Direkt zum Seiteninhalt springen

Argentinien: Wege aus dem Staatsbankrott

SWP-Studie 2002/S 22, 15.06.2002, 64 Seiten Forschungsgebiete

Die Finanz- und Wirtschaftskrise in Argentinien entfaltet sich weiter und hat sich zu einer tiefen politischen Krise des Landes entwickelt. Unter den führenden westlichen Industriestaaten und beim Internationalen Währungsfonds (IWF) herrschte bislang jedoch überwiegend Genugtuung, daß diese Krise einmal keine Ansteckungsgefahr berge. Die Finanzmärkte und Währungen der übrigen lateinamerikanischen Staaten schienen bis vor kurzem unberührt, um so mehr diejenigen anderer Entwicklungs- und Schwellenländer.

Es wäre freilich naiv, davon auszugehen, daß die Krise Argentiniens nicht deutliche Spuren über das Land hinaus hinterlassen würde. Das gilt für die internationale Finanz- und Wirtschaftsordnung ebenso wie für die Legitimation der Demokratie als jener Staatsform, die selbst in Entwicklungs- und Schwellenländern am ehesten innenpolitische und wirtschaftliche Stabilität auch in Krisenzeiten zu sichern vermag. Diese Wirkungen mögen andere sein als eine direkte Kettenreaktion der Finanzmärkte nach Art der internationalen Finanzkrise von 1997/98. Sie könnten sich aber als sehr viel dauerhafter erweisen.

Die Studie bietet von drei Seiten her eine Zwischenbilanz der aktuellen Krise Argentiniens und der daraus für das Land, aber auch darüber hinaus für die internationale Wirtschafts- und Finanzordnung zu ziehenden Schlußfolgerungen. Sie geht nur so weit wie für die Analyse notwendig auf die Vorgeschichte der Krise und die andernorts vielfach angestellten Überlegungen ein, wie ihr Ausbruch durch Vermeidung von Fehlern in der Vergangenheit hätte verhindert werden können.

Jens van Scherpenberg umreißt kurz wesentliche wirtschaftliche Merkmale der aktuellen Krise des Landes und analysiert dann die binnen- und außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Weg aus dem Staatsbankrott. Unter Verweis auf den historischen Präzedenzfall der Insolvenz Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zeigt er, daß eine erfolgreiche Bewältigung der Krise zum einen verläßliche institutionelle und rechtliche Rahmenbedingungen für die Wirtschaft braucht, zum anderen eine Frage der Verteilung der Sanierungskosten ist - zwischen Inländern und Ausländern, aber auch innerhalb der argentinischen Gesellschaft. Die Sanierung ist vorrangig eine fiskalpolitische Aufgabe, die Argentinien selbst bewältigen muß. Doch bedarf sie, wegen der starken Außendimension der Krise, der Zahlungsunfähigkeit gegenüber den ausländischen Gläubigern, der Unterstützung von außen. Allerdings ziehen die wesentlichen Akteure, die USA auf der einen, Brasilien und die meisten EU-Staaten auf der anderen Seite, bei der Sanierung Argentiniens bislang keineswegs am selben Strang. Die USA scheinen letztlich auf eine offizielle Dollarisierung als Ausweg zu setzen, die EU und Brasilien eher auf regionale Integration. Damit erhält die Krise Argentiniens eine sehr viel weitere Bedeutung. Sie wird zum Schauplatz des globalen Wettstreits zwischen den USA und der EU um wirtschaftliche Einflußzonen.

Der Beitrag wird ergänzt durch einen Exkurs von Charlotte Fiala zu Ecuador. Als größtes der drei lateinamerikanischen Länder, die sich bislang für die Option der offiziellen Dollarisierung entschieden haben, wird es gegenwärtig des öfteren als Vorbild für eine Dollarisierung Argentiniens genannt. Der Exkurs beschreibt die Erfahrungen Ecuadors, nachdem der US-Dollar seit nunmehr zwei Jahren das alleinige inländische gesetzliche Zahlungsmittel ist.

Heribert Dieter analysiert die Rolle, die dem argentinischen Wechselkursregime von 1991 bis 2001, dem sogenannten Currency Board mit fester Parität von Peso und US-Dollar, bei der Entwicklung der Finanz- und Wirtschaftskrise des Landes zukommt. Seine Schlußfolgerung: Die in letzter Zeit namentlich auch aus dem IWF heraus vielfach propagierten währungspolitischen "Ecklösungen", also entweder ein starres, "glaubwürdiges" Festkursregime in Form etwa eines Currency Board oder ein völlig flexibler Wechselkurs, sind für Entwicklungs- und Schwellenländer nicht sinnvoll. Diese sollten sich vielmehr ein gewisses Maß an geldpolitischer Autonomie bewahren, notfalls unter Inkaufnahme von selektiven Kapitalverkehrsbeschränkungen. Jeder währungspolitische Neuanfang setzt aber, um auf Dauer tragfähig zu sein, die Bewältigung des argentinischen Schuldenproblems voraus.

Wolf Grabendorff schließlich behandelt die politische Situation in Argentinien, die tiefgreifenden strukturellen innenpolitischen Schwächen, die der Krise zugrunde liegen und ihrer Überwindung im Wege stehen, aber auch die Perspektiven politischen Wandels. Er geht vor allem auf die bislang wenig gemeinwohlorientierte Parteienstruktur sowie die prekären Beziehungen zwischen Zentralregierung und Provinzen als die Sanierung erschwerende Faktoren ein. Grabendorff kommt zu dem Ergebnis, daß es zwar einige vielversprechende Ansätze für einen grundsätzlichen Wandel des Staats- und Demokratieverständnisses in der argentinischen Gesellschaft gibt, der sich auch im Aufstieg neuer innenpolitischer Kräfte niederschlagen könnte, daß aber wohl die Zeit nicht ausreicht, um konstruktiv orientierte, neue innenpolitische Strukturen als Grundlage einer nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Sanierung entstehen zu lassen.

Insgesamt läßt sich festhalten, daß trotz der Tiefe der Krise, trotz des Vertrauensverlustes, den der argentinische Staat bei seinen Bürgern und Argentinien als Schuldner auf den internationalen Finanzmärkten erlitten hat, eine Sanierung des Landes - des Staatshaushalts und der Wirtschaft - zu allseits akzeptablen Bedingungen möglich ist. Sie hängt allerdings nicht nur von der grundlegenden inneren Reformfähigkeit des Landes ab, sondern auch vom Mitwirken der regionalen und überregionalen Wirtschaftspartner Argentiniens und schließlich der internationalen Finanz- und Entwicklungsinstitutionen bei dieser Aufgabe. Wird das Land mit der Sanierung sich selbst überlassen gelassen, erhält das bereits jetzt erkennbare Szenario eines "Rette sich, wer kann", einer unkontrollierten sozialen Desintegration, zunehmende Eigendynamik. Durch Verluste bei Handel und Direktinvestitionen, aber auch durch Migrationsströme wird dies gerade die EU-Staaten massiv berühren. Und es wäre eine Illusion anzunehmen, daß die übrigen Mercosur-Staaten, namentlich Brasilien, als wichtige politische und Wirtschaftspartner der EU in der westlichen Hemisphäre, sich auf die Dauer dem Strudel einer solchen Entwicklung entziehen könnten.