweise der EU, auch wenn einzelne Mitgliedstaaten, allen voran Litauen, auf bilateraler Basis militä­rische Unterstützung für die Ukraine ge­leis­tet haben. Jenseits der EU kommt die größte Militärhilfe von den USA; aber auch Groß­britannien und Kanada sind in dieser Hin­sicht aktiv. Sollte Deutschland sich die­sen Ländern anschließen und die Ukraine im Bereich der Verteidigung unterstützen wol­len, wäre es sinnvoll, sich mit den betreffenden Regierungen und mit Kyjiw darüber abzustimmen, welche konkreten Mittel am hilfreichsten wären. Doch ist diese Frage zweitrangig, solange ungeklärt bleibt, ob Deutschland überhaupt zu einer Unterstützung dieser Art bereit ist.

Die Rolle der Verteidigungshilfe

Erkenntnisse auf dem Gebiet der strategischen Analyse lassen darauf schließen, dass militärische Unterstützung auch der De­eskalation dienen kann. Wie Studien über Verhandlungen in Krisensituationen und über Abschreckung nahelegen, sind sicht­bare Abschreckungskapazitäten das zu­verlässigste Mittel, um einer bewussten Zuspitzung der Gewalt durch die Gegenseite vorzubeugen (denial-based deterrence). Dies bedeutet mit Blick auf die Konflikt­bedingungen in der Ukraine, dass eine Verstärkung der militärischen Hilfen für das Land am ehesten zur Reduzierung be­waffneter Gewalt führen und friedliche Verhandlungen wahrscheinlicher machen wird.

Im außenpolitischen Instrumentarium Russlands stellt Krieg eine zulässige Alter­native zu anderen Formen des Handelns dar. Anders gesagt, wird das russische Mili­tär schlicht als eine der nationalen Ressour­cen begriffen, mit der Gewünschtes erreicht werden kann. Je nachdem, was in einer be­stimmten Situation am kosteneffektivsten ist, wählt Russland – wie viele andere Staa­ten auch – zwischen Instrumenten der Überzeugung (Handel und Diplomatie) und denen des Zwangs (Militär).

Im Fall der Ukraine wechselte Russland 2014 zum militärischen Instrument, weil es Kyjiw auf diese Weise dazu bringen wollte, die eigenen Vorstellungen von der Region zu akzeptieren. Denn Moskau war über­zeugt, dass dieses Mittel mehr Wirkung entfalten würde als diplomatisches Verhan­deln. Im März und April 2021 verstärkte Russland seine Militärpräsenz in der Nähe der ukrainischen Grenze und auf der Krim – ein Zeichen dafür, dass der Kreml seine Sicht auf den Konflikt nicht verändert hat. Wenn mit diesem Instrument jedoch weni­ger erreicht wird als erwartet, während die eingesetzten militärischen Ressourcen schneller geschwächt werden, könnte das die russische Führung vielleicht zum Um­denken bringen und veranlassen, zu fried­lichen Verhandlungen zurückzukehren. Eine Möglichkeit, das militärische Instru­ment Russlands weniger wirksam und attraktiv werden zu lassen, ist die Stärkung des ukrainischen Militärs. Dieser Ansatz scheint vor allem deshalb gangbar, weil nichts im bisherigen außen- und sicherheitspolitischen Verhalten der Moskauer Führung darauf hinweist, dass sie eine großangelegte Invasion der Ukraine in Er­wägung zieht.

Eine durch zusätzliche Verteidigungs­hilfe gestärkte Ukraine könnte der russi­schen Seite aus der Defensive heraus erheb­liche Kosten abverlangen, aber keine Offen­sivoperation gewinnen. Dafür reichen die Fähigkeiten der Ukraine nicht aus. Sie könnte kaum mehr als 60 000 bis 80 000 Soldaten in den Donbas schicken, und selbst dies nur unter der Gefahr, ihre Ver­teidigung in anderen Gebieten zu schwächen, unter anderem an der Grenze zu Belarus. Dagegen kann es sich Russland leisten, eine etwa doppelt so große Streit­macht an seinen Grenzen zur Ukraine aufmarschieren zu lassen. Das machte die erwähnte Truppenverlegung in diesem Frühjahr deutlich, als Russland – neben den bereits im Donbas stationierten Streit­kräften – über 100 000 Soldaten in Rich­tung des Nachbarlandes entsandte. Dabei ist schon berücksichtigt, dass Russland spezifischen Einschränkungen unterliegt, die mit der Struktur seiner Streitkräfte zu­sammenhängen und ebenso mit der Not­wendigkeit, die umfangreichen Grenzen des Landes zu schützen.

Mangels Erfolgsaussichten hat die Ukrai­ne somit keinerlei Anreiz, eine militärische Offensive gegen Russland zu starten. Wie sich im August 2014 zeigte, ist sie in der Lage, den russischen Stellvertretern im Don­bas eine Niederlage beizubringen. Allerdings wird die ukrainische Armee wohl auf einen Angriff dort verzichten, denn Kyjiw ist bewusst, dass Russland jederzeit eingrei­fen könnte – wie es auch 2014 geschah, als es sein Militär über die Grenze schickte und die vorrückenden ukrainischen Truppen be­siegte. Sowohl der russisch-georgische Krieg von 2008 als auch die eigenen Erfahrungen im Donbas lassen den politisch Verantwortlichen der Ukraine wenig Zweifel, dass Moskau auf versuchte Angriffe gegen seine Stellvertreter mit militärischer Gewalt reagieren wird.

Andererseits könnte eine militärisch stärkere Ukraine darauf Einfluss nehmen, welchen Anreiz die russische Seite für eine bewaffnete Eskalation im Donbas hat. Mit moderner westlicher Ausrüstung, Logistik und Ausbildung würde Kyjiw die Kostenrechnung für das russische Militär erheb­lich verändern. Es ist erwiesen, dass eine technisch und zahlenmäßig unterlegene Streitkraft zur Herausforderung für die Gegenseite werden kann, wenn sie das mo­derne System der Kriegführung geschickt nutzt. Würde dieses System mit westlicher Ausrüstung kombiniert, könnten die ukrai­nischen Streitkräfte den sie angreifenden Truppen größeren Schaden zufügen und deren militärische Fähigkeiten schneller schwächen. Das sollte zumindest zu trag­fähigeren Waffenstillständen führen. So wurde im Sommer 2020 eine der am längs­ten haltenden Waffenruhen für die Ost­ukraine vereinbart – kurz zuvor hatten die USA der Ukraine den Einsatz der von ihnen gelieferten Panzerabwehrraketen vom Typ Javelin unter der Bedingung erlaubt, sie nur zur Verteidigung gegen Angriffe im Donbas zu nutzen.

Auf einer zweiten Ebene wirkt sich Ver­teidigungshilfe dahingehend aus, dass eine besser gerüstete Ukraine bei russischen Angriffen weit geringere Verluste erleiden würde, wodurch der Nutzen dieser Angriffe abnähme. Beispielsweise hätte mit den Erste-Hilfe-Sets und anderen medizinischen Versorgungsgütern, die die Ukraine 2014 von Deutschland für sein Militär erbeten, aber nicht erhalten hat, die Todesrate von fast 40 Prozent der Verwundeten erheblich gesenkt werden können. Damit wäre auf ukrainischer Seite eine höhere Verteidigungsfähigkeit bewahrt worden. Ebenso dürfte eine verbesserte individuelle Schutz­ausrüstung für Soldaten, wie Schutzwesten und Kevlar-Gefechtshelme, vielen ukraini­schen Kämpfern das Leben retten, was das Kosten-Nutzen-Verhältnis russischer Mili­tär­operationen wiederum verschlechtern würde. Auch sichere Funkausrüstungen, verbesserte Aufklärungsausstattung und Nachtsichtgeräte – Posten, um die Kyjiw ebenfalls schon gebeten hat –, könnten die militärischen Fähigkeiten des Landes erhö­hen und seine Personalverluste reduzieren.

Einige der Vorfälle mit den höchsten ukrainischen Todeszahlen betrafen den Be­schuss durch Artillerie und Scharfschützen. Würde das ukrainische Militär mit Ausrüs­tung zur Überwachung und Zielerfassung beliefert und so seine Fähigkeit zum Gegen­feuer verbessert, könnte sich die Situation drastisch ändern. Diese und andere Arten der Verteidigungshilfe hätten die doppelte Wirkung, die ukrainischen Verluste zu verringern und die Kosten für das russische Militär zu erhöhen, das mehr Munition ver­brauchen und mehr an Ausrüstung verlie­ren würde. Der kontinuierlich erforderliche Nachschub in den letzten sieben Jahren war nicht billig für Russland. Sollte der ent­spre­chende Bedarf weiter steigen, während die russischen Angriffe den ukrainischen Truppen weniger Schaden zufügen, würde die militärische Eskalation für Moskau immer teurer und brächte immer weniger Vorteile.

Eine größere Chance für die Diplomatie

Die Steigerung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeiten würde nicht nur die Ver­luste des Landes mindern, sondern auch seine Entschlossenheit stärken und ein kla­res Signal an Russland senden. Dies könnte entscheidend dazu beitragen, eine weitere Zuspitzung der Lage zu verhindern und den Konflikt von seiner jetzigen Phase der Gewalt zu diplomatischen Verhandlun­gen zu führen. Denn eine höhere Verteidi­gungsfähigkeit der Ukraine würde sich nicht nur darauf auswirken, wie Russland die Bereitschaft Kyjiws zum weiteren Kampf wahrnimmt, sondern auch auf seine Erwar­tungen über die Dauer des Konflikts und die dabei zu erzielenden Vorteile. Erhielte die Ukraine Verteidigungshilfe, müsste Moskau tendenziell die Annahme in Frage stellen, das Nachbarland neige zum Auf­geben und werde Russlands Bedingungen in Bezug auf den Donbas akzeptieren. Sollte der russischen Führung die Unbeugsamkeit der Ukraine bewusst werden, dürfte sie ihre Erwartungen anpassen und weniger auf eine Kapitulation des Landes setzen. Das könnte sich maßgeblich auf die Verhandlungen zur Konfliktlösung auswirken – und zwar in dem Sinne, dass Russland sich ernsthaft zu Gesprächen bereitfände.

Durch Verteidigungshilfe für Kyjiw würde Deutschland, zusammen mit den anderen hier bereits aktiven Staaten, also Russlands Willen zur Eskalation dämpfen. Solange Moskau die Ukraine für schwach und unentschlossen hält, bleibt der Anreiz erhalten, durch Angriffe und Scharmützel gegen deren Truppen weiter Druck aus­zuüben und auf einen Zermürbungseffekt zu setzen. Legt man Informationen über frühere Beeinflussungsoperationen Mos­kaus gegen die Ukraine zugrunde, so dürf­ten die russischen Militärplaner bewusst eine Vorgehensweise gewählt haben, die zu ständigen Nachrichten über Kriegsopfer, zu wachsender Kriegsmüdigkeit der ukrai­nischen Bevölkerung und steigendem poli­tischen Druck auf die Regierung in Kyjiw führt. Da Russland die Ukraine als angreif­bar betrachtet, bricht es permanent die Waffenruhe und instrumentalisiert die entsprechenden Auswirkungen, um den Widerstandswillen der Menschen im Nachbarland zu unterminieren.

Ein aktiveres Engagement Deutschlands käme nicht nur dem Friedensprozess zu­gute und würde bewaffnete Eskalationen für Russland verteuern. Es würde sich auch darauf auswirken, wie Moskau die Chancen der Ukraine wahrnimmt, sich die Unterstützung wichtiger Akteure in der EU zu sichern. Dies wiederum würde Berlin eine stärkere Verhandlungsposition gegenüber Moskau verschaffen. Derzeit bestimmt weit­gehend Russland die Verhandlungen und deren Tagesordnung. Die Schuld dafür, die Minsker Vereinbarungen nicht einzuhalten, wälzt der Kreml dabei auf seine Stellvertreter im Donbas ab, was es leichter macht, die eigenen Vertragsbrüche fortzusetzen.

Übernähme Deutschland – neben den anderen westlichen Staaten – eine bedeu­tende Rolle dabei, die ukrainische Vertei­digung zu konsolidieren, könnte es seine Verhandlungsmacht gegenüber Moskau stär­ken. Denn Berlin wäre in der Lage, direkten Einfluss auf russische Interessen und Aktivitäten in einer Region zu neh­men, die für Moskau hohe geopolitische Bedeutung hat. Durch Verteidigungshilfe zugunsten der Ukraine würde sich Deutsch­land nach und nach einen breiteren Rah­men für einen Kompromiss mit Russland verschaffen. In diesem Rahmen könnte später eine Anpassung der Unterstützung zugestanden, die Hilfe jedoch auf einem Niveau gehalten werden, das für eine effek­tive Abschreckungsfähigkeit der Ukraine ausreicht. Damit würde ein Verhandlungs­prozess über den Donbas befördert, der bewaffneten Eskalationen vorbeugt. Könnte die deutsche Seite vor Ort Einfluss ausüben, wäre Moskau gezwungen, den Dialog mit Berlin zu suchen – nicht nur im Bereich der Wirtschaft, sondern auch in der Sicher­heitspolitik.

Wenn Deutschland eine friedensstiften­de Rolle im Donbas spielen will, muss es Russlands Kalkül durchkreuzen, die Ukra­ine könnte durch militärische Zermürbung ihrer Verteidigungsfähigkeiten gezwungen werden, sich zu unterwerfen. Ansonsten wird sich der Konflikt vermutlich noch über Jahrzehnte hinziehen, Tausende wei­terer Todesopfer fordern und ein steigendes Risiko militärischer Eskalation mit sich bringen. Denn die Ukraine will auf keinen Fall ein Satellitenstaat Russlands werden. Parallel zu einer Strategie der Verteidigungshilfe könnte Deutschland zum Frie­densprozess beitragen, indem es Verhand­lungen mit der russischen Seite führt, die ihr eine Möglichkeit zum »ehrenhaften Rückzug« aus dem Donbas eröffnen. Doch solange die Kosten für Russlands militäri­sche Aktivitäten nicht erheblich steigen, scheint eine friedliche Lösung für den dorti­gen Krieg eher unwahrscheinlich. Verän­dern lässt sich die russische Kostenrechnung nur in einem allmählichen Prozess, der eine kontinuierliche interna­tionale Unterstützung für die ukrainischen Streit­kräfte erfordert.

Erkenntnisse für die deutsche Außenpolitik

Mit der Bereitschaft, militärische Unterstüt­zung für die Ukraine zu leisten, würde Deutschland mehrere Probleme gleichzeitig angehen. Dadurch ließe sich proaktiv auf den derzeitigen Stillstand im Minsker Pro­zess reagieren, bei dem sich Russland trotz verschiedener Vorschläge der Ukraine, wie man einer Lösung näherkommen könnte, sehr unflexibel zeigt. In einer Situation, in der die Ukraine und andere Akteure immer größere Hoffnungen auf die US-Regierung setzen, wäre es ein wichtiges Signal an Mos­kau und an Deutschlands Verbündete, dass Berlin weiterhin bereit ist, einen Teil der europäischen Verantwortung für die Bewäl­tigung des Konflikts im Donbas zu tragen. Sollten die USA ihr Engagement verstärken, könnten Deutschland und andere europäische Akteure weniger Einfluss auf den Pro­zess in der Ukraine nehmen.

Deutsche Unterstützung für die Ukraine wäre zudem ein Zeichen in Richtung Mos­kau, dass Berlin nicht gewillt ist, die lang­fristige Sicherheit Europas gegen kurzfris­tige wirtschaftliche Vorteile einzutauschen. Derzeit scheinen einige russische Amts­träger vom Gegenteil auszugehen – dass nämlich Deutschland und andere EU-Länder auf Dauer nicht bereit wären, ihre ökonomischen Interessen zu gefährden. Diese Wahrnehmung bestärkt Russlands Sicherheitspolitik im Ausland. Und schließ­lich würde sich Deutschland durch Vertei­digungshilfe für die Ukraine solidarisch mit jenen EU- und Nato-Mitgliedstaaten zeigen, die entsprechende Unterstützung bereits leisten.

Mit einer solchen Hilfe würde Berlin auch nicht gegen Verpflichtungen unter internationalen Abkommen verstoßen. Nach dem Vertrag über den Waffenhandel von 2013, dem Deutschland beigetreten ist, gelten keine Einschränkungen bei militäri­scher Unterstützung für die Ukraine. Ge­nauer gesagt, sind Waffenexporte dorthin vom UN-Sicherheitsrat nicht untersagt worden, und es gibt keine Hinweise darauf, dass an Kyjiw gelieferte Rüstungsgüter für Zwecke eingesetzt werden sollen, die gegen das Völkerrecht verstoßen. Tatsächlich hat die Ukraine nach Artikel 51 der UN-Charta das Recht, Waffen zur Selbstverteidigung einzusetzen – und es gibt reichlich Belege dafür, dass Russland seine regulären Streit­kräfte direkt sowie mittels Stellvertretern vor Ort zu Angriffen gegen die Ukraine nutzt.

Allgemeiner gesagt, wäre militärische Unterstützung für die Ukraine ein Signal für einen strategischeren Ansatz zur euro­päischen Sicherheit. Deutschland könnte auf diese Weise seine Bereitschaft zeigen, das eigene Instrumentarium für den Einsatz im internationalen Umfeld zu erweitern. Es wäre eine effektive Antwort auf eine Situa­tion, in der andere Akteure – in diesem Fall Moskau – nach militärischen Lösun­gen streben. Zudem würde dadurch eine politische Lösung des Konflikts wahrschein­licher, weil Moskau vermutlich eher bereit wäre, sich auf ernsthafte und konkrete Verhandlungen einzulassen. Und schließ­lich wäre es auch eine deutliche Reaktion auf den jüngsten Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze und auf der Krim, von denen bisher nur ein Teil wieder abgezogen wurde. Dieser Aufmarsch ist ein klares Zeichen, dass Russland sich weiterhin auf militärische Instrumente stützen will, um schwächere Akteure ein­zuschüchtern und zu zwingen, seinen Wil­len zu akzeptieren. Diese Vorgehensweise Moskaus hat bereits dazu geführt, dass in Europa de facto neue Grenzen gezogen wurden. Bekäme die Ukraine Verteidigungs­hilfe und würde so der Anreiz für Russland verringert, sein Militär einzusetzen, würden nicht nur die Chancen für eine nachhaltige Deeskalation steigen. Es wäre auch ein weiteres konkretes Signal, dass Deutschland es nicht hinnimmt, wenn Grenzen in Europa gewaltsam verändert werden und sich kleinere Staaten mit weniger Ressour­cen größeren und militärisch mächtigeren unterordnen sollen.

Dr. Dumitru Minzarari ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

Dr. Susan Stewart ist Leiterin (a.i.) der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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(Deutsche Version von SWP Comment 42/2021)